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Observer zeigt euch eine erschreckende Cyberpunk-Zukunft

von Michael Förtsch
Der Cyberpunk-Thriller Observer ist intelligent und verstörend. Der Spieler muss darin seinen Sohn im polnischen Krakau des Jahres 2084 finden. Dabei durchlebt er fremde Ängste und den Schrecken, der in der Vision von der Mensch-Maschine lauert. Denn hier bietet sich ein dystopisches Zerrbild jener Zukunft, auf die wir so zielstrebig hinarbeiten. 

Viele halten ihn für einen Propheten und andere für einen Spinner. Seit Jahrzehnten stellt Ray Kurzweil in Büchern und Ansprachen immer wieder Thesen auf, wie unsere Zukunft ausschauen könnte. Dabei behielt er zuletzt oft recht. Er sagte Sprachassistenten wie Siri und Augmented-Reality-Brillen wie HoloLens voraus. In den kommenden Dekaden, glaubt er, wird der Mensch mit der Maschine verschmelzen und unser Gehirn so leicht zugänglich, wie ein USB-Stick. Schon vor ihm orakelte der Autor William Gibson in seiner Neuromancer-Trilogie diese Technologien herbei – jedoch nicht als Bausteine einer besseren Zukunft.

Im Horror-Detektiv-Game Observer sind sowohl Gibsons wie auch Kurzweils Visionen seit langem Realität. Wobei sie die Menschheit zunächst in eine High-Tech-Ära hoben und dann in eine düstere Cyberpunk-Dystopie stürzten. Letztere machen die Entwickler des Indie-Studios Bloober Team so greif- und nachvollziehbar, wie es eben bisher nur mit einem Videospiel möglich scheint. Denn sie machen den Spieler sowohl zum Beobachter, Opfer als auch Täter. Der übernimmt die Rolle des von Blade-Runner-Schauspieler Rutger Hauer vertonten Daniel Lazarski, der als sogenannter Observer im polnischen Krakau unterwegs ist. Im Auftrag des Technologiekonsortiums Chiron deckt der abgeklärte Ermittler verschiedenste Verbrechen auf – und hat dabei Befugnisse, die die Idee der Privatsphäre ad absurdum führen.

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Angesiedelt ist die Geschichte im Jahre 2084. In den Jahrzehnten zuvor wurde der Traum vom Cyborg zum Teil des Alltags. Menschen ließen ihre Arme und Beine mit künstlichen Muskeln aufrüsten, ihre Augen durch Kameras mit Retina-Projektoren ersetzen und Schnittstellen zum Anschluss an ein Virtual-Reality-Netz in ihren Kopf pflanzen. Doch dann befiel eine Seuche die Augmentierten – sowohl auf biologischer als auch technologischer Ebene. Die einzige Lösung? Amputationen, die die Betroffenen verstümmelt zurückließen. Die Seuche ließ sich eindämmen, aber eine Heilung existiert nicht. Dann folgte die „große Dezimation“, ein Krieg, der Millionen das Leben kostete.

Der gesellschaftliche und technologische Fortschritt wurde Jahrzehnte zurück geworfen. Daher sitzt der Spieler zu Beginn in einem sichtlich heruntergekommenen Einsatzwagen, der mit flackernden Röhrenmonitoren, Schaltgetriebe und einem klobigen Laptop ausgestattet ist. Plötzlich klinkt sich jemand in seine Funkstrecke. Es ist sein Sohn Adam, der sich vor Jahren davon gemacht hatte. Er klingt verwirrt, redet davon, „alle zu befreien“ und dass sein Vater „die Kontrolle verlieren“ würde. Die Verbindung bricht wieder ab. Aber der Computer ermittelt, dass er in einem heruntergekommenen Wohnkomplex sein muss. Der hält, ähnlich der Villa in Layers of Fear oder das Elternhaus in Gone Home, als abgegrenzte und sich nach und nach öffnende Kulisse her.

Über weite Strecken ist es nicht die Geschichte um den Verbleib von Adam, die wirklich zählt, sondern das Bild der Gesellschaft, das sich bei der Suche nach ihm aufschlüsselt.

Aus der Ego-Perspektive wird das mehrstöckige und abbruchreife Gebäude erkundet. Die Handlungsmöglichkeiten des Spielers sind reduziert. Über Gegensprechanlagen werden Dialoge mit den Bewohnern geführt. Appartements werden mit einem Sicht-Implantat nach biologischen und technischen Indizien gescannt. Dazu kommen „Finde den Code“-Rätsel und einige Versteckspielsequenzen. In welcher Abfolge der Spieler sich durch den Komplex forscht, darin ist er partiell frei. Jedoch fordert Observer Geduld und Aufmerksamkeit ab. Über weite Strecken ist es nämlich nicht die Geschichte um den Verbleib von Adam, die wirklich zählt, sondern das Bild der Gesellschaft, das sich bei der Suche nach ihm aufschlüsselt.

