Hinweis zu Affiliate-Links: Alle Produkte werden von der Redaktion unabhängig ausgewählt. Im Falle eines Kaufs des Produkts nach Klick auf den Link erhalten wir ggf. eine Provision.

11 irre Thesen zur Digitalisierung – und die Gegenthesen

von Gründerszene
Da hat sich ein Digitalisierungs-Kritiker offenbar seinen ganzen Frust von der Seele geschrieben. Harald Welzer ist 57 Jahre alt, Soziologe, Sozialpsychologe und Autor. Der Spiegel hat einen Auszug aus seinem neuen Buch veröffentlicht, in dem Welzer mit der „digitalen Diktatur“ abrechnet. Gründerszene hat sich mit 11 Zitaten aus seinem Text auseinandergesetzt.

#1 „Flüchtlingskrise, Kriege, Abhängigkeit von Rohstoffen bilden eine Kaskade von Problemen, von denen nicht ein einziges mit den Mitteln der Digitalisierung zu lösen ist.“

Schweres argumentatives Geschütz. Aber stimmt das eigentlich? Zumindest bei der Integration von Flüchtlingen könnte die Digitalisierung eine große Hilfe sein. Wie wäre es mit digitalen Sprachkursen, Kursen zum Berufseinstieg? Oder mit der Verwaltung der Daten von Flüchtlingen für einen besseren Überblick über individuelle Kenntnisse und Fähigkeiten jedes Einzelnen, um Integrations-Maßnahmen abzustimmen? Auch ärztliche Behandlung und Überprüfung mit digitalen Hilfsmitteln wäre denkbar. Ursache von Flucht und Kriegen sind meistens Regierungen, die Politik gegen ihre eigene Bevölkerung betreiben. Information, mehr Transparenz und Beteiligung durch digitale Medien können verhindern, dass solche Machtverhältnisse überhaupt entstehen. Durch digitale Hilfsmittel wird ein ökonomischer und intelligenter Einsatz von Rohstoffen möglich. In der Landwirtschaft wird zum Beispiel bereits heute per Satellit und künstlicher Intelligenz der Einsatz von Dünger auf ein Minimum beschränkt.

Gegenthese: Die Digitalisierung ist das mächtigste Werkzeug, um die „Kaskade von Problemen“ der Menschheit zu lösen.

#2 „Handeln Sie politisch, solange es den gesellschaftlichen Raum dafür gibt. Sichern und erweitern Sie diesen Raum, indem Sie politisch handeln.“

Der neue gesellschaftliche Raum ist das Internet. Hier hat jeder die Möglichkeit, seine Stimme zu erheben. Das ist oft unbequem. Manchmal auch unerträglich. Aber so sind wir Menschen. Wegschauen hilft nicht.

Gegenthese: Handeln Sie politisch. Im Internet.

#3 „Und schließlich, für diejenigen mit ein wenig krimineller Energie: In den USA gibt es bereits Bürgerwehren, die Drohnen abschießen, oder den Wettbewerb Camover zur Zerstörung von Überwachungskameras. Mit ein wenig Fantasie eröffnet sich ein ganzes Universum von Interventionen vom Google-Glass-Brillen- Zertreten (ihre Träger heißen übrigens im amerikanischen Volksmund ,Glassholes‘) bis zum Hacken smarter Häuser, in denen dann das Internet der Dinge hübsch verrücktspielt.“

Das sind dem Professor wohl einfach nur die Gäule durchgegangen.

Gegenthese: Keine Gewalt!

#4 „Am besten schmeißen Sie Ihr Smartphone überhaupt weg und besorgen sich – die gibt’s noch für Rentner – gute alte Handys, die nichts können.“

Im Schutze seiner behaglichen Eigentumswohnung und Pensionszusagen kann sich Herr Welzer das in seinem Alter ganz sicher leisten. Die meisten anderen Menschen, gerade junge Leute, sind darauf angewiesen, sich zu vernetzen. Die Zukunft wird digital. Ein Rückzug aus der digitalen Sphäre kommt einem ökonomischen und intellektuellen Selbstmord gleich und bedeutet einen Verzicht, die persönlichen Chancen zu nutzen und seine Zukunft zu gestalten.

