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„Fuck it, ich lasse mir meine Offenheit nicht kaputtmachen!“: Die Initiatorin des Hashtags #aufdieliebe im Interview

von GQ
Plötzlich tauchte am Dienstagabend das Hashtag #aufdieliebe in den Twitter-Trends auf. Als Reaktion auf die Attentate in Brüssel. Erfunden hat es Kathrin Weßling, Social-Media-Redakteurin bei Spiegel Online. Aus Versehen. Ein Interview über die Macht und Ohnmacht von Social Media.

WIRED: Du hast am Dienstagabend ein Bild von dir mit Weinglas auf Facebook gepostet...
Kathrin Weßling: Moment, es war Wodka auf Eis!

WIRED: Okay. Und dazu hast du geschrieben: „Auf die Liebe, sich zuhören, sich & andere respektieren, ehrlich sein, heulen, schreien, auf über alles reden und trinken, auf küssen und Konfetti, auf das Leben und die Freiheit.“ Hast du mit der Reaktion gerechnet, die dann folgte?
Weßling: Nein, Quatsch, mit sowas rechnet man nicht. Und es war auch nicht berechnend gemeint. Es entstand eher aus dem Gefühl heraus, das ich auch schon nach Paris und allen anderen Attentaten der letzten Monate hatte, wenn ich nach Hause in meine leere Wohnung gekommen bin: dieses Gefühl, dass ich den ganzen Tag Leid und Hass und Terror gesehen habe und dass ich jetzt aber genau das Gegenteil will und brauche und nicht einsehe, dass das mich und alle anderen so vergiftet. Denn das ist es ja, was der IS will: dass wir Angst haben, uns isolieren, keine Freude oder Liebe mehr für etwas empfinden. Klingt pathetisch, oder? Ist aber eben genau der Kern.

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WIRED: Wie hat sich die Geschichte entwickelt? Dein erster Post stand auf Facebook, dann wurde es ein Hashtag auf Twitter, der selbst am Morgen danach noch in den Trends auftaucht.
Weßling: Ein Freund hat genau das Bild, das ich bei Facebook von mir gepostet hatte, nachgestellt. Und dann kamen immer mehr, erst in den Kommentaren zu meinem Facebook-Post. Die ersten zwei, drei habe ich noch gefragt, ob ich ihre Bilder posten darf. Aber dann hat es sich auch schon irre schnell verselbstständigt. Ich habe nur noch, um alles zu sammeln, den Hashtag angegeben, und darauf hingewiesen, dass es jetzt auch bei Twitter weitergeht, weil da auch schon Bilder kamen. Der Rest ist eben dieses ominöse Internet.

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WIRED: Warum glaubst du, dass sich so viele angeschlossen haben?
Weßling: Weil es ja nicht nur mir so geht! Sicher: Die Anschläge waren nicht in Deutschland. Aber das ist völlig egal, denn der IS zielt auf die EU, zielt auf die Demokratie, auf die Freiheit. Das betrifft jeden von uns. Wer immer noch glaubt, dass das Dinge sind, die bloß andere betreffen, sieht die politischen Entwicklungen nicht realistisch. Und genau das ist etwas, das viele von uns spüren und ahnen. Und was uns Sorgen macht. Das alles ist kein „Problem“, das uns nicht betrifft. Aber wie kann man damit umgehen? Ich glaube, viele gehen nach solchen Ereignissen nach Hause, sitzen dort alleine oder zu zweit oder mit ihrer Familie und fragen sich: Bin ich eigentlich alleine mit meiner Angst? Darf ich die eigentlich fühlen? Hab ich ein Recht darauf? Und trotzdem ist da auch dieser Trotz, dieses „Fuck it, ich werde mir meine Liebe und mein Vertrauen und meine Offenheit nicht kaputtmachen lassen“. Genau darum geht es bei dem Hashtag. Und genau diesen Nerv hat es wohl auch getroffen.

WIRED: Alkohol oder nicht Alkohol beim Prosten ist dir egal?
Weßling: Völlig egal. Sehr viele haben auch mit Tee, Luft oder mit gar nichts angestoßen. Es geht nicht ums Trinken. Es geht darum zu sagen: Ich stoße heute auf die Liebe an. Nicht auf den Hass. Egal, womit.

WIRED: Das Hashtag #aufdieliebe tauchte am Dienstagabend in den Twitter-Trends irgendwann dann auch über dem Hashtag #StopIslam auf.
Weßling: Ja, es hat kurzzeitig dieses unsägliche Hashtag abgelöst und ist auch international übersetzt worden. Und das ist auch gut so, denn ich weiß langsam nicht mehr, wie man den Leuten bloß erklären soll, dass der Islam und das, was der IS macht, nicht das gleiche sind.

WIRED: Wie gut taugen Social-Media-Plattformen wirklich als Solidaritätsmedium?
Weßling: Schwierig zu sagen, aber stellen wir uns das doch einmal umgekehrt vor: In Deutschland passiert so etwas. Wie würden wir uns fühlen, wenn das Netz schweigt? Und wie würde es sich anfühlen zu sehen, dass auf der ganzen Welt Menschen in Gedanken bei uns sind? Ich finde, das beantwortet es ganz gut: Solidarität hat zunächst (!) nicht das Ziel, direkte Hilfe sein zu können. Aber es hilft zu wissen, dass man nicht alleine ist. Darum geht es. „Richtige“ Hilfe muss selbstverständlich ganz woanders als bei Twitter stattfinden.

Wer das auf Selbstbeweihräucherung reduziert, hat das Internet nicht verstanden.

WIRED: Was bringen all die „Je suis Charlie“-, „Je suis Paris“- oder „Je suis Bruxelles“-Tweets wirklich? Oder das Leute ihre Facebook-Profile einfärben.
Weßling: Die Antwort ist nicht so schwarz-weiß, wie einige das gerne glauben würden: Natürlich verhindert damit niemand einen Anschlag. Niemand kann so als einzelne Person etwas ausrichten. Es wirkt im schlimmsten Fall sinnlos, selbstreferenziell. Aber die etwas tiefere Wahrheit ist: Das, was der IS am meisten will, ist, dass wir als freies, demokratisches Land und auch andere EU-Mitgliedsstaaten Angst haben, uns isolieren, uns verkriechen und misstrauisch und voller Argwohn werden. Das ist nämlich ihre Nährlösung: Hass und Angst. Indem Menschen Solidarität zeigen – und es ist doch egal, wie –, zeigen wir auch, dass wir das nicht hinnehmen. Dass wir zuschauen. Dass wir Anteil nehmen. Und mehr kann so etwas nicht leisten. Aber ich finde das schon ganz schön viel.

WIRED: Aber du hältst die Solidaritätsbekundungen via Social Media trotzdem für wichtig?
Weßling: Die Antwort findet man in all den tausenden Reaktionen auf das Hashtag. Das, was ich am allerhäufigsten gelesen habe, war: Dankbarkeit dafür, dass mal die Liebe im Vordergrund steht. Das Zusammensein mit Freunden – wenn auch bloß virtuell. Und zwei erhobene Mittelfinger Richtung Terror und Fremdenhass, Richtung Nazis, AfD und all dem. Ein Anstoßen auf die Liebe, egal, wo man gerade ist. Das Netz schert sich nämlich schon immer einen Dreck um Länder- und Sprachgrenzen. Und genau darum geht es. Wer das reduziert auf Selbstmitleid, Selbstbeweihräucherung, Gleichgültigkeit oder Dummheit, hat das Internet nicht verstanden und damit die Menschen nicht und das, was ein Kollektiv bewegen kann. Amen. 

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