Hinweis zu Affiliate-Links: Alle Produkte werden von der Redaktion unabhängig ausgewählt. Im Falle eines Kaufs des Produkts nach Klick auf den Link erhalten wir ggf. eine Provision.

Ende der Nachricht: Stirbt die E-Mail endlich aus?

von Karsten Lemm
Um 122 Nachrichten muss sich der durchschnittliche Büromensch jeden Tag kümmern. Neue Dienste wie Slack und Verse versprechen jetzt Erlösung vom Inbox-Koller — und könnten die E-Mail überflüssig machen.

Er hat sich verliebt, heftig und plötzlich. Dieses Programm, das seine Firma einfach mal ausprobiert hat: „Ein Lebensretter“, sagt Chase Watterson, Marketingchef beim Fitnessapp-Anbieter iFit in Utah. Wo früher E-Mails hin und her flogen, fließt alles Wichtige jetzt durch Chat-Kanäle, übersichtlich geordnet, mit Archiv zum Wiederfinden. „Für unsere interne Kommunikation ist Slack unersetzlich geworden“, schwärmt Watterson. „Innerhalb von 24 Stunden ist das gesamte Team umgestiegen.“ 

Vielen, die den innovativen Nachrichtendienst entdecken, geht es ähnlich. Das Startup des Flickr-­Mitgründers Stewart Butterfield erobert Büros und Herzen in aller Welt so schnell wie kaum eine andere Software je zuvor. Nicht einmal zwei Jahre nach der Gründung meldet Slack mehr als 200.000 zahlende Nutzer, darunter Vorzeigekunden wie Adobe, PayPal und die New York Times. Investoren überschlagen sich, in Rekordgeschwindigkeit haben sie Slack zum doppelten „Einhorn“ gemacht: So nennen sie im Silicon Valley Jungfirmen, die es auf mehr als eine Milliarde Dollar Marktwert bringen. Und warum das alles? „Seit ich Slack nutze, schaffe ich es immer, meinen E-Mail-Eingang abzuarbeiten“, erklärt Watterson. „Jeden Tag erreiche ich #inboxzero.“

Das ist eine Leistung, nach der sich Millionen sehnen. Unaufhörlich prasseln Nachrichten auf uns ein, quillt der elektronische Briefkasten über vor dringenden Aufträgen, Anfragen, Kopien und Blindkopien, Terminbestätigungen, Benachrichtigungen, Newslettern — und natürlich Spam. 86 Prozent der gut 280 Milliarden E-Mails, die täglich verschickt werden, fallen in die Kategorie „digitaler Müll“, schätzt Ciscos Netzwerk-Analyseservice senderbase.org. 

Doch damit bleiben immer noch 122 Nachrichten, um die sich der durchschnittliche Büromensch an jedem Arbeitstag tatsächlich kümmern muss. Bis 2019 sollen es laut Marktforscher Radicati Group 126 Nachrichten täglich werden, und jede verlangt Aufmerksamkeit, die anderswo verloren geht. Mehr als zwei Stunden kostet uns das Freischaufeln der Inbox, Tag für Tag neu, ermittelte die Unternehmensberatung McKinsey in einer Studie von 2012 — und kam zu dem Schluss, dass Firmen stark davon profitieren könnten, zumindest intern soziale Netzwerke zu nutzen, statt sich auf E-Mail-Pingpong zu verlassen. „Um 20 bis 25 Prozent“ ließe sich die Produktivität damit erhöhen (siehe Grafik).

280 Milliarden E-Mails am Tag, davon 122 für jeden von uns: Höchste Zeit für intelligentere Wege, Nachrichten auszutauschen


Dutzende von Softwareanbietern prügeln sich um diese Idee von einem hauseigenen Facebook für Firmenzwecke — darunter Giganten wie Microsoft und Salesforce mit Yammer und Chatter ebenso wie Kleine, die sich Campfire, Huddle oder HipChat nennen. Alle versprechen, das Durcheinander von E-Mails, die sich in überquellenden Ordnern verlieren, durch etwas Besseres zu ersetzen: Mitglieder können sich in Echtzeit unterhalten, Dokumente zuschicken, Kurznachrichten versenden, Informationen teilen — mit dem gesamten Unternehmen oder ausgewählten Kollegen. Alles lässt sich durchsuchen, damit nichts mehr wegkommt, und Mobil-Apps sorgen dafür, dass Teams auch von unterwegs und über alle Zeitzonen hinweg mühelos zusammenarbeiten können.