Gegenthese: Testen Sie alle digitalen Möglichkeiten, die sich Ihnen bieten. Und entscheiden Sie sich für Ihre ganz persönliche Variante des digitalen Lifestyles.

#5 „Ich fühle mich von Shitstorms gegen mich in sozialen Netzwerken nicht betroffen, weil ich nicht in sozialen Netzwerken bin. Mir muss ein Nazi extra einen Brief schreiben, das machen aber nur die ganz alten. Sehr einfach.“

Glückwunsch. Das ist das Prinzip, nachdem sich Kinder beim Versteckspiel die Augen zu halten, weil sie denken, dass sie dann nicht entdeckt werden können. Funktioniert übrigens in den seltensten Fällen. Mag sein, dass ein 57-jähriger deutscher Professor in der Lage ist, sich einfach aus allem raus zu halten. Es gibt aber eine Menge Menschen, die auf Vernetzung und frei erhältliche Informationen wirtschaftlich angewiesen sind. Shitstorms können übrigens manchmal ziemlich erfrischend sein.

Gegenthese: Gerade ein Soziologie-Professor sollte in den Netzwerken vertreten sein. Ist ziemlich interessant dort.

#6 „Da die smarten Diktatoren die Prinzipien und Werte des Rechtsstaats nicht interessieren, werden sie alles daransetzen, sie zu umgehen, zu modifizieren, zu ersetzen, obsolet werden zu lassen.“

Die Frage ist, ob unser Rechtsstaat in seiner gegenwärtigen Verfasstheit in der Lage ist, die Probleme, die Herr Welzer so gerne gelöst sähe, in den Griff zu bekommen. Bis jetzt hat das noch nicht so gut geklappt. Die „smarten Diktatoren“ lassen ihre Kunden entscheiden, was ihnen wichtig ist. Das macht sie in den Augen eines Soziologen mit einer ausgeprägten pädagogischen Ader verdächtig. Ja, viele Grenzen werden sich durch die Digitalisierung verschieben. Aber darin liegt eine große Chance.

Gegenthese: Der Rechtsstaat wird sich durch den Druck der Digitalisierung verändern müssen. Aber nicht im Sinne der „smarten Diktatoren, sondern im Sinne der Nutzer.

#7 „Gegen die smarte Diktatur, die digitale Entlebendigung, muss man das analoge Leben setzen: Poesie, Musik, Sex, Liebe, alles, was das Leben ausmacht, sind analog, und es gibt sie nur offline. Was man für Geld nicht kaufen kann: gibt es nur offline. Was einem niemand wegnehmen kann: gibt es nur offline. Freiheit: gibt es nur offline.“

Nichts gegen Poesie, Musik, Sex und Liebe. Warum sollten wir darauf verzichten? Musik, Bücher und Gedichte erreichen online mehr Menschen als jemals zuvor. Und niemand kann ihnen das wegnehmen. Und zur Freiheit gehört auch die neue Freiheit im Netz.

Gegenthese: Analoges und digitales Leben müssen kein Widerspruch sein. Im Gegenteil. Beide Teile können sich auf wundervolle Art ergänzen.

#8 ;„Die Digitalisierung ist nichts als ein Beschleuniger des Konsums von Gütern und Dienstleistungen.“

Konsumkritik geht natürlich immer. Besonders bei Soziologen aus Deutschland, die sowieso schon alles haben. Aber was ist zum Beispiel mit Informationen, die uns überall und in jeder Sekunde zur Verfügung stehen? Was ist mit den neuen Kommunikationsmöglichkeiten? Was ist mit den neuen Geschäftsmodellen und Berufen, die entstehen, und gerade in Schwellenländer dazu beitragen, dass die Armut weltweit dramatisch abnimmt und ein neuer Mittelstand entsteht? Hat Herr Welzer vielleicht übersehen. Indien ist ja weit weg.

Gegenthese: Die Digitalisierung wird dazu beitragen, die Menschheit auf ein neues Wohlstandsniveau zu heben.

