Hinweis zu Affiliate-Links: Alle Produkte werden von der Redaktion unabhängig ausgewählt. Im Falle eines Kaufs des Produkts nach Klick auf den Link erhalten wir ggf. eine Provision.

Pussy Riot schlagen zurück

von Greg Williams
Das Straflager hat sie nicht gebrochen. Aber mit Punkrock haben die neuen Projekte der Moskauer Aktivistinnen wenig zu tun — mehr mit Vernetzung und Information.

Es ist ein milder Novembermorgen, als Marija Aljochina mit einem Kaffee in der Wohnung einer Freundin in Brooklyn sitzt. Abwechselnd nippt die 26-Jährige, die von ihren Freunden Masha genannt wird, an der Tasse und zieht an der Zigarette einer russischen Marke. Beides helfe ihr, ihre Gedanken zu sortieren, sagt sie, denn sie habe wenig geschlafen. Am Abend zuvor hatten Medien von der Entscheidung der Grand Jury in Ferguson, Missouri, berichtet, keine Anklage gegen den weißen Polizisten zu erheben, der im August 2014 den schwarzen Teenager Michael Brown erschossen hatte. Im ganzen Land kam es darauf zu spontanen Protesten, US-Präsident Barack Obama mahnte die Bevölkerung zu Ruhe und Besonnenheit.

Als Aljochina, die am gestrigen Abend gerade erst in der Wohnung angekommen war, auf Twitter las, dass sich in New York eine Reihe von Demonstrationen gegen die Entscheidung der Jury organisiert, machte sie sich auf den Weg, um mitzuprotestieren. In den darauffolgenden Stunden war sie eine von mehreren Hundert Demonstranten, die die Robert-F.-Kennedy-Brücke in Manhattan blockierten. Erst um halb fünf morgens kehrte sie zurück nach Brooklyn.
Keiner der Protestierer nahm Notiz davon, dass sich unter ihnen eine der weltweit bekanntesten Politaktivistinnen befindet. Gemeinsam mit ihrer Partnerin Nadeschda Tolokonnikowa, 25, ist sie Anführerin des feministischen Kollektivs Pussy Riot, das am 21. Februar 2012 mit einem Auftritt in der Christus- Erlöser-Kathedrale in Moskau schlagartig weltbekannt wurde. Die beiden Aktivistinnen wurden wegen des Punk-Gebets, mit dem sie gegen die Wiederwahl von Wladimir Putin anschrien, im August 2012 zu zwei Jahren Haft verurteilt.

Nun steht Aljochina barfuß in der Küche und schaut sich auf ihrem Iphone einen Film von den nächtlichen Demonstrationen an. Sie hat einen verschmitzten, trockenen Humor. Als jemand vorschlägt, zu Dunkin Donuts zu gehen, verzieht sie leicht das Gesicht. „Ich bin wirklich kein Snob, aber Dunkin Donuts?“, fragt sie — bevor sie um einen Kaffee mit Karamellsirup bittet.

Inzwischen ist auch Tolokonnikowa mit ihrem Ehemann, dem Aktivisten Pjotr Wersilow, in die Wohnung gekommen. Sie setzt sich neben Aljochina ans offene Küchenfenster und raucht ebenfalls eine Zigarette. Sie trägt ein rot-weiß kariertes Hemd, die Spitzen des schwarzen Haars sind grün gefärbt. Im intensiven Blick ihrer Augen liegt eine gewisse Skepsis. In der Woche zuvor war sie in Großbritannien, wo sie einen fröhlichen, regelrecht ausgelassenen Eindruck machte und auf der Bühne über den Film Borat scherzte. Heute ist sie weniger zu Scherzen aufgelegt, aber aus dem, was sie sagt, – das meiste davon bezieht sich auf die düstere Lage im modernen Russland – spricht durchaus Humor, der sich in einem kurzen Lachen am Ende ihrer Sätze manifestiert.

Im Dezember 2013 waren die beiden aus dem Gefängnis entlassen worden. Gerade rechtzeitig vor den wenig später stattfindenden Olympischen Spielen von Sotschi und im Rahmen einer Amnestie, die einmal mehr die Launenhaftigkeit des russischen Justizapparats offenbarte.

Aljochina und Tolokonnikowa reisten kurz danach in die Olympiastadt Sotschi. Bei ihrer Ankunft wurden sie und andere Pussy-Riot-Mitglieder von Peitschen schwingenden Kosaken angegriffen, volkstümlich gekleideten Sicherheitsleuten, die hart zupackten. Dann nahm die örtliche Polizei die Aktivistinnen in Gewahrsam. Kaum waren diese ein paar Stunden später wieder auf freiem Fuß, posierten sie vor den olympischen Ringen und machten einen Videoclip zu dem Song Putin Will Teach You To Love The Motherland. Der Satz war das wörtliche Zitat eines der prügelnden Kosaken.

