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UPDATE: „OMG, zum Glück bin ich nicht nackt!“ — Casey Neistats App Beme im WIRED-Test

von Elisabeth Rank
Vor kurzem stellte Produzent Casey Neistat seine neue Video-Sharing-App Beme vor, die er gemeinsam mit Matt Hackett entwickelt hat, der vorher den Blogdienst Tumblr zum Erfolg führte. Beme soll intuitiv funktionieren, authentische Filme liefern — und den User vor allem nicht vom echten Leben ablenken. Doch funktioniert das? WIRED hat die App getestet.

Update 22.07.: Nach einem ersten Update der App können Nutzer über die eigenen Kontakte im Telefonbuch neue Beme-Kontakte finden. Es ist nun ebenfalls möglich, in den Einstellungen auszuwählen, ob man Reaktionen von Fremden auf die eigenen Bemes zulassen sowie von Freunden via Telefonnummer gefunden werden möchte. Casey Neistat kündigte auf YouTube zudem an, dass bald neue Invite-Codes verfügbar seien.

„Oh mein Gott, zum Glück bin ich nicht nackt!“, denke ich, als mein Gesicht plötzlich oben rechts im Bildschirm auftaucht, während ich einen Beme, also einen Minifilm, von Casey Neistat ansehe. Denn wer neu auf Beme ist, weiß noch nicht, dass Reaktionen auf ein Video hier nicht via Sternchen oder Like vergeben werden — sondern per Selfie, sobald man während des Schauens eines Filmchens seinen Finger bewegt. Auch sonst funktioniert bei Beme vieles anders, als man es von Apps und sozialen Medien gewöhnt ist. 

Beme ist anfangs wirklich Fingerakrobatik, man gewöhnt sich aber schnell an daran. Vorher versendet man leider ungefähr 41 Doppelkinn-Selfies.

Wie schaut man Videos auf Beme? Casey Neistat erklärt in seinen YouTube-Videos sehr euphorisch die Welt. Und eben auch seine App Beme.  Zum Start der App gibt Neistat direkt drei Tipps, wem man am besten folgen solle (ohne sein Erklär-Video zur App wäre man auch relativ verloren gewesen, denn ein Tutorial, einen Guide für blutige Anfänger oder eine sonstige Geleithilfe durch die App gibt es nicht). Okay, Video gesehen und Menschen geaddet. Check. Diese werden mir in einer schwarzen Namensliste und ohne visuelle Anreize angezeigt, eine Videovorschau gibt es nicht. Dieser Minimalismus, der zum Grundbaustein der App gehört, entpuppt sich in der praktischen Anwendung als hin und wieder nervig. 17 Bemes von Casey? Uff. Und welchen davon will ich jetzt wirklich sehen? Um das herauszufinden, muss ich jeden einzelnen anwählen. Doppel-Uff.

Was sieht man auf Beme? Bisher vor allem Menschen, die versuchen, die App zu verstehen: verwackelte Füße, verwackelte Straßenszenen, sehr kurze Bemes mit menschlichen Verwunderungsgeräuschen wie „Uuhhmmmm“, „Oh“ und „Waahhhhh“. Hier kann man der menschlichen Spezies beim Erlernen einer neuen App zusehen. Die Einzigen, die das Filmen mit Beme derzeit wirklich drauf haben, sind diejenigen, die die App schon eine Weile benutzen: Casey Neistat und seine Gang. 

Wie filmt man auf Beme? Das Handling der App ist so einfach, dass man beinahe darüber stolpert. Wird der visuelle Sensor des Telefons verdunkelt, filmt die Kamera sofort los, der Bildschirm wird schwarz. Man sieht also nicht, was genau man aufnimmt. „User sollen mit den Augen im echten Leben bleiben und nicht mehr nur auf den Screen starren“, so Neistat in einem seiner Videos. Und das klappt! Man erschreckt sich vielleicht kurz, wenn die Aufnahme plötzlich stoppt und das Video sofort gesendet wird. Auch das gehört zu den charakteristischen Eigenschaften von Beme: Man filmt und das Ergebnis wird sofort hochgeladen. Kein Editing, keine Filter, keine schriftliche Beschreibung.

Ich sehe also haarige Beine, fremde, unaufgeräumte Wohnzimmer und wenn ich Glück habe, laufe ich für vier Sekunden in der Hemdtasche irgendeines Menschen durch New York (es könnte aber auch Castrop-Rauxel sein)

„Totale Authentizität“, so beschreibt Neistat die Funktionsweise seiner App. Diese „totale Authentizität“ führt vor allem bei Beme-Anfängern zu verwackelten, völlig unfokussierten Motiven. Ich streame eine Ausstellung? Huch, das Gemälde, das ich zeigen wollte, wurde leider nur halb getroffen. Das ist so mittelauthentisch, könnte aber auch für eine neue Entspannung bei den Usern sorgen. Verwackelt? Egal. Scheiß Farben? Egal. „Man kann die Welt nur verstehen, wenn man sie aus verschiedenen Perspektiven sieht, deswegen gibt es Beme “, so Neistat. Ja okay, ich sehe also haarige Beine (aha!), fremde, unaufgeräumte Wohnzimmer (kenn ich!) und wenn ich Glück habe, laufe ich für vier Sekunden in der Hemdtasche irgendeines Menschen durch New York (das, was ich sehe, könnte allerdings auch Berlin sein, oder Castrop-Rauxel). 