#9 „Konsum von Produkten und Dienstleistungen ist die zentrale Datenquelle. Hören Sie schlicht und einfach auf, sich das, was Sie brauchen oder zu brauchen glauben, online zu besorgen. Informieren Sie sich offline, vor allem: Kaufen Sie offline im stationären Einzelhandel ein, dort werden Sie nicht überwacht.“

Konsumkritik geht immer. Nochmal. Jetzt noch mit der Überwachungs-Dimension angereichert. Aber sie wird dadurch nicht relevanter. Ja, wir sollen Sachen im Netz kaufen. Und die Shops im Netz wissen annähernd, wofür wir uns interessieren. Aber kann man dadurch auf eine Totalüberwachung schließen? Macht uns Konsumverzicht zu besseren und freieren Menschen? Das sollte jeder Einzelne frei für sich selber entscheiden dürfen.

Gegenthese: Nutzen Sie vor Ihrer Kaufentscheidung die vielfältigen Informationen im Netz. Kaufen Sie, wo Sie wollen.

#10 „Google und all die anderen lösen doch ausschließlich Probleme, die wir nie gehabt haben, triviale Probleme. Das heißt: Für das Leben ist es total egal, ob die ,gelöst’ werden oder nicht. Anders verhält es sich mit nicht trivialen Problemen. Das sind zum Beispiel Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Gewalt, ungleiche Verteilung von Ressourcen, die Ausnutzung von Macht – Probleme, die die Geschichte der Menschheit durchziehen, ohne je gelöst worden zu sein.“

So kann nur jemand schreiben, der alles hat. Vielleicht kann sich der Professor einfach nicht vorstellen, dass Google für Menschen in Afrika oder China essentiell für ihr Wohlergehen und den Wohlstand ihrer Familien sein kann. Information ist Macht. Das spüren gerade die Menschen in Entwicklungsländern ganz deutlich. Die Digitalisierung ist eben mehr, als die Bücherbestellung bei Amazon und das Essen von Lieferheld. Ist vielleicht schwer zu verstehen, wenn man sich lieber bei einem guten Glas Wein in Ruhe in seine Bibliothek zurückzieht. Und hunderte Wissenschaftler von Weltruf arbeiten zum Beispiel gerade bei Google an der Lösung von nicht trivialen Problemen. Vielleicht sollte sich Welzer das einfach mal vor Ort anschauen, statt seine Kollegen pauschal zu beleidigen. Wenn wir eine gerechtere, friedlichere, freiere Welt schaffen wollen, dann haben wir jetzt durch die Digitalisierung die Chance dazu. Gleichmäßigere, gerechtere Verteilung von Wissen ist ein entscheidender Schritt auf diesem Weg.

Gegenthese: Wir sind durch die Digitalisierung in der Lage, die nicht trivialen Probleme der Menschheit zu bekämpfen, an die wir uns bis jetzt noch gar nicht herangetraut haben.

#11 „Das Leben ist analog. Beziehungen sind analog, Empathie, Liebe, Hass, Wut, Mitleid und Freude sind analog. Erinnern Sie sich stets daran, dass Sie im Netz Hilfe nur in trivialen Fällen bekommen; wenn es hart auf hart kommt, brauchen Sie richtige Menschen. Die da sind. Die mit Ihnen gemeinsam etwas machen. Mit denen Sie gemeinsam etwas machen. Lassen Sie sich nicht isolieren.“

Niemand hat jemals behauptet, dass die digitale Sphäre Liebe, Freude oder Freunde ersetzen kann. Aber vielleicht hilft sie dabei, mehr Empathie und Zuneigung für Menschen – auch außerhalb unseres Kulturkreises – zu entwickeln. Mehr Verständnis für Standpunkte, andere Sichtweisen. Wir lernen gerade die digitale Sprache. Besonders die junge Generation. Und wenn man genau hinschaut, dann kann man dabei zusehen, wie unsere analoges Leben eine digitale Entsprechung findet. Das wäre ein schönes Forschungsgebiet. Man darf sich natürlich nicht isolieren, wie es Herr Welzer uns rät.

Gegenthese: Die digitale Sphäre soll unser analoges Leben nicht ablösen, sondern bereichern. Jeder kann seinen Beitrag dazu leisten.

Dieser Artikel ist zuerst bei Gründerszene erschienen. Das Original findet ihr hier

GQ Empfiehlt
So funktioniert Putins Troll-Armee!

So funktioniert Putins Troll-Armee!

von Michael Förtsch