„Solche Dienste, die auf dem Chat-Prinzip basieren, werden bald zum neuen Standard für Bürokommunikation werden“, sagt Stowe Boyd voraus, Analyst bei der Digital Clarity Group. Slack sieht er an etablierten Konkurrenten vorbeipreschen, weil sich der Neuling geschickt auch anderen Anwendun­gen geöffnet habe, von Twitter bis Google Chat und Github. „Slack macht es enorm einfach, solche Dienste zu integrieren“, lobt Boyd. „Man hat alle Informationen im Zusammenhang vor Augen und muss nicht zwischen den Programmen hin und her springen.“

Entstanden ist die Software aus eigenen Bedürfnissen der Entwickler: Eigentlich wollte Slack-Gründer Stewart Butterfield ein Videospiel auf den Markt bringen — doch als er merkte, dass seine Vorstellungen nicht zu finanzieren waren, schwenkte er um. Fürs gemeinsame Planen hatte das Team eine eigene Chat-Software entwickelt, um produktiver zu arbeiten. Aus der selbst gestrickten Lösung für den Hausgebrauch wurde ein offizielles Produkt, das im August 2013 mit dem Ziel antrat, Büroarbeiter vor dem Inbox-Infarkt zu bewahren.

Bei allem Erfolg allerdings muss Slack sich in einem wichtigen Punkt der E-Mail geschlagen geben: Der Chat-Dienst kann nur Nutzern helfen, die sich bereits kennen (meist, weil sie im selben Unternehmen arbeiten) und gemeinsam bei Slack angemeldet sind. Elektronische Post dagegen eroberte die Welt, weil es plötzlich möglich wurde, jedem Menschen auf Erden zwanglos und sekundenschnell eine Nachricht zu schicken — auch Wildfremden. „E-Mail war ursprünglich eine Killer-Anwendung, weil man sicher sein konnte, spätestens am nächs­ten Tag eine Antwort zu haben“, erklärt Nathan Zeldes, langjähriger Intel-Forscher in Sachen Informationsüberflutung.

Doch schon Mitte der 1990er-Jahre, gerade zwei Jahrzehnte, nachdem Ray Tomlinson 1971 die erste E-Mail an sich selbst geschickt hatte, stöhnten Internet-Anwender über zu viel Post in ihrer Inbox. „Von der US-Armee bis zur Heils­armee — alle hatten dasselbe Problem“, erinnert sich Zeldes, heute eigenständiger Unternehmensberater. Er glaubt nicht daran, dass die E-Mail, so ungeliebt sie inzwischen sein mag, auf ihr nahes Ende zusteuert. „All das Gerede vom Tod der E-Mail ist Hype“, sagt Zeldes. Zu praktisch sei der Oldie der digitalen Kommunikation für viele Zwecke, zu allgegenwärtig, um über Nacht auszusterben. „Worum es wirklich geht“, sagt Zeldes, „ist, Erleichterung zu schaffen.“

Genau das verspricht IBM mit seinem neuen Cloud-Dienst Verse. Wenn E-Mail schon sein muss, dann soll sie zumindest übersichtlicher werden und weniger Zeit verlangen. Das System hilft beim Sortieren und beobachtet das Nutzerverhalten, um mitzulernen und relevante Informationen bereitzuhalten — etwa die Powerpoint-Präsentation, die vor Wochen verschickt wurde, aber plötzlich wieder aktuell ist. Statt sich durch endlose „Re: Re: Re:“-Stränge zu kämpfen, sollen Verse-­Nutzer ihre Nachrichten mühelos Aufgaben zuordnen können, gleich mit Erinnerungen versehen, und die Möglichkeit haben, alles, was auch die Kollegen interessieren könnte, mit einer schnellen Handbewegung aufs haus­interne Blog zu stellen. „Verse hat den Anspruch, dass die wichtigsten Aktionen maximal zwei Klicks entfernt sind“, erklärt IBM-­Manager Stefan Pfeiffer.

Auch IBMs künstlich intelligenter Assistent Watson soll Verse-Nutzern helfen, effizienter zu arbeiten — etwa, indem er punktgenau Informationen aus dem firmeninternen Datennetz bereithält. „Verse ist ein neuer Ansatz, wie E-Mail funktionieren sollte“, lobt Analyst Stowe Boyd, „basierend auf einem Verständnis davon, in welchem Kontext sich eine Unterhaltung abspielt.“

Die grösste Herausforderung mag am Ende sein, Ruhe zu schaffen in einem Alltag, der niemals Ruhe geben mag, weil sich immer wieder etwas Neues ergibt und alle eine Reaktion erwarten. Jetzt. Gleich. „Das kann auch Verse nicht lösen“, räumt Pfeiffer ein. „Vieles hängt vom persönlichen Verhalten ab.“ Einfach mal offline gehen, rät Nathan Zeldes, der Veteran im Kampf gegen die Informationsfluten – vor allem abends und am Wochenende: „Wir alle brauchen Zeit zum Abschalten.“ Schön, wenn Helfer wie Slack und Verse dann zumindest für ein ruhiges Gewissen sorgen: #inboxzero, Feierabend! 

GQ Empfiehlt