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Mobile Apps machen die Kluft zwischen Stadt und Land wieder größer

von Marcel Weiss
Apps sollen Menschen vernetzen, unabhängig davon, wo sie wohnen. Doch Dienste wie Uber, Allryder oder Citymapper, die zunächst nur in Städten starten, lassen den Abstand zwischen Metropolen und Umland in Wahrheit wieder wachsen.

Mit seiner „Long Tail“-Theorie hat der damalige WIRED-Chefredakteur Chris Anderson 2004 einen der wesentlichen Aspekte der digitalen Welt erfasst: Weil der Platz im Regal nicht mehr beschränkt ist, kann das Sortiment im Online-Shop sehr viel größer sein als im Laden um die Ecke. Siehe Spotify mit Millionen von Liedern oder Netflix mit mehr Filmen und Serien als jede herkömmliche Videothek. Ein Effekt davon ist laut Anderson, dass sich die Verteilung von Hits und Bestsellern im Vergleich zu denjenigen Büchern, Filmen und Musikalben ändert, die nur für wenige Menschen interessant sind. In der klassisch-stationären Handelswelt kamen letztere niemals in die Regale, weil der Platz bereits ersteren vorbehalten war. Online dagegen ist es plötzlich hochprofitabel, die vielen kleinen Produkte aus dem „Long Tail“ anzubieten. Die Onlinewelt ist also reichhaltiger als ihr altes Offlineäquivalent, nicht nur was das Warenangebot angeht. Das Desktop-Web ist im 1000-Seelen-Dorf das gleiche wie in der Millionenstadt. Der Zugang zu Kultur ist also theoretisch nicht mehr vom Wohnort abhängig.

Wo die Wohnung mit der Couch liegt, auf der man mit dem Laptop sitzt, war und ist relativ egal.

Wer sowohl das Leben auf dem Dorf als auch in einer größeren Stadt kennt, weiß um die Unterschiede. Die Ruhe auf dem Land bezahlt man mit einer geringeren Auswahl an Cafés und Konzerten. Mehr potenzielle Kunden und mehr Gleichgesinnte auf engem Raum vergrößern in Städten hingegen die Möglichkeiten, Läden zu betreiben und Events zu veranstalten. Diesen Unterschied konnte das Desktop-Web maßgeblich lindern. Jeder kann bei Amazon und Zalando bestellen, jeder kann „Spiegel Online“ lesen, Blogs und Foren befüllen. Wo die Wohnung mit der Couch liegt, auf der man mit dem Laptop sitzt, war und ist relativ egal.

Hier sprechen wir aus heutiger Sicht aber von einem relativ eingeschränkten Möglichkeitsraum. Das klassische Web kommt zu uns über Rechner, die entweder fest am Arbeitsplatz verkabelt sind oder, die wir nur in unseren Wohnungen benutzen. Seit einiger Zeit ändert sich aber etwas sehr Grundlegendes: In Form eines Smartphones hat bald fast jeder Erwachsene in den westlichen Ländern und irgendwann auch im Rest der Welt einen Taschencomputer mit Internetzugang, den er ständing mit sich herumträgt. Das Internet ist nicht mehr nur das Web, es ist jetzt auch die App. Apps ermöglichen Dienste, die reichhaltiger als Websites sein können. Ein wesentlicher Grund für ihren Siegeszug in den letzten Jahren. Angebote, die noch vor fünf Jahren undenkbar waren, werden plötzlich möglich. Carsharing-Dienste wie car2go und DriveNow etwa, weil das Smartphone unterwegs jederzeit anzeigt, wo freie Autos stehen. Oder Taxi-Alternativen wie Uber und Lyft, weil Fahrer und Fahrgäste nun per Smartphone auf einer Plattform leichter zusammenfinden.

Die unterschiedliche Bevölkerungsdichte ist dafür verantwortlich, dass immer mehr Mobil-Apps nur in Städten starten.

All diese Dienste haben drei Dinge gemeinsam: Sie sind mobile Angebote. Zum überwiegenden Teil existieren sie nur als App. Und sie sind nicht überall gleichzeitig verfügbar. Weil es eben nicht nur auf ihr Interface ankommt, sondern auch auf die Umgebung der Nutzer. Die Karten- und Routenplanungs-App Citymapper etwa funktioniert in Berlin und zwölf weiteren Städten. Allryder, ebenfalls ein Routenplaner, ist in 15 Städten aktiv. Uber in Städten in 50 Ländern. All diese Dienste waren zuerst in Metropolen vertreten und werden vielleicht nie außerhalb davon angeboten. Es gibt bereits erste Anbieter, die die Frage beantworten, welcher von ihnen in der eigenen Stadt überhaupt verfügbar ist.