Was Beme auch anschaulich zeigt: Diese App wurde vor allem von Männern entwickelt. 

Was Beme auch anschaulich zeigt: Diese App wurde vor allem von Männern entwickelt. Denn wie Neistat in seinen Videos so aufgeregt zeigt, soll man sein Handy einfach an den Oberkörper drücken – und schon geht die Aufnahme los. Mach das mal mit Brüsten, Casey! Die sind nämlich hin und wieder im Weg – gilt das auch noch als authentisch oder ist das einfach ein Interface, das (wieder mal) von Männern für Männer gebaut wurde?

Wie vernetzt man sich auf Beme? Apropos fremde Menschen: Derzeit wächst die Beme-Community nur über Invite-Codes. Jemand kennt also jemanden, der wiederum jemanden kennt und am Ende soll so eine authentische, aktive Community entstehen. Das wünschen sich zumindest Neistat und Hackett. Finden kann man andere User derzeit allerdings nur, wenn man ihren konkreten Usernamen weiß. Es gibt keine Suche. Im Stream der Kontakte macht die App einem hin und wieder Vorschläge (die sie einem mit „Hier schau mal, ein complete stranger“ verkauft, woraufhin man zweimal überlegt, ob man den Beme wirklich sehen will). 

Wie reagiert man auf Bemes?  Wie ich bereits sagte: Es empfiehlt sich beim Benutzen der App Kleidung zu tragen. Und mehr als einen Finger frei zu haben. Reaktionen werden auf Beme nämlich in Form von Selfies verteilt (oh Wunder, noch kein einziger Penis!), die bei Doppel-Tap auf den Screen geschossen werden. Zum Doppel-Tap braucht man jedoch einen weiteren Finger als jenen, den man auf dem Screen lassen muss, um den Film zu sehen. Beme ist anfangs wirklich Fingerakrobatik, man gewöhnt sich jedoch relativ schnell an die Mechanismen. Vorher versendet man jedoch ungefähr 41 Doppelkinn-Selfies und schließt 23 Bemes versehentlich. Passiert beides. So ist die Welt eben.

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Was soll das Ganze? Beme kann jeder benutzen, der derzeit ein iPhone mit mindestens iOS 8 besitzt. Alle anderen sind raus. Noch besteht die Barriere der Invite-Codes. Das soll sich jedoch im Laufe der Zeit ändern. Ihr Potential könnte die App entfalten, wenn sich dort mehr Menschen anmelden, die einen kreativen Umgang mit der App finden. Ich tape mir mein Telefon ans Hangelenk und setze mich in den Streichelzoo? Für Tierliebhaber eine Alternative. Ich tape mir mein Telefon an den Kopf und gehe auf ein Heavy-Metal-Konzert? Für schwindelfreie Headbanging-Freunde durchaus eine spannende Vorstellung. Beme lädt dazu

Filter- und Editierprozesse sind häufig nötig, um aus einem Ereignis eine verständliche Geschichte zu machen.

ein, kreativ zu werden. Dazu sind jedoch viele auch ohne die App schon zu faul. Wer jedoch Bock darauf hat, bekommt mit Beme ein intuitives, neues Spielzeug ohne Bearbeitungsmöglichkeiten. Die kreative Herausforderung besteht vor allem in der Auswahl von Perspektive und Motiv, nicht in der Auswahl von Filtern oder dem Schneiden des Materials. Doch Filter- und Editierprozesse glätten die Ergebnisse nicht nur, sie sind häufig nötig, um aus einem Ereignis eine verständliche Geschichte zu machen.

Journalisten, aufgepasst!

Inwiefern Storytelling auf Beme wirklich stattfinden kann, wird sich zeigen. Wer das möchte, muss Aufwand betreiben. Alle anderen könnten Beme vor allem zur ungeschönten Dokumentation nutzen (Journalisten, aufgepasst!), Beme könnte ein guter Begleiter in Situationen werden, in denen es vor allem auf schnelles Publizieren ankommt — aufnehmen, zack, online. Man denke an Krisensituationen, in denen Augenzeugen die Aufnahmen innerhalb kürzester Zeit ins Netz schießen könnten. Doch hier stößt die App noch an ihre Grenzen: sie ist ein abgeschlossenes System mit klaren Regeln, Neistat und Hackett wollen ihre User umerziehen. Sie sollen sich vom Screen abwenden, Likes und Filter sollen keine Rolle mehr spielen. Ob diese Umerziehungsmaßnahme Früchte trägt und die User in der Lage sind, aus Beme mehr als ein zweites Snapchat zu machen, müssen vor allem die Nutzer selbst beweisen. 

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