Hinweis zu Affiliate-Links: Alle Produkte werden von der Redaktion unabhängig ausgewählt. Im Falle eines Kaufs des Produkts nach Klick auf den Link erhalten wir ggf. eine Provision.

„Die Vinyl-Szene muss erst lernen, dass Open Source cool ist“

von Chris Köver
Martin Sukale presst in Hamburg seit 15 Jahren Vinyl in Kleinstauflage – mit Maschinen, die er vom Schrott oder aus Konkursen gerettet hat. Eine Zeit lang war sein Presswerk „Ameise“ das Kleinste der Welt. Der Ethos dahinter: purer Punk. Bei ihm konnte man auch 50 Stück von einer Platte pressen lassen, um Geld ging es dabei nicht. Im Interview erzählt er, warum die Vinylszene so verschworen ist und wie sich das mit dem aktuellen Boom verändert.

WIRED: Eure alte Pressmaschine sieht ein bisschen aus wie aus der Kulisse von Mad Max.
Martin Sukale: Wir wollten nach dem Umzug in unsere neue Halle eigentlich eine neue Presse aufbauen, aber es gibt ja keine neuen Maschinen. Neu heißt: Die Maschine ist 40 Jahre alt und wir bauen sie neu auf. Irgendjemand muss sich dringend darum kümmern, neue Maschinen zu bauen.

WIRED: Der aktuelle Vinylhype sorgt dafür, dass der Bedarf nach den Maschinen wieder steigt. Da wäre es doch lukrativ, welche herzustellen.
Martin Sukale: Einige versuchen das gerade. Die große Frage ist, ob sie es schaffen werden. Das Problem ist: Dieses Wissen, wie man eine Presse baut, ist verloren gegangen. Nur wer schon eine hat, wüsste überhaupt wie es geht, weil er die Presse nachbauen könnte – aber selbst das ist schwer. Es gibt niemanden, den ich heute anrufen könnte: Ich möchte bitte in drei Monaten eine neue Pressmaschine haben.

WIRED: Das heißt seit 40 Jahren baut niemand mehr Plattenpressen?
Martin Sukale: Die einzigen waren GZ Vinyl, das ist das größte Presswerk der Welt in der Tschechischen Republik. Bis vor kurzem haben sie sich vor allem als internationale Firma für Großkunden präsentiert, etwa die CDs für Microsoft Windows hergestellt. Inzwischen öffnen sie sich auch dem Liebhabermarkt. Auf der Webseite haben sie Fotos ihrer manuellen Pressen veröffnentlicht, das sind Maschinen, an denen meist Frauen die Handlingroboter ersetzen, indem sie den Vinylkuchen manuell in die Presse legen und den Quetschrand in Handarbeit abschneiden. Das wäre natürlich auf anderen Arbeitsmärkten so nicht lukrativ...

Es gibt niemanden, den ich heute anrufen könnte: Ich möchte bitte in drei Monaten eine neue Pressmaschine haben.

WIRED: Woher kommen die Maschinen, die ihr verwendet?
Martin Sukale: Aus Konkursmasse. Diese Maschinen führen gerade ihr zweites, drittes oder viertes Leben. Die Presse, die wir aktuell verwenden, stand zum Beispiel schon mal auf dem Schrott und war längst abgeschrieben bei Interpress, einem Presswerk bei Frankfurt, das Mitte der 1990er Jahre abgewickelt wurde.

WIRED: Wie hast du erfahren, dass sie überhaupt dort steht?
Martin Sukale: Als wir Ende der Neunziger Jahre angefangen haben, gab es Ebay noch nicht und viele hatten keine Emailadresse. Ich war aber damals schon viel im Netz und hatte Kontakt mit Leuten im Vinyl-Underground. Ich bin ja selbst ein bisschen zu jung, um den Vinyl-Hype der 1980er Jahre mitgemacht zu haben. Techno war für mich der erste Berührungspunkt, da war ich etwa 14. Ich hatte aber ältere Freunde, die sich damit beschäftigt haben, wie sie eigene Musik auf Platte veröffentlichen können. Über sie habe ich viel mitbekommen.

WIRED: Eure Motivation für das Pressen war, eigene Musik auf Vinyl veröffentlichen zu können?

