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Unter Magiern: Wie Magic zum erfolgreichsten Kartenspiel der Welt wurde

von Dominik Schönleben
Wer „Magic: The Gathering“ spielt, braucht keine 3D-Grafik, nur Pappkarten und Kreativität. Trotzdem ist es heute eines der wichtigsten Games der Welt. Wie ist das möglich? Nahaufnahme eines Phänomens.

Patrick Chapins Mittelfinger zittert unkontrolliert. Etwas umständlich klemmt die Spielkarte zwischen drei Fingern seiner rechten Hand, vibriert leicht, als er sie niederlegt. Aufrecht wie ein Zenmeister hockt er auf dem abgenutzten Teppichboden, die Beine zum Lotussitz ineinandergeschlungen. Ein hypernervöser Guru, hier in der Vorhalle eines Konferenzzentrums in Nizza, Frankreich, am Abend vor dem großen Endspiel. Als würde er versuchen, durch die strenge Sitzposition das letzte bisschen Kraft und Spannung zu mobilisieren, die sein Körper aufbringen kann.

Es ist nicht sein erstes Mal. Patrick Chapin, 34, aus Denver, stand schon 2007 im Finale der Weltmeisterschaft, die die größten Helden und Meister des Kartenspiels „Magic: The Gathering“ jährlich austragen. Damals unterlag Chapin, doch ansonsten hat er in den knapp 18 Jahren seiner Spielerkarriere fast alles erreicht. Stand in den Finals von fünf sogenannten Pro Tours, den Grand Slams der Magic-Szene, gewann eins. Erreichte dreimal das Grand-Prix-Endspiel und wurde 2012 in die Hall of Fame aufgenommen, die Liste der erfolgreichsten Spieler aller Zeiten. Rastlos bleibt er trotzdem, denn da ist noch eine Sache, die er abhaken will auf seiner Achievement-Liste: den WM-Titel. Den Nachweis, der offiziell beste „Magic: The Gathering“-Spieler der Welt zu sein. Darum geht es jetzt und hier.

Beim Begriff Sammelkartenspiel denken die meisten ja zuerst an Pokémon, den Stoßtrupp japanischer Kindchenschema-Monster, die Ende der 90er-Jahre zu unerwarteten Popstars wurden. So viel Strahlkraft und Ikonenhaftigkeit hat „Magic: The Gathering“ noch nicht erreicht — trotzdem gilt es heute, 22 Jahre nach der Markteinführung, als erfolgreichstes Sammelkartenspiel der Welt.

Allein zwischen 2008 bis 2012 soll sich, laut Angaben des Herstellerkonzerns Hasbro, der weltweite Jahreserlös mit Magic-Karten von 100 auf 200 Millionen Dollar verdoppelt haben. Nach einer Marktanalyse des Branchendiensts ICv2 ist das Spiel in den USA seit 2010 das umsatzträchtigste sammelbare Spiel — 2009 lagen Pokémon und Yu-Gi-Oh! noch vorne. Offiziell gibt es weltweit 20 Millionen Spieler, die sich in mehr als 6800 Stores jeden Freitagabend zum Turnier treffen. So stark wird der Zockerdiskurs heute von digitalen Games aller Art dominiert, dass die Erkenntnis extrem verblüfft, was für eine überaus kritische Masse ihre Spielkultur noch mit Karten aus reiner Pappe und noch reinerer Imagination pflegt.

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Inhaltlich hat Magic sich immer an den klassischen Fantasy-Themen bedient. Gothic-Horror, griechische Sagen, die ewige Eiszeit, „1001 Nacht“, ein riesiges mythisch-intertextuelles Panoptikum, am Ende vor allem eine ganz eigene, originäre Welt. In der mächtige Magier — verkörpert von den Spielern — gegeneinander Krieg führen, versteckt hinter heraufbeschworenen Armeen oder Festungen. Die Grundregeln klingen banal: Vom Start weg hat jeder 20 Lebenspunkte, es geht darum, das Konto des Gegners auf null zu bringen, mithilfe von Kreaturen und Zaubersprüchen. Wer die entsprechenden Karten ausspielen und dem Kombattanten so Punkte abjagen will, braucht Mana, den geheimnisvollen Treibstoff von Magic, den man aus den sogenannten Ländern bekommt. Und so weiter.