Das Abenteuer gleicht einem Suchbild, das mit unzähligen Schichten von Details und Randgeschichten ausstaffiert wurde. Seien es flackernde Hologramm-Installationen, die erfolglos Kriegsschäden und Verfall kaschieren sollen. Oder Werbetafeln, die Selbstbau-VR-Headsets anpreisen und Flyer, die als harter Kontrast dazu „physisches Spielzeug“ wie Plastikautos bewerben. Auf Computern finden sich Emails und Propagandageschichten, die über Kämpfe gegen „die östlichen Horden“ erzählen. Einwohner berichten von jahrelangen Wartezeiten auf Operationen. Mit am prägnantesten ist, dass kaum einer etwas über seine Nachbarn zu berichten weiß – und wenn, dann nur über deren Geschrei oder Gestank.

Wie Ermittler heute schon Computer und Smartphones durchsuchen, so kann Lazarski ins Gehirn von jenen eintauchen, die er nicht befragen kann. 

Die Entwickler drängen dem Spieler nichts auf, sondern demonstrieren Vertrauen in seinen Forscherdrang. Vielfach zitieren sie Motive aus den Neuromancer-Romanen, den Werken von Philip K. Dick aber auch Filmklassikern wie eXistenZ und Videodrome von David Cronenberg. Allerdings adressieren sie auch aktuelle Debatten: Wie Ermittler heute schon Computer und Smartphones durchsuchen, so kann Lazarski ins Gehirn von jenen eintauchen, die er nicht befragen kann. Dafür muss sich der Observer lediglich mit einer Sonde in einen Gehirnchip ein-jacken. Wabernde und flackernde Räume zeigen Erinnerungen, die mit hallenden Stimmen geflutet sind. Aber ebenso durchwandert der Spieler visuell-akustische Repräsentationen von Ängsten, Träumen oder auch einen gänzlich kranken Geist.

Darunter sind mal endlose Gefängnisgänge, eine sich mit Blut füllende Dusche oder Visionen von wild zuckenden Schattenmenschen. In den fremden Gehirnwindungen herrscht eine Traumlogik, die die Entwickler für clevere Psychospiele nutzen. Sie lassen beim Blick zur Seite schnell Gegenstände auftauchen, verändern Räume und verzerren die Level-Geometrie. Das verunsichert, gruselt und lässt an der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit zweifeln. Leider wechselt sich dieser psychologische Horror auch mit allzu plumpen Jump-Scare-Schockern ab. Wobei es letztlich vor allem schmerzlich-körperliche Szenen sind, die reflexhaft wegschauen lassen, verstören und über das Spiel hinaus verfolgen.

Vieles in Observer lässt sich als mit Bedacht gestaltete Metapher lesen. Sei es eben die Angst vor der Auflösung der Privatsphäre und des Datenschutzes und die Frage nach ethischen und moralischen Grenzsetzungen. Ebenso debattiert das Game die Furcht vor gesellschaftlicher Isolation durch virtuelle Realitäten und das Dilemma der Mensch-Maschine: Die Frage, wo der Mensch aufhört und die Technik beginnt und was passiert, wenn beides nicht mehr zusammenhalten will. Am stärksten wirkt jedoch die visuelle Repräsentanz des Digitalen im Horror-Werk. Nämlich als kruder Bilder- und Code-Wirrwarr, der die reale Welt nicht sinnvoll ergänzt, sondern wie ein Staubfilm überzieht, unleserlich macht und verschmutzt.

Observer ist mit seinen rund zehn Stunden an Spielzeit eine eigentlich recht überschaubare, aber gefühlt sehr gemächliche und fast schon bleiern träge Erfahrung. Die will erarbeitet werden und traut sich, zu irritieren, zu überraschen und unbehaglich zu sein. Sie konfrontiert mit den physischen, sozialen wie auch mentalen Schrecken, die Ray Kurzweils futuristischen Voraussagen innewohnen. Gleichsam schafft sie es, die grimmig-zynischen Dystopien von William Gibson logisch um neue Facetten zu erweitern. Aber nicht als erhobener Zeigefinger, sondern als Denkanstoß. Damit haben die Entwickler eine glaubhafte Cyberpunk-Welt geschaffen, die weniger unterhält oder bespaßt, sondern eher fesselt und gefangen nimmt. 

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