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Machines of Loving Grace / Algorithmen, die unbekannten Wesen

von Jürgen Geuter
Algorithmen sind überall. Jeder hat ständig mit ihnen zu tun, viele fürchten sie, doch die wenigsten verstehen tatsächlich, wie sie funktionieren. In seiner neuen Kolumne für WIRED Germany durchleuchtet Jürgen Geuter die mathematischen Problemlöser, die unsere Welt zu lenken scheinen.

Der Titel dieser Kolumne leitet sich von „All Watched Over by Machines of Loving Grace“ ab. So hieß eine BBC-Doku-Reihe des Filmemachers Adam Curtis von 2011, und ein Gedichtband von Richard Brautigan aus dem Jahr 1967. Darin geht es um eine Welt mit fortgeschrittener Computer- und Steuerungstechnik — in der menschliche Arbeit unnötig geworden ist und die Menschen sich frei ihren Interessen widmen können. Doch Curtis kommt zu einem ganz anderen Schluss als Brautigan: Dass diese Versprechen nicht nur nicht eingelöst wurden, sondern dass die Maschinen unsere Sicht auf die Welt sogar verzerren, uns also keineswegs befreit haben.

Nicht nur industrielle Maschinen krempeln mit ihrer Kraft und Effizienz Produktionsprozesse um. Auch unsichtbare, ungreifbare Algorithmen beschleunigen und verändern heute nicht nur unternehmerische Prozesse und Abläufe, sondern bestimmen auch ganz direkt unsere individuellen und kollektiven Lebensrealitäten. Algorithmen steuern den Verkehr und komplexe Logistikketten entscheiden, welche Produkte gezielt für uns beworben und welche Menschen uns als neue Kontakte vorgeschlagen werden. Algorithmen scheinen eine externe Macht zu sein, die uns zunehmend dominiert, die finale Machtergreifung der Maschinen über uns Menschen. Das wahrgewordene „Terminator“-Universum.

Ein Algorithmus ist die Beschreibung des Vorgehens zum Lösen eines Problems.

Es wird Zeit, sich den Algorithmen zu widmen, die uns umgeben, sie zu durchleuchten und so besser in ihren direkten und langfristigen Auswirkungen zu begreifen. Doch bevor wir uns in späteren Folgen dieser Kolumne einzelnen Algorithmen und Algorithmenklassen zuwenden, um ihre Auswirkungen auf uns Menschen zu verstehen, ergibt es Sinn, zunächst auf den Begriff selbst zu blicken.

Als der persische Gelehrte al-Chwarizmi einst die Rechenregeln zusammenstellte, nach denen wir heute immer noch den Gesamtpreis unserer Brötchen aufaddieren, war nicht abzusehen, dass ein aus seinem Namen abgeleiteter Begriff 1300 Jahre später in aller Munde sein würde. Doch heute steht das Wort Algorithmus nicht mehr nur für die Regeln der Arithmetik, sondern ganz allgemein für eindeutige Beschreibungen des Vorgehens zum Lösen eines Problems. Die schriftliche Division ist ein Algorithmus, genauso wie das Suchkonzept von Google oder die Software, mit der uns Amazon immer wieder neue Produkte zu verkaufen versucht.

Die Maschinen tun, was sie wollen!

Seitdem die Digitalisierung explodiert, haben wir ein deutliches Bewusstsein für die Auswirkungen bekommen, die Algorithmen auf unser Leben haben. Das Digitale macht sie in ihren Ergebnissen direkt fühlbar: Facebook zeigt uns eben nicht alles an, was unsere Kontakte so tun, sondern nur, das, was „relevant“ ist. Aber wer entscheidet das? Auf welcher Basis? Und warum werde ich nicht gefragt? Aus diesem Unwohlsein hat sich eine große Algorithmenskepsis entwickelt, mit diversen Artikeln in Leitmedien und Büchern einflussreicher Menschen, die ungefähr so argumentiert: Diese Computer tun ohne menschliche Beteiligung irgendwelche Dinge, die niemand mehr verstehen oder kontrollieren kann, und gestalten dabei die Welt der Menschen. Ohne Aufsicht, ohne eine „echte“ Person, die noch einschreiten könnte. Diese Maschinen tun, was sie wollen!