Wir haben den Mainstream abgelehnt und an jeder Ecke versucht, alles selber zu machen. Das war so eine naive Kapitalismuskritik.

Martin Sukale: Ja, Punkbands oder andere Musiker, die kein Label für ihre Musik hatten, hatten immer das Problem: Wo lassen wir Platten pressen? Man musste einen Deal abschließen mit einem Label, das die Platten dann gepresst hat – so lief es bei vielen im Hiphop. Es gab aber noch eine andere Bewegung, die gesagt hat: wir wollen nur Independent-Pressungen, wir wollen alles selbst machen. Wir haben den Mainstream abgelehnt und an jeder Ecke versucht, alles selber zu machen statt zu kaufen. Das war so eine naive Kapitalismuskritik. Wir waren kleine Jungs, die rebellierten, und in der Schule kifften. Angefangen haben wir mit Einzelstücken, so genannten Dubplates, das kam aus Jamaica oder London aus der Reggae Szene. Dort wurde etwas aufgenommen, und dann erst mal getestet, ob es beim Publikum gut ankommt – dazu braucht man von einem Track ein Einzelstück. Diese Kultur haben wir versucht zu imitieren.

WIRED: Dafür braucht man eine Überspielmaschine.
Martin Sukale: Das war unsere erste Maschine. Die stand Ende der Neunziger Jahre noch in einer Hamburger WG im Schanzenviertel. Ein Teil aus den 40er Jahren, riesig, es war von den USA nach Frankreich gegangen und stand dort in einem französischen Chanson-Studio. Der Chef des Studios hat es dann einem Freund verkauft und ich habe es von ihm übernommen. Ich habe mir aus den USA Master-Rohlinge importiert und dann sind Leute zu mir gekommen mit den Stücken, die sie am Wochenende aufgelegt haben – und ich habe sie auf Dubplates geschnitten. Das war die Steigerung dessen, dass man die neuesten Platten hatte: man hatte eine Platte, die kein anderer hatte.

WIRED: Mit dem Überspielgerät konntest du Einzelstücke herstellen. Wie kam es von dort zu deinem eigenen Presswerk „Ameise“?
Martin Sukale: Das war die logische Konsequenz. Manchmal waren Stücke darunter, bei denen wir dachten: Das könnten wir jetzt auch gut 300 Mal haben. Und bevor wir es 300 Mal jedem DJ der Stadt auf Platte schneiden, könnten wir es auch pressen. Im Jahr 2000 haben wir dann mit viel Glück eine Pressmaschine ergattert: Die Maschine von Interpress, die wir auch heute noch verwenden.

WIRED: Was habt ihr damals für diese Maschine bezahlt?
Martin Sukale: Fast nichts. Ein Freund wusste, dass bei Interpress noch Maschinen stehen und hatte einen Deal mit dem Hausmeister. Der rief uns irgendwann an: Ihr wolltet doch eine Presse haben, kommt mal vorbei, die wird sonst nächste Woche weggeschmissen. Interpress war aber auch nur eine Station von vielen.
 Europa Disc, Disco France, Lamping: alles alte Presswerke, die versteigert oder verschrottet wurden. Dort gab es teilweise noch Pressen für 500 Dollar, die heute 20.000 bis 40.000 Dollar kosten würden...  Und man braucht ja außer der Presse auch noch einen Kompressor, Wasserpumpen, ein Hydraulikaggregat, einen Dampfkessel, Vakuumpumpe. Das haben wir alles irgendwo vom Schrott geholt oder von coolen Leuten geschenkt bekommen.

WIRED: Das klingt alles sehr konspirativ, so als wäret ihr damals eine Gang gewesen.
Martin Sukale: Ja, die Vinyl-Szene ist sehr eingeschworen. Als wir angefingen, wurden wir erst nur belächelt. Die alten Hasen wollten uns gar nichts verraten. Der Spieß hat sich jetzt umgedreht, denn wenn irgendwo auf der Welt etwas kaputt geht, brauchen sie jetzt unser Nerd-Wissen, um es zu reparieren. Vinyl ist jetzt wieder ein Business – und viele der Experten sind inzwischen gestorben. Ich bin nur einer aus einer Handvoll Nerds aus der neuen Schallplattenpresser-Generation, die mittlerweile in der Lage ist diese Maschinen zu reparieren und ins neue Zeitalter hinüber zu retten.

