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Digital ist besser / Johnny Haeusler findet, die Masse sollte lieber nicht über Innovationen entscheiden

von Johnny Haeusler
Nicht jeder Mensch mag Online-Medien. Ich kenne viele, die von Facebook genervt, von Twitter überfordert und über Google verärgert sind. Es ist sogar ziemlich leicht, gleich das ganze Internet doof zu finden. Und obwohl ich mich selbst zu den Freunden der Online-Kultur zähle, verstehe ich auch Zweifler, Kritiker und Nörgler, die Homebanking für unsicher und Amazon-Shopping für marktgefährdend halten.

Und so nicke ich in abendlichen Debatten über das generelle Für und Wider der Netznutzung verständnisvoll, höre mir die zahlreichen Argumente an, diskutiere über Trolle und Hater, Fake-Rezensionen und Kommentar-Verleumdungen, Promi-Basher und Stalker, Phishing und Hacking und natürlich über NSA und BND. Und attestiere am Ende einer jeden solchen Diskussion: Das Internet ist nichts ohne uns. Wir machen es zu dem, was es ist. Das Internet sind wir, und wenn wir Teile davon hassen, dann hassen wir Teile der menschlichen Gesellschaft. Und zwar in einigen Fällen leider aus gutem Grund.

Darauf können sich meistens alle Diskutanten irgendwie einigen, wir prosten uns dann zu und finden, dass wir alle bessere Menschen werden sollten. Aber dann geht es erst richtig los. Denn dann packe ich aus und starte die Debatte von vorne. Es gibt nämlich etwas, wofür ich das Internet als Technologie tatsächlich verantwortlich mache: die Diktatur der Masse.

Dank Marktforschung bekommen wir genau das, was die meisten von uns wollen. Und das ist das Problem.

Das Netz sowie digitale Medien und Geräte sind bekanntermaßen der feuchte Traum der Marktforschung, Big Data ist überall, und nicht nur die Geheimdienste wissen viel zu viel über uns. Alles, was wir online tun, ist mess-, analysier- und auswertbar. Nicht nur die Anzahl der Klicks auf einer Website, die wir besuchen, wird gezählt und bewertet, sondern auch die genaue Stelle, auf die wir geklickt haben, von wo wir kommen, wohin wir gehen und wie lange wir bleiben. Unsere Vorlieben beim Shopping und bei unseren Facebook-Freunden, unser gesamtes Online-Verhalten (welche Sites besuchen wir zu welcher Zeit), unser Aufenthaltsort, unsere Kontaktdaten und Termine – alles, was digital vorliegt, wird von Unternehmen ausgewertet.

Das passiert nur zu unserem Besten, versteht sich: Zur Individualisierung unseres Online-Erlebnisses, zur Verbesserung der Service-Qualität, zur bestmöglichen Produktentwicklung. Die Marktforschung, die Analyse und Auswertung unserer Daten bestimmt, was wir bekommen. Nämlich das, was wir wollen, oder besser: Das, was die meisten von uns wollen. Und genau das ist das Problem.

Würde ausschließlich die Masse die Produktentwicklung bestimmen, gäbe es kein Twitter, kein Facebook und auch kein iPhone.

Die demokratisierenden Möglichkeiten von Technologie führen im Bereich der Marktforschung und Produktentwicklung zur Diktatur der Masse und verhindern somit wahre Innovation. Schließlich können wir nur das nutzen, gut finden und klicken, was es schon gibt. Das Resultat der Auswertung unseres Verhaltens und unserer Vorlieben wird somit immer der größtmögliche gemeinsame Nenner des Bestehenden sein, ein Massenprodukt, der Mainstream. Deshalb sehen alle Online-Shops mehr oder weniger wie Amazon aus. Deshalb orientieren sich alle Kommunikationsplattformen an Facebook. Und deshalb hat Apple größere iPhones gebaut. Nicht etwa, weil sie innovativ oder besser zu bedienen wären. Sondern weil Nutzerinnen und Nutzer auf die größeren Displays der Android-Geräte neidisch waren. Die Mehrheit der Zielgruppe will größere Displays, also bekommen wir alle größere Displays. Ob wir wollen oder nicht.

Innovation ist anmaßend, überheblich und undemokratisch. Innovation ist Kunst.

Auf die Gefahr hin, arrogant zu klingen, behaupte ich: Würde ausschließlich die Masse die Produktentwicklung von Unternehmen bestimmen, gäbe es gar kein iPhone und auch keine Android-Geräte. Denn kaum jemand konnte vor zehn Jahren formulieren, dass er statt seines damaligen Handys mit Zifferntastatur lieber einen kleinen, flachen Touchscreen hätte (und wir erinnern uns, Apples Message Pad war als früher Vorläufer des iPhones ein Flop bei den Kunden). Ich behaupte weiter, dass es Twitter nicht gäbe, hätten sich seine Erfinder an der Marktforschung orientiert oder in Umfragen herauszufinden versucht, ob Internetnutzerinnen und -nutzer wohl Interesse an einer Art Massen-SMS mit beschränkter Zeichenzahl hätten. Und ich behaupte, dass es aus ähnlichen Gründen auch kein Facebook gäbe.

Innovation passiert nicht, wenn Menschen Dinge tun oder herstellen, die viele andere wollen. Innovation passiert, wenn Menschen Dinge tun oder herstellen, die viele andere wollen werden. Innovation ist anmaßend und überheblich. Innovation ist Kunst. Innovation ist undemokratisch und ihr Entstehen nicht von der Masse getrieben.

Doch natürlich kann ich auch in dieser Hinsicht meinen Frieden mit dem Netz schließen und meinen oben formulierten Vorwurf wenigstens relativieren. Obwohl das Gros der Online- und Digital-Produkte martkforschungs- und massengetrieben ist, bietet das Internet als Kommunikations- und Marktplatz sowie als Vertriebsweg immer noch genug Raum für alle. Auch für die Innovatoren, also die wenigen, die gegen den Strom schwimmen, um letztendlich vielleicht einmal Mainstream zu werden. Und darauf können wir uns dann wieder zuprosten. 

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