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Überleben auf einer treibenden Eisscholle: Der Abenteurer Alex Bellini im Interview

von Marius Münstermann
Der Italiener Alex Bellini hat schon in einem Kajak den Atlantik und den Pazifik überquert. Er ist quer durch die USA und 254 Kilometer durch die Sahara gelaufen. Im WIRED-Interview erklärt er, wieso er bald in einer Überlebenskapsel auf einem Eisberg durchs Polarmeer treiben möchte.

WIRED: Die wichtigste Frage zuerst: Wie bitte kommt man auf die Idee, sich auf einem Eisberg treiben zu lassen?
Alex Bellini: Der Entdecker Umberto Nobile überflog 1928 den Nordpol. Auf dem Rückweg stürzte sein Zeppelin ab — und krachte auf einen Eisberg, der losgelöst durch das offene Polarmeer trieb. Mobile und sieben weitere Crewmitglieder überlebten 49 Tage lang auf diesem Eisberg. Ich war fasziniert von der Vorstellung, wie ein Mensch mit einer derartigen Bewegungseinschränkung und dem kompletten Kontrollverlust zurechtkommen kann. Als ich zum ersten Mal von dieser Geschichte hörte, überquerte ich gerade den Pazifik in einem Kajak. Mir war also bewusst, dass man viele Faktoren, etwa die Wellen und das Wetter, nicht beeinflussen kann. Alles ist total abhängig von der Natur. Eigentlich bleibt einem bloß die Kontrolle über die eigenen Gedanken. Auf einem Eisberg zu treiben, statt sich selbstständig in einem Kajak fortzubewegen, ist zudem nochmal eine drastische Bewegungseinschränkung. Ich will es Nobile gleichtun, um selbst herauszufinden, wie ein Mensch solch eine Extremsituation bewältigen kann.

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WIRED: Für Ihr Abenteuer vertrauen Sie auf eine Überlebenskapsel. Was ist das für eine Kugel, in der Sie über Monate leben werden?
Bellini: Die Idee entstand nach dem Tsunami von 2004. Die Firma Survival Capsule produziert wasserdichte, stoßfeste Kapseln für zwei bis fünf Personen. Für mich entwickeln sie den Prototyp einer Zehn-Personen-Kapsel, mit einem Durchmesser von drei Metern. Die werden wir dann modifizieren: Alle Sitze bis auf einen raus, Schlafpritsche und Tisch rein und ein Trimm-Dich-Rad, damit ich während der langen Zeit fit bleibe.

Ich bin überzeugt, dass Abenteuer einen sozialen Wert haben können.

WIRED: Ihr Abenteuer hat auch einen idealistischen Anspruch, Stichwort Klimawandel.
Bellini: Natürlich ist ein Eisberg auch mit dem Thema Klimawandel verknüpft. Ich bin jedoch kein Wissenschaftler und will auch nicht als reiner Umweltschützer wahrgenommen werden. Ich bin ein Abenteurer. Ich bin überzeugt, dass Abenteuer einen sozialen Wert haben können. Ich will nicht beweisen, dass Eisberge schmelzen, das wäre trivial. Ich bin auf verschiedensten Gebieten mit Experten in Kontakt: Klimatologen, Meteorologen und auch Umweltschützer. Deren Expertise möchte ich an mein Publikum weitergeben.

WIRED: Wann geht es los?
Bellini: Zwischen Dezember und März, das hängt vom Wetter ab. Wir müssen warten, bis sich die großen Eisberge vom Packeis lösen. Je früher ich auf den Eisberg komme, desto mehr Zeit habe ich, mich an die Situation zu gewöhnen, bevor er zu schmelzen beginnt.

WIRED: Wie sieht denn der perfekte Eisberg aus?
Bellini: Er sollte eine flache Oberfläche haben und Richtung Süden treiben. Wegen der Schifffahrt werden die Bewegungen von Eisbergen ohnehin mit Satelliten verfolgt, immerhin das können wir also planen.

WIRED: Und wie kommen Sie auf den Eisberg?
Bellini: Ein Helikopter wird mich in der Kapsel auf dem Eisberg absetzen. Die vier Beine der Kapsel werden sich dann im Eis festschrauben.

WIRED: Auf Ihren Kajak-Reisen haben Sie Ihr Essen frisch aus dem Ozean geangelt. Was werden Sie in der Kapsel zu sich nehmen?
Bellini: Ich werde Lebensmittel für ein Jahr an Bord haben. Natürlich nehme ich viel Sportlernahrung mit, Powerriegel und so. Aber wirklich verzichten muss ich in dieser Hinsicht nicht. Die italienische Firma Argotec stellt mit einem speziellen Garverfahren keimfreie Astronautennahrung her. Von denen werde ich einige Portionen Pasta mitnehmen. Außerdem will ich einen Teil meiner Nahrung selbst produzieren. In einem kleinen Hochbeet werde ich Gemüse züchten. Da das Tageslicht zu dieser Jahreshälfte sehr begrenzt ist und die Kapsel ohnehin nur vier kleine Fenster hat, helfe ich mit LED-Leuchten nach.

