Hinweis zu Affiliate-Links: Alle Produkte werden von der Redaktion unabhängig ausgewählt. Im Falle eines Kaufs des Produkts nach Klick auf den Link erhalten wir ggf. eine Provision.

Durch die Masse neuer Spiele blicken nicht mal mehr Algorithmen. Der Onlineshop Steam lässt nun echte Experten ran

von Tobias Hanraths
Durch die Masse neuer Spiele blicken nicht mal mehr Algorithmen. Der Onlineshop Steam lässt nun echte Experten ran.


Die Sonderangebote stehen vorne am Gang, Neuheiten haben ein eigenes Regal, und an der Kasse stapelt sich der Kleinkram für Spontankäufer: Jeder Einzelhändler macht aus dem Aufbau seiner Ladenfläche eine Wissenschaft. Und doch hat man als Kunde im Laufe eines mehr oder weniger langen Käuferlebens gelernt, wo man was findet. Es ist ja alles beschriftet und sortiert, dritte Etage DVD-Abteilung, links Serien, rechts Spielfilme, unterteilt in Genres: Komödie, Action, Liebesfilm. Horror? Nö.

Im Gegensatz dazu funktionieren die meisten Downloadshops für Musik, Filme oder Spiele wie Recyclingcontainer: Erst mal wird alles reingekippt, sortiert wird später. Regal- und Lagerflächen gibt es online schließlich unbegrenzt. Damit der Kunde trotzdem findet, was er sucht (oder am Ende gar etwas kauft, von dem er gar nicht wusste, dass er es suchte), investieren Konzerne wie Netflix und Amazon viel Geld in aufwendige Algorithmen.

&nbps;

Solange sich das Sortiment in Genres und Zielgruppen unterteilen lässt, funktioniert das gut, etwa bei Filmen und Musik. Andere Inhalte sind schwieriger zu erfassen: „Bei Computerspielen ist das Angebot so heterogen, dass ein automati­siertes Filtersystem an seine Grenzen stößt“, sagt Martin Spann, der an der Universität München über digitale Märkte forscht. Der Ga­mer-Geschmack kennt mehr Variablen: Welche Art der Interaktion bevorzugt man, welches Studio und Herkunftsland, und wie viel darf das Spiel kosten?

Vom realistischen Eisenbahnsimulator  bis zum japanischen Dating-Spiel mit Brieftauben

Ein Streifzug durch Steam, den Quasi-Monopolisten für PC-Spiele, zeigt die Vielfalt: Vom realistischen Eisenbahnsimulator über bunte Comic-Shooter bis zum japanischen Dating-Spiel mit Brieftauben ist alles zu finden. Und die Filtermöglich­keiten sind grob. Findet man so, was man sucht? Und von wem möchte man sich dabei wie helfen lassen?

Hinzu kommt mittlerweile die pure Masse der Neuerscheinungen. Während es früher große Teams und mächtige Publisher brauchte, um Titel zu programmieren und in den Handel zu bringen, werden viele Spiele heute von kleinen Firmen entwickelt. Das ist toll und eine Revolution. Die allerdings, wie so oft bei Revolutionen, ihre Kinder frisst, in diesem Fall die Indie-Spiele. Ein neues Call Of Duty, Assassin’s Creed oder Angry Birds wird sicher nicht übersehen, ein unbekannter Titel ohne große Werbekampagne im Rücken schon.

Der App-Store hilft Nutzern nicht genug dabei, Wert und Qualität eines Spiels einzu­schätzen

Barry Meade, Fireproof Games

Rund 3700 Spiele sind nach Angaben des Betreibers Valve auf Steam seit der Gründung der Plattform 2003 erschienen – doch mehr als 1300 dieser Titel, also über ein Drittel, sind allein dieses Jahr hinzugekommen. Im App-Store von Apple wird es noch unübersichtlicher: Apple legt sich erst gar nicht fest, wie viele Spiele es im Angebot hat, sondern spricht nur von „Hunderttausenden“. Diese Flut nervt sogar erfolgreiche Entwickler von Ipad-Spielen. „Der App-Store hilft Nutzern nicht genug dabei, Wert und Qualität eines Spiels einzu­schätzen“, sagt etwa Barry Meade von Fireproof Games, dem Studio hinter dem düsteren Knobelspiel The Room.

„Es gibt so viele gute und einzigartige Spiele da draußen, aber die Nutzer wissen einfach nicht von denen.“ Ähnliches fürs nicht ganz so überschwemmte Steam: „Gute Spiele können auf Steam schon allein daran scheitern, dass sie an einem Tag veröffentlicht werden, an dem auch viele andere Titel eingestellt werden“, sagt John Bain, den seine Youtube-Abonnenten auch als TotalBiscuit oder The Cynical Brit kennen. Bain ist nicht nur einer der erfolgreichsten Spiele-Videoblogger, seit Kurzem ist er als The Cynical Brit auch „Kurator“ bei Steam.