Was für Außenstehende erst einmal wie formelhafter Fantasy-Quark wirkt, ist nur die Basis für eine Spielwelt, die in sich kaum komplexer, poetischer und vor allem intelligenter sein könnte. 60 bis 90 Minuten dauert eine Magic-Partie, keine verläuft wie die andere, jeder Spieler tritt mit eigener Taktik und Persönlichkeit an. Kein Poker, kein „World Of Warcraft“, viel besser. Nicht nur das derzeit größte Kartenphänomen der Welt, auch das am wenigsten berechenbarste.

An diesem Winterwochenende jedenfalls haben sich die besten Spieler der Welt in Nizza versammelt. Die 21. WM, die nach den letzten Turnieren in Rom, dem japanischen Chiba, San Francisco, Seattle und Amsterdam nun an der Côte d’Azur stattfindet. Knapp 300 Teilnehmer aus 72 Ländern, viele von ihnen Magic-Leistungssportler, die vom Spielen leben.

Reihe an Reihe sitzen sich die vierköpfigen Teams an den mit schwarzem Stoff bespannten Tischen gegenüber, der riesige Saal des Kongresszentrums Acropolis in Nähe der Strandpromenade ist vom monotonen Klickern der Karten erfüllt, das von den Wänden widerhallt wie die Kau- und Zirpgeräusche einer besonders hartnäckigen Heuschreckenplage. Was man oft nur überrascht und theoretisch feststellt, nämlich, dass Magic vom kleinen Spaß für rollenspielüberdrüssige Nerds längst zum weltweiten Phänomen geworden ist — hier in Nizza kann man es fast körperlich erleben.

Shahar Shenhar, der bübchenhafte Shootingstar und amtierende Weltmeister aus Israel, beugt sich zu seinem Teamkameraden herüber, um ihn beim Spielzug zu beraten. Shenhar ist der Einzige, der sich gleichzeitig für die Einzel- und die Mannschaftswertung qualifiziert hat. Patrick Dickmann, der Newcomer der deutschen Magic-Szene, ist mit seinem Team dagegen schon in der Vorrunde ausgeschieden. Die Zeiten um die Jahrtausendwende, in denen der Kölner Kai Budde seine Nationalmannschaft zu einer der erfolgreichsten, meistrespektierten Turniergrößen gemacht hatte, sind vorbei.

Die letzte Pro Tour hat Patrick Chapin gewonnen, der amerikanische Champion, sich so für die WM qualifiziert, im Halbfinale den Japaner Kentaro Yamamoto geschlagen — und jetzt, ja, jetzt sitzt er da. Auf dem Teppichboden, bei der letzten Generalprobe. Und es sieht nicht gut aus. Es wirkt leicht hektisch, wie er die Karten dreht, um seine Angriffe zu signalisieren. Immer wieder wischt er sich übers Gesicht und den Dreitagebart, während sein Trainingspartner souverän kontert. Irgendwas stimmt nicht mit der Taktik. Chapin beißt sich in den Daumennagel. Legt einen Teil der Karten auf den Ablagestapel, den „Friedhof“, wie er in Magic genannt wird. Das Testmatch entwickelt sich zum Desaster.

Teamkameraden haben die zwei am Boden kauernden Spieler umringt, werfen sich Insiderwitze zu: „Es gibt quasi unendlich viele Entscheidungen, wenn man Brainstorm spielt.“ Chapin erwacht kurz aus der Konzentration: „Nur 64!“ — „Nein, viel mehr.“ — „Vielleicht für einen Spieler deines Kalibers!“ Alle lachen. Auch Chapin selbst, doch es klingt bemüht. Was die Stunde des Triumphs werden sollte, scheint auf einen Reinfall rauszulaufen. Aber: nicht aufgeben. Magic ist alles Mögliche. Aber nicht nur ein Spiel.

Patrick Chapins Leidenschaft hat tiefe Wurzeln. Er wächst in der Nähe von Detroit auf, ist als Kind in den Achtziger- und Neunzigerjahren in sieben verschiedenen Sportteams. Dann zwingt ihn eine Verletzung zur Pause. Um ihn während der Rehabilitation abzulenken, zeigt sein Cousin ihm ein neues Spiel. Die Karte mit dem schuppigen, wurmartigen Drachen, der mit ohrenbetäubendem Getöse durch den Wald schlingert, reicht, um ihn anzufixen.