Die unterschiedliche Bevölkerungsdichte ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass immer mehr mobile Dienste zunächst nur in Städten starten und zum Teil sogar nur für Städte konzipiert werden. So wie der öffentliche Personennahverkehr in ländlichen Gegenden nur aus Bussen besteht, während in Städten auch S-Bahn und U-Bahn dazuzählen kann, so ähnlich entwickelt sich das mobile Internet. Es differenziert sich aus.

Das in Berlin sitzende Unternehmen Allryder, dessen Motto „Making cities smarter“ lautet, sieht seine Chance vor allem in den Metropolen der Welt. Der Vorläufer Waymate versuchte, bei der Planung überregionaler Reisen zu helfen. Ob Bahn, Fernbus, Mitfahrgelegenheit oder Flug, der Dienst zeigt in einer Übersicht die verschiedenen Optionen und ihre jeweiligen Preise. Im Sommer 2013 hat das hinter den Diensten stehende Startup Door2Door mit Waymate Local eine spezielle App für innerstädtische Routen gestartet. Sie war so erfolgreich, dass das Startup einen Strategieschwenk Richtung Stadt machte und sich mit der neuen Marke Allryder nun ganz auf diese konzentriert. Waymate bleibt als Dienst in Website-Form aber weiter verfügbar.

Der Nachteil von Google Maps: Es soll möglichst überall genau das gleiche bieten.

Maxim Nohroudi, Mitgründer und CEO von Allryder, erklärt die Konzentration auf Städte damit, dass Megacities weltweit aus allen Nähten platzen und der Nahverkehr unter dieser Last ächzt. Intelligente, appgetriebene Transportdienste könnten hier helfen. Im ländlichen Raum dagegen, so Nohroudi, dominiere der Individualverkehr mit dem eigenen Auto. Der Transportkontext sei ein völlig anderer. Allryder sieht einen globalen Bedarf für sein Angebot. Erst 20 Prozent der Großstädte der Welt hätten smarte Apps für den Nahverkehr. Allryder wird expandieren, aber eben nicht in deutsche Dörfer, sondern in Großstädte auf der ganzen Welt.

Wenn man wie Allryder versucht, nur wenige Regionen bestmöglich zu bedienen, kann man es mit dem Größten der Großen aufnehmen: Google Maps. Die Herausforderung der Kartographierung ist wie gemacht für ein Unternehmen wie Google, das sich darauf spezialisiert hat, große Mengen an Daten auszuwerten und zugänglich zu machen. Aber Google Maps hat einen entscheidenden Nachteil: Es soll ein Kartendienst sein, der auf dem Land wie in der Stadt regionenübergreifend ein möglichst gleiches Angebot bietet. Würde Google aber ähnliche Funktionen wie die umfassenden Routenplanungen in Allryder oder Citymapper integrieren, wären diese Funktionen zwar in Städten sinnvoll, aber auf dem Land bestenfalls unnütz, schlechtestenfalls leere Hüllen, weil Dienste wie Carsharing einfach fehlen. Umgekehrt könnten Funktionen, die für ländliche Gegenden sinnvoll sind, in Metropolen wenig Sinn ergeben.

Das mobile Internet ist gleichzeitig vielfältiger und ungleicher.

Wer Citymapper oder Allryder ausproprobiert, wird schnell feststellen, welche Vorteile diese fokussierten Apps haben. Sie erfassen alle lokalen Daten des öffentlichen Personennahverkehrs, integrieren Carsharing, geben präzise Informationen über die Umgebung und halten oft angewählte Orte wie Wohnung und Arbeitsplatz als leicht aufrufbare Lesezeichen bereit. Mit diesen Funktionen können die Apps vielleicht selbst Platzhirsche wie Google Maps vom Homescreen schubsen — vorausgesetzt man lebt in der Stadt. Aber wie nützlich sind sie, wenn man die meisten Wege auf dem Land mit dem eigenen Auto zurücklegt? Da ergibt die Aussage von Allryder-CEO Nohroudi durchaus Sinn, speziell für Metropolen an Lösungsansätzen zu arbeiten statt alles abzudecken, weil Metropolen und ländliche Regionen sich zu stark unterscheiden.

Apps ermöglichen Dienste, die im Desktop-Web-Kontext undenkbar waren. Durch die mobile Komponente wird es möglich, unseren Alltag direkt einzubeziehen. Das führt zu Spezialisierung, und Spezialisierung führt zu Angeboten, die nicht überall Sinn ergeben. Andersons „Long Tail“ führt dazu, dass Dienste auf lokale Besonderheiten zugeschnitten werden. Das mobile Internet ist also gleichzeitig vielfältiger und ungleicher. Eben wie die Realität zwischen Stadt- und Landleben schon immer war: vielfältig. 

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