WIRED: Fürs Essen ist also gesorgt. Gibt es eine Toilette?
Bellini: Bisher nicht. Ich habe aber verschiedene Schulen gebeten, ihre Schüler zu bitten, sich Lösungen zu überlegen. Ich will nicht, wie bei meinem Kajak-Reisen, einen Eimer ins Meer auskippen. Es sollte sich schon eine clevere Lösung finden. Kompostieren etwa, zur Energieerzeugung und zum Düngen des Gemüses.

WIRED: Kritiker Ihres Experiments sorgen sich um Ihre mentale Gesundheit, auch wegen der Isolation.
Bellini: Tatsächlich werde ich die Kapsel nur in Ausnahmefällen verlassen, etwa für Reparaturen oder um die Batterien der Webcams und der Kamera-Drohne zu wechseln. Drinnen werde ich viele Bücher lesen, um nicht abzuschweifen. Hauptsächlich wohl Fachliteratur, ich schreibe gerade an meiner Dissertation in Psychologie. Auf dieses Wissen habe ich bereits bei meinen früheren Abenteuern zurückgegriffen, etwa durch Meditation. Wir hoffen außerdem, eine stetige Interverbindung aufrechterhalten zu können, um mit der Außenwelt kommunizieren zu können. Ich bin offen für Ideen, mit denen ich mir die Zeit vertreiben kann, denn Zeit werde ich genug haben.

WIRED: Die akute Gefahr bei diesem Abenteuer besteht darin, dass der Eisberg eines Tages zerbricht.
Bellini: Ja. Die Kapsel ist zwar mit Sensoren ausgestattet, die Parameter wie die Temperatur, den pH-Wert des Wassers oder leichte Erschütterungen messen. Diese Messwerte helfen mir, vorauszusehen, wann es gefährlich werden könnte. Ich muss gedanklich topfit bleiben, denn wenn so ein Eisberg zerbricht oder umkippt, geht alles sehr schnell. Dann muss ich mich in meinem Sitz anschnallen.

WIRED: Und dann?
Bellini: Abwarten. Die Kapsel wird vermutlich ins Wasser geschleudert, sie kann aber auch problemlos an der Oberfläche schwimmen. Vielleicht lasse ich mich also noch für ein paar Monate neben dem zerbrochenen Eisberg treiben. Wie gesagt, ich bin vorbereitet für ein Jahr. Das ganze Projekt kann aber auch schon nach wenigen Wochen beendet sein.

WIRED: Sie haben in Mailand Finanzmanagement studiert. Wie kam es, dass Sie heute in Kajaks oder Überlebenskapseln Ozeane überqueren, statt bei einer Bank zu arbeiten?
Bellini: Ich war damals Anfang zwanzig. Mit der Zeit stellte ich mir vor, wie mein Leben wohl mit dreißig aussehen würde. Ich war erschüttert von der Vorstellung. Ich schmiss das Studium und überlegte, was ich mit meinem Leben anfangen soll. Ich komme aus einem Dorf am Fuße der Alpen, daher wohl meine Naturverbundenheit. Ich habe dann wieder viel Sport getrieben und bin schließlich einen Ultra-Marathon durch die Sahara gelaufen. Das war 1999, mein erstes Extremsportabenteuer. Seitdem hat es sich zu meinem Job entwickelt.

WIRED: Sie bezeichnen sich selbst nicht bloß als Abenteurer, sondern auch als Entdecker. Was kann ein Mensch in der globalisierten Welt von heute noch entdecken?
Bellini: Sich selbst! Für mich sind Entdecken und Abenteuer Fragen der inneren Einstellung. Es kommt nicht darauf an, was man tut, sondern wie man es tut, wie man mit gewissen Situationen umgeht.

Im Urlaub in Grönland wurde mir zum ersten Mal wirklich klar, auf was ich mich da einlasse.

WIRED: Die Abenteuer sind sicher nicht nur für Sie selbst eine Herausforderung, sondern auch für Ihre Familie.
Bellini: Absolut, der größten Herausforderung wird sich meine Frau Francesca stellen. Aber sie begleitet mich jetzt schon seit zehn Jahren bei meinen Abenteuern und wird auch dieses meistern.

WIRED: Sie haben zwei junge Töchter. Was erzählen Sie denen vor Ihrem Abenteuer?
Bellini: Meine Töchter sind fünf und drei Jahre alt. Denen musste ich erstmal erklären, was ein Eisberg ist. Unseren letzten Familienurlaub haben wir in Grönland verbracht, wo im Winter auch meine Reise beginnen soll. Dort konnten meine Töchter sehen, dass diese riesigen Eisberge auf dem Wasser treiben können. Auch mir wurde damals zum ersten Mal wirklich klar, auf was ich mich da einlasse. Ich bekam Angst, eine Riesenangst! Aber das konnte ich meinen Kindern natürlich nicht sagen, sonst würden sie mich niemals gehen lassen. Wir sprachen dann stattdessen darüber, wie wunderschön dieses Spektakel ist und dass wir alles dafür tun müssen, die Natur zu bewahren. Meine ältere Tochter half mir, mich wieder voll auf dieses Projekt zu konzentrieren. Sie sagte, mein Abenteuer sei eine gute Sache. 

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