Alles Interessante beginnt mit einem Konflikt. Wenn du einfach nur ein bequemes Leben führst, fängst du an abzubauen.


„Unsere Aktionen sind keine Frage der Courage, sondern eine der persönlichen Entwicklung“, sagt Aljochina. „Alles Interessante beginnt mit einem Konflikt. Der kann privat oder öffentlich sein. Aber in jedem Fall zwingt er dich, über dich hinauszuwachsen und Dinge zu verstehen. Wenn du einfach nur ein bequemes Leben führst, fängst du an abzubauen.“

Mitte Februar veröffentlichte das Kollektiv sein erstes Video in englischer Sprache. In dem Song I Can’t Breathe thematisieren Aljochina und Tolokonnikowa den Tod von Eric Garner. Im Juli 2014 war der 43-jährige Amerikaner gestorben, nachdem ihn ein Polizist so lange in den Würgegriff genommen hatte, dass er das Bewusstsein verlor und sein Herz stehen blieb. „I can’t breathe ... I can’t breathe ...“ — das waren seine letzten Worte. Der Fall führte zu heftigen Debatten darüber, wie viel Rassismus in der amerikanischen Polizei steckt. Auch Eric Garner war schwarz.

Der Song, von Pussy Riot als „Industrial Ballad“ etikettiert, sei für „Eric und all jene in Russland, Amerika und überall auf der Welt, die unter Staatsterror leiden, getötet, erwürgt, gebrochen von staatlich legitimierter Gewalt“. Auf Youtube wurde der Song schon rund 400 000 Mal angeklickt. Es gibt allerdings auch zahlreiche Stimmen, die Pussy Riot vorwerfen, der Sache Eric Garners eher zu schaden. Sie nähmen den Überlebenskampf eines Mannes — und eine Kultur, von der sie keine Ahnung haben — und nutzten ihn für Reklame, schimpfte ein Kommentator.


Aljochina und Tolokonnikowa dagegen sind überzeugt, dass dieses Video nur fortsetzt, wofür sie seit Jahren kämpfen. „Wenn es um Freiheit, Proteste und den Wert eines Lebens geht, sprechen Menschen von verschiedenen Kontinenten dieselbe Sprache.“

Pussy Riot arbeitet weiter an solchen Kunstprojekten, aber momentan fließt ein Großteil ihrer Energie in zwei andere Ideen: Zona Prava und MediaZona. Zona Prava ist eine NGO, die sich für die Rechte Inhaftierter einsetzt. MediaZona ein Nachrichtenportal, das sich mit Menschenrechten, Gefängnissen und dem Justizsystem beschäftigt. (Der Begriff „Zona“ bezeichnet im russischen Sprachgebrauch auch Straflager.)

Das Ziel ist, Transparenz in ein System zu bringen, das in manchen Teilen des Landes nicht nur chaotisch ist (nach ihrer Verurteilung galt Tolokonnikowa 24 Tage lang als vermisst, bevor sie schließlich in einem sibirischen Lager wieder auftauchte), sondern auch korrupt und überlastet. Laut einer 2013 durch-geführten Erhebung des International Centre for Prison Studies gibt es in Russ-land 681 000 Strafgefangene, auf 100 000 Menschen kommen 475 Inhaftierte. Nur in den USA mit 2,2 Millionen (716 je 100 000) und in China mit 1,7 Millionen (121 Gefangenen je 100 000 Einwohner) sitzen noch mehr Bürger hinter Schloss und Riegel.

Natürlich ist MediaZona eng verknüpft mit den vergangenen zwei Jahren von Aljochina und Tolokonnikowa. Auch sie wurden im Gefängnis ihrer Grundrechte beraubt und willkürlich bestraft. Nach einem Jahr hinter Gittern trat Tolokonnikowa im September 2013 deshalb in den Hungerstreik. In einem offenen Brief beschrieb sie, wie „Mitgefangene unter den andauernden sklavenähnlichen Bedingungen kollabierten“, und forderte die Behörden auf, die Menschenrechte zu respektieren und sich an die geltenden Gesetze zu halten. Nach fünf Tagen wurde sie in das Gefängniskrankenhaus verlegt.
Um die Arbeit an ihren Projekten zu bewältigen, ist um die beiden herum ein Netzwerk an Aktivisten entstanden. So ist die 24-jährige Ksenia Zhivago verantwortlich für das Gefängniskartierungs-Projekt Zona Prava. Das Ziel ist der Aufbau einer interaktiven Datenbank mit Informationen über die Strafvollzugsanstalten in Russland — 758 davon sind Straflager. Teams von ehrenamtlichen Helfern sammeln dafür Daten aus offiziellen Quellen, Onlineforen, Suchanfragen auf der russischen Suchmaschine Yandex und von Beobachtungsgruppen. Sowie mittels einer dreihundert Fragen umfassenden Umfrage direkt bei den Strafgefangenen. Darüber hinaus bietet die Website auch praktische Hilfestellung. Es gibt Hotlines zu einem Psychologen und einem Anwalt, aber auch Unterstützung dabei, sich im Dschungel der russischen Bürokratie zurechtzufinden.