&nbps;

Hinter dem Titel verbirgt sich der jüngste Versuch von Valve, die schiere Menge der Spiele doch noch überschaubar zu machen: Statt sich beim Filtern und Sortieren nur auf Algorithmen oder menschliche Redakteure zu verlassen, bringt Steam die Nutzer als Perlentau­cher ins Spiel. Und nicht bloß als lästige Kommentarschreiber.

Kurator kann jedes Steam-Mitglied werden, man muss nur eine Community-Gruppe anlegen und kann dann eine Liste seiner Lieblingsspiele einstellen. Geld gibt es dafür nicht, nur Aufmerksamkeit. Steam macht sich bei diesem Filtermodell aber gerade die Szenepro­minenz seiner Kuratoren zunutze: Auf Youtube hat Bain 1,8 Millionen Abonnenten, bei Steam folgen ihm bereits mehr als 300 000 Leute. Dort ist es von seiner Empfehlung bis zum Spielekauf eines dankba­ren Nutzers nur einen Klick weit.

Mit dem System wurde früher Musik verkauft.

Neu ist das Prinzip nicht. Mit ihm wurde früher Musik verkauft: Man konnte die Verkäufer in Platten­läden um Rat fragen oder hatte Freunde mit Geschmack, die einem Mixtapes aufnahmen. „Soziale oder nutzerbasierte Empfehlungssys­teme haben in der Musik schon immer eine große Rolle gespielt“, sagt Stefan Zilch, Deutschland-Chef von Spotify. Dessen Plattform erlaubt Nutzern und Künstlern schon lange, Playlists zu erstellen und mit dem Rest der Welt zu teilen; Spotifys Konkurrent Beats Music ist sogar komplett um Empfehlungen von Künstlern, Musikjournalisten und anderen Experten aufgebaut.

So sehr wie Steam bei Spielen hat aber noch kein Downloadshop an die Weisheit des Einzelnen in der Masse geglaubt – und das zum Ge­schäftsmodell erhoben. Geht es nach Bain, liegt Steam damit voll im Trend: „Das ist die Idee des mo­dernen tastemakers“, sagt er. „Youtube und soziale Netzwerke erlau­ben es uns, in einem viel größeren Rahmen nach Menschen zu suchen, deren Urteil wir vertrauen.“

Giganten wie Amazon und Netflix halten an Algorithmen fest.

Martin Spann von der Uni München glaubt allerdings nicht, dass Giganten wie Amazon und Netflix dafür ihre geliebten Algorithmen aufgeben werden. Die Systeme arbeiteten inzwischen viel zu gut. Allerdings haben die Marktführer mit ihren Millionen Kunden auch ideale Voraussetzungen: Je größer der Stamm an Kunden ist, deren Geschmack man analysieren kann, des­to besser der Algorithmus.

Der ist nicht per se böse. Bei Netflix etwa kann man ihm bei der Arbeit zusehen: Mit jeder Entscheidung für eine Serie oder einen Film werden die Vorschlagslisten präzi­ser. Das folgt der alten Erkenntnis, dass Menschen im Zweifel eher mehr vom Gleichen wollen, als etwas Neues auszuprobieren. Wer keine Horrorfilme mag, dem muss man auch keine vorschlagen.

Ein Featured-Platz bedeutet für einen Titel das zehn- oder zwanzigfache an Downloads.

Neben Algorithmus und Kuratorempfehlung gibt es noch eine Filtergröße, derer sich Downloadplattformen bedienen: Sie behalten sich vor, wem sie herausgehobene Plätze reservieren. Bestes Beispiel sind die begehrten Featured-Plätze im App-Store. „Für einen Bezahltitel bedeutet es das Zehn- oder Zwanzigfache an Downloads, dort aufzutauchen, für ein Gratisspiel noch viel mehr“, sagt Michael Schade vom Hambur­ger Studio Rockfish  Games, der mit seiner alten Firma Fishlabs die erfolgreiche Weltraum­serie Galaxy On Fire entwickelt hat. Kein Wunder, dass Apple selbst entscheiden will, was dort zu sehen ist: „Wer die neuesten Features der aktuellen Apple-Hardware nutzt oder exklusiv im App-Store erscheint, hat natürlich bessere Chancen auf ei­nen Featured-Platz“, so Schade.

Der perfekte Filter ist nicht in Sicht, nur zwei grundsätzlich verschiedene Filtereinstellungen: Hier die Giganten mit Algorithmen, da die Plattformen, die sich auf die Spürnase von Nutzern verlassen und so auch ungewöhnlichen Filmen, Liedern und Spielen eine Chance ge­ben. Bei Letzteren wäre der informierte Verkäufer aus dem Plattenladen von einst nicht mit seinem Geschäft verschwunden. Er wäre nur umge­zogen, ins Netz. Sein Job bliebe derselbe: Platten einsortieren und empfehlen. Oder eben Spiele.

GQ Empfiehlt
Mit einem Computerspiel zum Traumjob

Mit einem Computerspiel zum Traumjob

von Moritz Geier