„Als ich zum ersten Mal den Craw Wurm sah, wusste ich, dass Magic einfach das Coolste auf der Welt ist“, erinnert sich Patrick Chapin an den heiligen Erstkontakt mit der neuen Welt. Der 14-Jährige ist so begeistert von dem Spiel, dass er auf der Fahrt in den Familienurlaub anfängt, eigene Karten zu basteln, um mit seinen Geschwistern zu spielen. Er kehrt nie wieder zum Sport zurück. In der Kleinstadt, in der er aufwächst, fühlt er sich unverstanden, unterfordert. Unter Magic-Gleichgesinnten ist alles anders: „Sie sprachen mit mir wie mit einem Erwachsenen, sie brachten mir Respekt entgegen.“ 1996, mit nur 16 Jahren, qualifiziert Chapin sich für die erste Pro Tour, wird gleich Dritter. Die nächsten Jahre werden für ihn ein einziges Abenteuer, er reist von einem Turnier zum nächsten, gilt als erfolgreicher, aufstrebender junger Spieler, als Superstar von morgen. Sein Erfolg endet jäh. Als im Jahr 2002 herauskommt, dass er mit Drogen gehandelt, mehr als 10.000 Tabletten Ecstasy verkauft hat, muss Patrick Chapin ins Gefängnis.

Es werden die härtesten vier Jahre seines Lebens. Er verbringt einen Monat in Isolationshaft, wird unbeabsichtigt in einen Gefängnisaufstand verwickelt, hungert. Allein fängt Chapin dann irgendwann an, sich Magic-Partien auszudenken. Zwei Sets Pokerkarten hat er, mit zusätzlichen Jokern und Königen bringt er sie auf Größe eines Magic-Decks. Er entwickelt neue Techniken, neue Decks, spielt in endloser Wiederholung gegen sich selbst. „Ich schrieb Briefe an Leute draußen, teilte ihnen die neuen Strategien mit, die ich entwickelt hatte“, sagt er. „Und sie gewannen Turniere damit.“ Eine verblüffende Real-Life-Version von Stefan Zweigs „Schachnovelle“, in der ein Nazi-Gefangener im Kopf Schachpartien gegen sich selbst führt, um nicht durchzudrehen.

Andere Magic-Profis beschreiben ihn heute als brillanten Mathematiker, inklusive der Prise Wahnsinn, die ihn auch komplexe Probleme ohne Papier und Bleistift lösen lässt. Mit einer überraschenden Strategie meldet er sich nach der Entlassung aus dem Gefängnis zurück, rückt an die Spitze der Weltrangliste, qualifiziert sich für die Weltmeisterschaft 2007, mit einem Deck, das er poetisch Dragon Storm nennt. Er verliert das Finale. Daran, dass Magic ihm gewissermaßen das Leben gerettet hat, ändert das nichts.

Die Turnierszene hat sich in der Zeit, die Chapin im Gefängnis verbracht hat, radikal verändert. Knapp 15 Jahre nach der Erstveröffentlichung ist das Spiel vom Liebhaberding, vom Schulpausen- und Küchentisch-Zeitvertreib ins nächsthöhere Universum geschossen: Vielleicht nicht in Europa, aber in den USA ist es möglich geworden, Magic nicht mehr nur als Hobby zu sehen, sondern als Beruf. Die Preisgelder bei den großen Turnieren liegen schon 2007 bei Gesamtsummen von über 200.000 Dollar, heute ist es teilweise schon ein Vielfaches davon. Spieler können praktisch von einer Konkurrenz zur nächsten reisen, damit ihren Lebensunterhalt verdienen.

Das Spiel erfindet sich immer wieder neu. Wenn man denkt, dass man es verstanden hat, verändert es sich.

Mark Rosewater, Magic-Head-Designer

Das ist nicht der einzige Wandel, den Magic über die Jahre durchlaufen hat: Wenn man heute eine Karte aus „Alpha“, der ersten Edition von 1993, neben eine Karte aus dem aktuellen Block „Khans Of Tarkir“ legt, erkennt man kaum noch, dass sie aus demselben Spiel stammen. Auch der Plan der Kaffeetischbanalität Monopoly wird ja alle paar Jahre durch ein Redesign geleiert, bei Magic jedoch ist die Veränderung alles andere als rein oberflächlich-ästhetisch.

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In Magic steht jeder neue Block für eine neue Mythologie, eine neue Hintergrundgeschichte. Immer wieder hat sich das Spiel visuell und mechanisch an die Standards, Sichtweisen und Plot-Geschmäcker neuer Generationen angepasst, mehrfach die Grundregeln revidiert, neue Kartentypen hinzugefügt, Layouts überarbeitet. Eine popkulturelle Corporate Identity, die ihren Zauber — in einer Ära der sich immer stärker beschleunigenden Software-Updates — nur dadurch selbst erhalten konnte, dass auch sie sich ständig weiterbewegt hat.