Der Pop-Punk hat Pussy Riot berühmt gemacht. Ob sie Russland wirklich verändern, steht auf einem anderen Blatt.

Das Angebot soll das System möglichst in Echtzeit abbilden, weshalb die Daten in jeder Phase auf ihre Stichhaltigkeit überprüft werden. Zur Ortung der Strafanstalten und um sicherzustellen, dass die Plattform in andere Websites eingebunden werden kann, arbeitet Zona Prava mit der Schnittstelle, die Yandex Maps zur Verfügung stellt.

Leitender Redakteur von MediaZona ist Sergey Smirnov, der früher für die Online-Nachrichtenseite gazeta.ru über das Militär und die politische Opposition schrieb. „Über einige Artikel war der Kreml nicht sonderlich erfreut“, erzählt er via E-Mail. „Gazeta.ru bekam Probleme mit der Zensur, und einige Journalisten mussten kündigen.“ Smirnov ging und wurde stellvertretender Chefredakteur der politischen Nachrichtenseite Russkaya Planeta, bevor er im Mai 2014 zu Media-Zona stieß.

MediaZona wird vielleicht als Menschenrechtsprojekt betrachtet, aber wir arbeiten strikt nach den Regeln des Journalismus

Sergey Smirnov, Leitender Redakteur

Die Journalisten seines kleinen Teams verteilen die Aufgaben untereinander so, dass sie rund zehn Artikel am Tag posten. Sie berichten aus Gerichtssälen und informieren in Timelines über die neuesten Entwicklungen in den Prozessen. Der Traffic ist bescheiden. Zwischen 3000 und 10 000 Besucher verzeichnet das Portal pro Tag. Die erfolgreichsten Artikel — Berichte über das Verfahren gegen den Kremlkritiker Alexei Nawalny oder die Schilderung einer Frau über ihre 16 Jahre in Haft — kamen auf rund 100 000 Views.

„MediaZona wird vielleicht als Menschenrechtsprojekt betrachtet, aber wir arbeiten strikt nach den Regeln des Journalismus“, schreibt Smirnov. „Wir sind Journalisten und anders als reine Menschenrechtsorganisationen tragen wir die Verantwortung für die Informationen, die wir liefern.“ Finanziert wird das Projekt von Geld, das Aljochina und Tolokonnikowa bei Auftritten verdienen, sowie von Organisationen aus dem Ausland. „Wir erhalten keinerlei Mittel von ausländischen Regierungen“, betont Smirnov.

Der Optimismus und der Mut lagen in Scherben — zusammen mit der politischen Opposition

Die Arbeit vom MediaZona ist umso wichtiger, als sich immer weniger kritische Journalisten finden, die den Druck des Staats aushalten. Der Brite Ben Judah ist Autor des Buchs Fragile Empire: How Russia Fell In And Out Of Love With Vladimir Putin. Er erinnert sich an eine Zeit, als junge Blogger und Medienmacher journalistische Stimmen etablierten, die unabhängig, mutig und unvorbelastet waren.

„Von 2007 bis 2012 gab es eine Generation, die sich nicht mehr an die Sowjetunion erinnerte und von derem Zusammenbruch nicht traumatisiert war“, sagt er. Das Russland, das Aljochina und Tolokonnikowa er-wartete, als sie entlassen wurden, sei allerdings ein gänzlich anderes Land gewesen. Der Optimismus und der Mut der ersten zehn Jahre des neuen Jahrtausends lagen in Scherben — zusammen mit der politischen Opposition. Seitdem sind die Bedingungen noch schlechter geworden. Der russische Staat unternimmt derzeit vieles, um die Macht über die Kommunikation im Netz nicht zu verlieren.

