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„Es ist schizophren, mit Google Maps zur Demo gegen die Vorratsdatenspeicherung zu gehen“

von Joachim Hentschel
Kritische Stimme: Johanna Uekermann, Bundesvorsitzende der Jusos, attackiert SPD-Parteichef Sigmar Gabriel immer wieder bei umstrittenen Entscheidungen — wie bei seinem Vorstoß zur Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung. Im Interview mit WIRED Germany spricht Uekermann über Privatsphäre, Datenpolitik und schutzbedürftige Algorithmen.

WIRED: Johanna Uekermann, Ihr persönlicher Facebook-Account hat eine sehr offizielle Ausstrahlung. Oder woher bekommt eine 28-jährige Privatperson mehr als 3700 Freunde?  
Johanna Uekermann: Bei mir kam das schlagartig, 2013, als ich Juso-Vorsitzende wurde. Da hatte ich auf einmal 2000 Freundschaftsanfragen — die ich teilweise bis heute nicht alle beant­worten konnte. Ich benutze den Account schon lange nicht mehr privat, poste alles öffentlich.

Die Leute gehen zur Demo gegen die Vorratsdatenspeicherung und nutzen Google Maps, um hinzufinden

Johanna Uekermann, Bundesvorsitzende Jusos


WIRED: Sie wollen die Sphären nicht trennen?
Uekermann: Die vermeintliche Trennung zwischen Offline- und Online-Leben halte ich für Quatsch. Auch als Politike­rin kann ich ja nur authentisch sein, wenn ich die Facetten mit einschließe, die mich als Person ausmachen.

WIRED: 1987, in Ihrem Geburtsjahr, fand in der Bundesrepublik eine Volkszählung statt, begleitet von wütenden Protesten. 2015 geben viele Menschen große Mengen privater Daten freiwillig im Netz preis. Wie er­klären Sie sich den Wandel?
Uekermann: Ich finde es nach wie vor überraschend, wie stark sich die Einstellung dazu gewandelt hat. Bei vielen hat sich wohl auch ein gewisses Ohnmachtsgefühl durchgesetzt, weil man nicht die Datensouveränität bekommt, die man gern hätte. Es ist schon schizophren: Die Leute gehen zur Demo gegen die Vorratsdatenspeicherung und nutzen Google Maps, um hinzufinden.

WIRED: Dazu verbreitet sich die digitale Fortschrittsrhetorik: Wir müssen uns vernetzen, um wettbewerbsfähig in die Zukunft zu kommen. Ist das eine Gefahr?
Uekermann: Auch dieser Diskurs wird oft sehr kontrovers geführt, man darf sich aber nicht von ei­ner diffusen Angst überrumpeln lassen. Wir wissen ja, dass viele technologische Neue­rungen einen großen gesellschaftlichen Mehrwert haben — ich denke an Vorhersagen von Verkehrsstaus oder Naturkatastrophen. Es darf natürlich nicht sein, dass jemand einen persönlichen Nachteil davon hat, wenn er sich manchen Innovationen verweigert. Da muss der Staat die Rahmenbedingungen schaffen.

WIRED: Und wie?
Uekermann: Wir brauchen endlich vernünftige europäische Datenschutzrichtlinien, eine Art Briefgeheimnis für E-Mails und so weiter. So könnte man die Einzelperson ermächtigen, selbst zu entscheiden: Was darf ein privater Konzern von mir verwenden, was nicht? Vielleicht will man ja einen Algorithmus über seine Essgewohnheiten, weil man es cool findet, wenn der Lie­ferdienst automatisch das Richtige bringt. Dann muss jedoch klar sein, dass meine Krankenkasse diese Daten nicht bekommt. Und mich nicht in eine höhere Prämienklasse steckt, weil ich zu wenig Salat esse.

WIRED: Beim Thema Vorratsdatenspeicherung sind Sie im Juni mit dem SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel aneinandergeraten. Warum kommt das Thema in Deutschland immer wieder hoch?
Uekermann: Weil sich da eben zwei Schutzbedürfnisse gegen­überstehen: der Schutz der Privatsphäre und die vermeintliche Vorsorge gegen Verbrechen. Zuletzt hat leider die verkehrte Seite gewonnen — das wäre ein zu großer Eingriff in die Bürgerrechte. Aber in dieser Debatte ist die Sensibilisierung in den letzten Jahren erfreulich gewachsen.

WIRED: Dabei ist die Haltung der Regierung zu diesen Themen oft sehr rätselhaft. Erst heißt es in der Digitalen Agenda, Deutschland solle Verschlüsselungsland Nummer eins werden, dann wirbt der CDU-Innenminis­ter für Software-Hinter­türen. Und in der Vorratsdatenfrage gingen in der SPD die Standpunkte wild durcheinander. Warum?
Uekermann: Ich glaube, in vielen Fällen ist das einfach mangeln­des Verständnis. Da unterscheiden sich Politiker nicht vom Rest der Bevölkerung. Genügend ändern ihre Meinung, wenn sie sich intensiver damit beschäftigen.

Was gestern unsere Einkommenshöhe war, sind heute unsere persönlichen Vorlieben, unser Einkaufsverhalten und unser Freundeskreis

Johanna Uekermann, Bundesvorsitzende Jusos

WIRED: Und wie kommen wir aus dem Sicherheit-gegen-Freiheit-Dilemma heraus?
Uekermann: Dazu bräuchte man ein ganzes Maßnahmenbündel. Man müsste digitales Wissen fördern, den Leuten die Angst vor dem technologischen Fortschritt nehmen. Und der Staat muss zeigen, dass er in diesen Bereichen politisch handlungsfähig ist. Dass es in seiner Macht steht, Schutzregelungen einzuziehen und durchzusetzen. Dass ihm die Privatsphäre der Bürger im Zweifel wichtiger ist als die Handlungsfreiheit der Geheimdienste. Und, wie schon gesagt: Wir müssen in einem ersten Schritt auf europäischer Ebene eine Datenschutzrichtlinie für private Unternehmen hinbekommen.

WIRED: Deutschland gilt ja als Land, in dem Privatsphäre einen hohen Stellenwert hat. Dennoch tun wir uns innenpolitisch schwer mit ihr.
Uekermann: In mancher Hinsicht stimmt das. Dass man zum Beispiel einfach erfahren kann, wer wie viel verdient, wie in Schweden — das wäre in Deutschland nach wie vor komplett undenkbar. Aber vielleicht haben die Menschen hier die Transferleis­tung noch nicht vollzogen: Was gestern unsere Einkommenshöhe war, sind heute unsere persönlichen Vorlieben, unser Einkaufsverhalten und unser Freundeskreis.

WIRED: Als Parteichef Gabriel im Juli mit seiner Kritik an Griechenland große Teile der SPD verärgerte, forderten Sie ihn auf, seinen Urlaub dort zu verbringen, Sie würden es auch tun. Die viel zu private Schlussfrage: Sind Sie hingefahren?
Uekermann: Ich war Ende August auf Kreta. Die Urlaubsfotos stehen auf Facebook – schauen Sie nach!

Hier geht es zu unserem großen Privatsphäre-Dossier. 

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