„Das Spiel erfindet sich immer wieder neu“, sagt Mark Rosewater, Chefdesigner bei der Herstellerfirma Wizards Of The Coast. „Wenn man denkt, dass man es verstanden hat, spätestens dann verändert es sich.“ Rosewater, 47, war in den letzten 18 Jahren einer der Katalysatoren, auch gegen die Widerstände, mit denen man bei einer solchen Spielergemeinde rechnen muss. „Ich habe Sachen vorgeschlagen, für die mich andere für verrückt erklärt haben. Ein Jahr später kommen dieselben Leute dann an und betteln: ,Gib uns mehr davon!‘ Schon witzig.“

Die erste Version des Spiels wurde vom Mathematiker Richard Garfield — Ururenkel des US-Präsidenten James A. Garfield sowie angeblich Großneffe des Erfinders der Büroklammer — während dessen Studienzeit entwickelt. Er zog sich früh aus dem Magic-Business zurück, beteiligt sich nur hin und wieder am Design einzelner Editionen.

Der Magic-Erfinder Richard Garfield im WIRED-Germany-Interview.

Mark Rosewater wiederum, der zuvor für das von Wizards Of The Coast herausgegebene Fanmagazin The Duelist Rätsel geschrieben hatte, stand 1996 vor einer schweren Entscheidung: Sollte er weiter seinen Traum verfolgen, in Hollywood Drehbuchautor zu werden (er schrieb unter anderem für die Serie „Roseanne“) — oder hauptberuflich versuchen, dieses kleine, obskure Fantasy-Kartenspiel zum Erfolg zu führen? Die Freunde, die er vom Magic-Spielen kannte, hielten es für die Chance seines Lebens. Alle anderen rieten ihm natürlich ab.

Rosewater ist seit 2003 sogar Chefdesigner, gilt heute als das öffentliche Gesicht von Magic. Er bloggt auf der offiziellen Website, nimmt auf der Autofahrt zur Arbeit Podcasts auf, in denen er die neuen Designs diskutiert. Fans erzählen sich, dass Rosewater — wenn er da ist — stets für eine kurze Unterhaltung nach unten kommt, sobald man am Empfang seines Büros in Renton, Washington, nach ihm fragt.

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Viele Kollegen und Spieler glaubten im Lauf der Jahre, die vielen Veränderungen könnten das Spiel auf Dauer zerstören — dabei waren sie es gerade, die Magic Leben eingehaucht haben. Rosewater behielt Recht, bis auf einmal. 1998 kam es zum legendären „Urza’s Saga“-Desaster: ein neues Set mit vielen guten Ideen, aber nicht ausgewogen genug. Was dazu führte, dass einzelne Spieler bei Turnieren schon in der ersten Runde gewannen, bevor ihre Gegner überhaupt am Zug waren. „Mein Team und ich wurden ins Büro des Firmenpräsidenten zitiert“, erinnert sich Rosewater, „und er sagte: ,Wenn so was wieder passiert, seid ihr alle gefeuert.‘“

Der Prozess von der Planung bis zu letzten Abnahme einer neuen Magic-Edition, damals wenige Monate, dauert heute drei Jahre. Nur die Entwicklung eines Triple-A-Videospieltitels nimmt so viel Zeit in Anspruch.

Ähnlich wie die Superhelden-Comics von Marvel oder DC gehört die Magic-Hintergrundwelt zu den popkulturellen Sphären, die ursprünglich für eine Nische gedacht waren, heute aber auf dem Weg in den Mainstream sind. 2014 unterschrieb die Firma Hasbro — der Wizards Of The Coast seit 1999 gehört — sogar einen Vertrag mit 20th Century Fox für einen „Magic: The Gathering“-Film. Ein Blockbuster-Kinoerfolg würde das Spiel wohl endgültig zum öffentlichen Eigentum machen, das auch für Kinderpullis und Hamburger-Aktionsmenüs gut ist — es könnte eine ähnlich einschneidende Veränderung werden wie einige Designkapriolen der Vergangenheit. Und ähnlich riskant.