Doch diese Kritik setzt auf einem nur allzu verbreiteten Missverständnis auf. Algorithmen sind eben nicht von Menschen losgelöst betrachtbar, die sie entwickelt haben.

Wir alle haben schon seit unserer Kindheit Algorithmen gelernt. Den Algorithmus, sich die Schuhe zuzubinden zum Beispiel. Im Kontakt mit anderen merkt man sehr schnell, dass es gar nicht den einen Algorithmus fürs Schuheschnüren gibt, sondern dass unterschiedliche Menschen die Schleifen ihrer Schuhe oft ganz unterschiedlich binden. Es gibt für kaum ein Problem den einen, perfekten Algorithmus zur Lösung, sondern zahllose, oft sehr unterschiedliche und trotzdem gleichwertige Lösungsweisen. Wenn ich zum Beispiel überprüfen möchte, ob zwei Worte gleich sind, kann ich die Buchstaben von vorne anfangend vergleichen. Ich kann dasselbe auch rückwärts tun. Ich kann vorher die Anzahl der Buchstaben der beiden Worte zählen und allein damit in vielen Fällen schon eine Entscheidung treffen. Es gibt unzählige Algorithmen, um das simple Problem, zwei Worte zu vergleichen, zu lösen.

Algorithmen fallen nicht vom Himmel, außer vielleicht, wenn sie kaputt sind und eine Drohne steuern sollen. Algorithmenentwickler nutzen all ihr Wissen, ihre Erfahrung, ihr Verständnis eines Problems und natürlich ihre Cleverness, um eine Lösung zu finden und diese möglichst klar aufzuschreiben. Dabei fließt ihre Sicht auf die Welt ins Design des Algorithmus' ein, und diese schließt eben auch Missverständnisse und Vorurteile mit ein. Deswegen versucht Online-Werbung, mir Bier oder Autos zu verkaufen, obwohl ich nicht trinke und Fahrradfahrer bin. Aber ich bin ein Mann und scheinbar glauben einige, dass Männer eben Bier und Autos mögen.

Algorithmen sind keine Wahrheitsgeneratoren.

Algorithmen leben nicht als Wahrheitsgeneratoren in irgendwelchen digitalen Wunderkisten. Mathematische Algorithmen können sich auf eine klar definierte Sicht der Mathematik stützen — unsere Welt aus Menschen, Entscheidungen, kleinen Kätzchen und Wackelpundding ist allerdings viel komplexer als diese. Und genau da liegt die Krux der Algorithmendebatte: Sie ignoriert den Einfluss, den die Entwickler haben.

Schon vor der Digitalisierung gab es überall Algorithmen außerhalb unserer Kontrolle, die unser Leben lenkten: Einen Bankkredit bekam auch früher nicht jeder und Schulnoten werden ebenfalls nach verhältnismäßig klar beschriebenen Regeln vergeben, Regeln auf die die Menschen, um deren Leben es bei der Zeugnisvergabe geht, keinerlei Einfluss haben. Dass Algorithmen heute vor allem auf digitalen Datenverarbeitungsmaschinen laufen, sorgt natürlich für andere Möglichkeiten der Personalisierung, der Geschwindigkeit und auch der Auslagerung individueller Verantwortung: Anstatt selbst die Entscheidung über einen Kreditantrag zu stellen, können Sachbearbeiter nun einfach mit „Der Computer sagt: Nein“ antworten.

Algorithmen bestimmen unser tägliches Leben mit allen Vor- und Nachteilen. Sie besser zu verstehen, ist nicht nur für unsere individuelle Lebensführung wichtig, sondern auch für die Diskussion darüber, ob bestimmte Arten von Algorithmen reguliert oder gefördert werden sollen. 

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