So wurde im August 2014 ein neues Gesetz zur „Informationssicherheit“ erlassen: Blogger mit mehr als 3000 Lesern am Tag müssen sich nun bei einer staatlichen Regulierungsbe-hörde registrieren lassen. Im Oktober 2014 erließ Putin ein Gesetz, das es ausländischen Firmen verbietet, mehr als 20 Prozent Anteile an russischen Medien zu halten. Und seit dem 1. Januar 2015 müssen alle Unternehmen, die Daten russischer User speichern, ihren Betrieb nach Russland verlegen – etwas, was schon logistisch unmöglich ist. Pjotr Wersilow, Tolokonnikowas Ehemann, sieht darin eine List. Die russische Regierung sei sich bewusst, dass Google, Facebook und Twitter dem nicht nachkommen können, sagt er.

Deshalb werde die russische Regierung versuchen, Zugeständnisse anderer Art zu erzwingen – und vermutlich auch bekommen. „Putin ist dabei, Verhandlungsgrundlagen mit ausländischen Internetkonzernen zu schaffen.“ Und noch etwas macht ihm Sorgen. Während die großen Unternehmen gut genug aufgestellt seien, Cyberangriffe zu überstehen, gerieten unabhängige Nachrichtenseiten wie MediaZona -immer öfter unter Beschuss, gegen den sie sich nicht wehren -können. Dabei sei es für sie essenziell, Distributed-Denial-of-Service-Attacken (DDoS) abwehren zu können. Haben staatliche Akteure ihre Hände im Spiel, werden die Attacken häufig mit sogenannten Bot-Netzen ausgeführt: einer großen Zahl mit einem Virus infizierter Computer, die von einem Dritten kontrolliert werden können. Auch MediaZona wurde bereits angegriffen. „Und wir erwarten in Zukunft alle möglichen Virusattacken.“

Ihre Macht beruht auf der Erreichbarkeit, aber schon die einfachsten DDoS-Attacken können sie offline bringen.

CJ Adams, Produktmanager von Project Shield

Genau das könne die Achillesferse unabhängiger Medienangebote sein, meint CJ Adams. „Ihre Macht beruht auf der Erreichbarkeit, aber schon die einfachsten DDoS-Attacken können sie offline bringen“, sagt der 29-jährige Produktmanager von Project Shield, einer Google-Initiative zum Schutz unabhängiger Nachrichten-Sites, Menschenrechtsgruppen und Nichtregierungsorganisationen. Google ermöglicht es betroffenen Websites, den Traffic durch die firmeneigene Infrastruktur zu leiten, und schwächt Attacken ab, indem es den „schlechten“ Traffic herausfiltert. Das Sicherheitsunternehmen Cloudflare betreibt ein ähnliches Angebot namens Project Gallo.

Nun sitzen Aljochina und Tolokonnikowa in der New Yorker Wohnung am Tisch. Der eklektische Einrichtungsstil — Gitarren und ein Keyboard, überall Kunstwerke, eine Ecke mit einem Projektor, einer Leinwand und einem Zebrafell an der Wand – ist typisch für Brook-lyn. Aljochina isst ein Ei, während Tolokonnikowa sich in einen Chefsessel kuschelt und an einem Stück Karottenkuchen mümmelt. Wersilow sitzt am Tisch, arbeitet an seinem Macbook und sagt hin und wieder etwas, wenn er von Aljochina und Tolokonnikowa gebeten wird, etwas zu klären. Das Projekt Pussy Riot mit seiner Pop-Punk-Ästhetik bot der Gruppe eine Plattform, die Welt mit den innenpolitischen Problemen der Russischen Föderation zu konfrontieren; ob sie mit den Mitteln des Journalismus eine Veränderung herbeiführen können, steht auf einem gänzlich anderen Blatt.

Am Ende des Wohnblocks, in dem die drei sich gerade aufhalten, befindet sich ein großes Wandgemälde mit dem Namen When Woman Pursue Justice (Wenn Frauen Gerechtigkeit üben). Auf ihm ist eine Reihe prominenter Aktivistinnen zu sehen. Darunter auch Shirley Chisholm, die erste Afroamerikanerin, die in den US-Kongress gewählt wurde, und die erste, die am Rennen um die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten teilnahm. Chisholm hat sich selbst „einen Katalysator des Wandels“ genannt — eine Verbeugung vor jenen, die ihr nachfolgen sollten.

Dass Wersilow, Aljochina und Tolokonnikowa hier gelandet sind, hat Symbolcharakter. Mit ihrer Arbeit sehen sie sich in der Tradition von Frauen wie Chisholm. „Ich hoffe, in 20 Jahren ist das Geschichte, was gerade geschieht“, sagt Aljochina. „Und wenn Leute sich das ansehen, werden sie zum Schluss kommen, dass diese Art zu leben, diese Art ein Land aufzubauen, einfach nicht richtig ist. In meinen Augen dient vieles von dem, was wir tun, dem geschichtlichen Gedenken. Der Erinnerung.“ 

GQ Empfiehlt