Historische Würde, antiquarischen Sammelwert hat Magic ja längst. Die teuerste Karte, der „Black Lotus“, wurde in perfektem Zustand 2013 bei einer Auktion für fast 24.000 Euro versteigert. Abgenutzt bekommt man sie schon für knapp 2000 Euro.

Mindestens 450 Euro braucht man auch, um das Deck nachzubauen, mit dem der zitternde Patrick Chapin an diesem Nizza-Wochenende in sein zweites WM-Finale geht. Das ist nicht nur Taktik und Routine. Das ist Kunst. „Ich wollte niemals wie ein professioneller Pokerspieler werden“, sagt Chapin. „Ich wollte mehr wie ein Schauspieler, Musiker oder Schriftsteller sein.“

Nicht nur das Design, auch das Spielen ist hier ein kreativer Prozess: Aus mehr als 14.000 verschiedenen Karten stellt sich jeder Spieler sein Deck zusammen — Magic macht seine Spieler selbst zu Designern, lässt sie bestimmen, wie sie die Partie erleben, welche Varianten oder Formate sie selbst entwickeln wollen. Eine Komplexität, die intelligente, kreative Menschen anzieht. Den reinen Konsumenten und Eskapisten wird das tendenziell zu anstrengend. In Chapins Jugend galten Spieler mit solchen Idealen noch eher als Außenseiter und Spinner, mittlerweile verdienen sie gute Preisgelder (oder als Coder noch bessere Gehälter). „Spiele sind cool geworden“, sagt Chapin, wenn er an die Konflikte von früher zurückdenkt. „Es ist heute okay, klug zu sein.“

Und so sitzt er dann, am großen Sonntag, sieben Jahre nach seinem ersten Versuch, wieder im Finale der Weltmeisterschaft. Sein Gegner ist der Titelverteidiger, der Israeli Shahar Shenhar. Shenhar trägt Hoodie, wie die meisten hier. Chapin tritt in einem glänzend schwarzen Anzug an. Das Jackett hängt er bald über den Stuhl, die Form ist unter diesen Umständen kaum noch zu wahren.

Chapin muss die nächsten zwei Partien gewinnen, wenn er noch eine Chance auf den Titel haben will. Zwei Niederlagen stehen schon gegen ihn. Und, wie schon im Training am Vorabend, hat er große Schwierigkeiten, die Strategie seines Gegners zu kontern.

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Chapin greift nach der Starthand. Er hat sie schon einmal getauscht, darf deshalb nur eine Karte weniger ziehen. Ein schmerzender Nachteil. Unruhig tippen die Daumen immer wieder auf die Karten. Er führt die Hand zum Hals, löst die Krawatte. Legt sein Blatt zurück auf den Tisch, verdeckt. Und öffnet auch noch den oberen Hemdknopf. Greift nach seinem Kartenstapel, rückt ihn noch mal gerade, obwohl er schon perfekt steht. Das Match beginnt. Chapin kämpft verbissen. Sucht nach der Karte „End Hostilities“, mit der er Shenhars Angriff noch abschmettern könnte. Deckt mit seinem „Courser Of Kruphix“ eine Karte nach der anderen von seinem Deck auf. „Abzan Charm“, „Caves Of Koilos“, wieder „Abzan Charm“. Während Shenhar sich lässig zurücklehnt, gräbt Chapin immer tiefer in sein Deck hinein.

Die letzten fünf Mana sind offen, um „End Hostilities“ zu spielen. Er findet sie nicht. Stattdessen: „Llanowar Wastes“ und „Read The Bones“. Ausweglos. Chapin rechnet ein letztes Mal durch, sucht nach dem Out, weiß, dass es keines gibt. Shenhars nächsten Zug würde er nicht überleben. Dann streckt er die Hand aus. Und ergibt sich.

„Ich möchte der erste Spieler werden, der als über Fünfzigjähriger ins Finale der Pro Tour kommt. Ich möchte Spieler des Jahres werden. Ich war im Finale von fünf Pro Tours, aber ich will zehn schaffen“, sagt Patrick Chapin, wenn man ihn nach der Niederlage fragt, was er noch erreichen will.

Also doch nicht nur Kunst. Auch Kampf. Irgendwie beides. Die Balance, die das Magic-Universum trägt, in dem Chapins Karriere als professioneller Spieler eigentlich erst begonnen hat. Das größte Combat, die dunkelste Stunde seines magischen Parallellebens, hat er eh schon gemeistert. „The Innovator“ wird er in der Szene genannt. Man könnte auch „The Survivalist“ zu ihm sagen. 

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