WIRED: Warum wurde denn so viel geheimnisgekrämert in der Branche?
Martin Sukale: Man hatte Eigenentwicklungen, die Teldec, einer der größten deutschen Schallplattenhersteller, ist ein gutes Beispiel dafür. Die haben ein eigenes Masteringverfahren entwickelt, das so genannte Direct Metal Mastering, das streng patentiert war und nur gegen Lizenzzahlungen herausgegeben wurde. Dabei ging es um die genaue chemische Zusammensetzung der Kupferfolien und der speziellen rauschoptimierte Geometrie der Schneidstichel – Wissen, das sie auf keinen Fall der Konkurrenz verraten wollten. Das haben sie lieber mit ins Grab genommen. Auf der anderen Seite geht es um die Formeln für den Masterlack, die nur noch zwei Firmen auf diesem Planeten bekannt sind. Diese Formel haben wir mit Hilfe einer befreundeten Chemikerin einige Jahre lang versucht zu knacken – mit Erfolg, so dass wir theoretisch in der Lage wären, unsere eigenen Master herzustellen.

WIRED: Dieses Level von Geheimhaltung kennt man sonst aus der Pharma- oder IT-Branche. Wenn das Wissen nicht mehr vorhanden war, wie konntet ihr damals überhaupt anfangen, Platten herzustellen?
Martin Sukale: Trial and Error. Wir haben erst mal alles kaputt gemacht und beim Reparieren langsam verstanden, wie es funktioniert, vor allem die Pressmaschine. Es gab auch eine kleine Szene von DIY-Pressern, die sich untereinander sehr geholfen hat.

WIRED: Gebt ihr dieses wiedergewonnene Wissen über die alten Technologien auch weiter?
Martin Sukale: Wir haben gemeinsam mit einer Firma hier aus Hamburg einen Diamantstichel entwickelt. Der Stichel ist die Nadel, mit dem die Toninformation beim Überspielen in das Vinylmaster geritzt wird. Diese Nadel hat eine spezielle Geometrie, mit der man eine möglichst rauschfreie Rille in Metall oder Lack ritzen kann. Es gibt nur noch sehr wenige Menschen auf der Welt, die diese spezielle Schlifftechnik beherrschen und einer – ein ehemaliger Techniker der Teldec – hat es uns zum Glück verraten. Jetzt sind wir gerade dabei, diese neue Firma anzulernen, so dass sie in der Lage sind, solche Stichel zu produzieren. Das war toll, denn die Diamantszene ist eine ähnlich eingeschworene Gemeinde wie die Vinylszene.

WIRED: Das ist eine ganze Szene?
Martin Sukale: Ja, wir sind nicht die einzigen, die im Moment daran arbeiten, diese Technologien aufrechtzuerhalten. Das ist eigentlich ganz schön, nur findet auch hier noch zu wenig Austausch statt. Die Szene muss erst noch lernen, dass Open Source cool ist und dass wir auch als Konkurrenten davon profitieren, wenn wir unser Wissen miteinander teilen. Wir dürfen die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen. Wenn wir die Klangqualität von Schallplatten erhalten oder sogar verbessern wollen, müssen wir zusammenarbeiten und Wissen teilen.

WIRED: Wie war die Stimmung in der Szene als du Ameise vor 15 Jahren gegründet hast?

Auf den Auktionen herrschte Goldgräberstimmung. Man hat sich  getroffen und ein komplettes Presswerk zerfleddert.

Martin Sukale: Am Anfang war’s noch lustig: Wir fuhren herum, gingen in verlassene Fabrikhallen, kauften für 1000 Dollar eine Maschine und bastelten ein halbes Jahr daran herum. Bei den Auktionen herrschte Goldgräberstimmung unter uns kleinen Presswerk-Neulingen. Man hat sich bei Versteigerungen in den USA oder in Frankreich getroffen und hat zusammen ein komplettes Presswerk zerfleddert. Wir haben uns auch gegenseitig geholfen, ich habe zum Beispiel nicht auf den Zentrierapparat geboten, weil ich wusste, dass ein Kollege aus Belgien den braucht. Das war Teil von diesem Independent-Spirit. Wir waren die Kleinen, wir waren gegen die Großen, der Feind war klar.

WIRED: Wann hat sich das verändert?
Martin Sukale: Das ging mit dem Ausverkauf von Zyx Music los, einem der letzten großen Presswerke. Das war der Punkt, an dem ich ausgestiegen bin aus der Jagd auf die alten Maschinen. Durch neue Leute mit entsprechendem finanziellen Background wurden die Preise für solche Schrottpressen zu hoch. Es gab schon immer ein bisschen Mafia in der Plattenbranche. Es gab etwa schon immer Schwarzpressung, also dass jemand aus der Belegschaft heimlich 1000 Platten mehr von einer Platte gepresst hat und diese unter dem Ladentisch verkaufte. Mit dem Vinyl-Boom kamen dann aber richtigen Gangster, die diese Pressmaschinen oder das Zubehör haben wollten. Da sind Leute inklusive des Geldes auch einfach mal verschwunden. Das war für mich der Punkt, an dem ich gesagt habe: ich verabschiede mich aus dem Handel mit Equipment. Dann bauen wir die Sachen lieber neu statt hier mitzubieten.  

WIRED: Und baut ihr inzwischen eure eigene Maschine?
Martin Sukale: Ja, ich baue jetzt tatsächlich Pressen, aber das sind Hybride: alte Gestelle, in denen ich jedes Teil abschraube und ersetzte. Wir schauen weltweit, wo sich die Teile fertigen lassen.

WIRED: Mit dem Plattenpressen hast du nie Geld verdient. Du zahlst hier aber Miete und hast auch vier Mitarbeiter. Wie finanziert sich das?
Martin Sukale: Wir schneiden Master für andere Leute, wir bauen und verkaufen Ersatzteile und anderes Zubehör. Aber wir probieren auch gerade Neues aus. Wir haben gerade ein Press-Café eröffnet, in dem wir Leuten zeigen, wie sie selbst gute Platten machen können und das Wissen weitergeben. Ameise als Presswerk in Blankenese haben wir zugemacht, das war aus unternehmerischer Sicht immer schon Selbstmord, das war aber nicht der Punkt. Unsere Kunden waren unsere Freunde. Ich kenne kein Presswerk außer Ameise, das zum Selbstkostenpreis produziert hätte. Warum auch? Wir haben das gemacht, weil wir fanden, dass irgendwer diese Platten pressen muss – auch wenn sie nur 50 Leute auf diesem Planeten interessieren werden. Ganze Microgenres wären sonst gar nicht erst entstanden und einige Künstler nie aus ihrem Keller gekommen. Aber irgendwann kippt das, da fangen Kunden an, dich als Firma zu sehen und sind genervt, wenn ihr Auftrag nach Monaten immer noch nicht bearbeitet ist. Underground-Plattenpressen, wie wir es mit Ameise betrieben haben, ist tot. Das geht jetzt nicht mehr mit dem aktuellen Hype. Wir müssen uns entweder professionalisieren oder es ganz lassen – und das probieren wir hier aus.

Wir fanden, dass irgendwer diese Platten pressen muss – auch wenn sie nur 50 Leute  interessieren werden.

WIRED: Hattest du tatsächlich vor, das Pressen ganz einzustellen, wie du es in der Musikexpress im August angekündigt hast?
Martin Sukale: Eine Zeit lang ja. Ich wollte wirklich die Maschinen in der Elbe versenken. Ich hätte es als Verrat empfunden, sie für Tausende zu verkaufen. Dann bekomme ich aber Emails von Leuten, die mir schreiben: Wenn du aufhörst Platten zu pressen, kann ich mein Label aufgeben. Die wollen aus ideologischen Gründen bei keinem der großen Werke produzieren lassen. Da dachte ich: okay, ganz zumachen kann ich auch nicht.

Den völlig überraschenden WIRED-Hausbesuch im Plattenpresswerk von Martin Sukale inklusive Fotostrecke liest du hier.

GQ Empfiehlt