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Umzingelt uns Facebook mit Freunden?

von Dirk Peitz
Vor zwei Wochen kündigte Facebook an, wir würden zukünftig mehr von unseren Freunden sehen. Mehr Persönliches statt irgendwelcher Postings von irgendwelchen News-Seiten. Doch messen lässt sich die Veränderung seither nicht. Nur empfinden – wie so oft bei Facebook. Denn unsere Wahrnehmung ist das eigentliche Problem.

Ich hatte seit Jahren nichts von der Frau gehört oder gesehen. Wirklich traurig war ich deswegen nicht, und sie war es vermutlich auch nicht. Sonst hätte sich einer von uns ja mal gemeldet beim anderen. Wir beiden sind schließlich auf Facebook miteinander befreundet. Auch wenn wir es im richtigen Leben nie waren – befreundet.

Wir hatten die Sorte Bekanntschaft, von denen man viele anhäuft über die Jahre, jedenfalls wenn man in einer Großstadt lebt und ein halbwegs aktives Sozialleben führt: Man lernt jemanden zum Beispiel auf einer Party von gemeinsamen Freunden kennen, verbindet sich noch am gleichen Abend über Facebook und geht vielleicht später sogar mal was trinken. Doch nach dem zweiten oder dritten Treffen befindet mindestens einer von beiden für sich meist, dass daraus nichts Ernstes werden wird. Und weil man eigentlich ja schon genug Freunde hat, also richtige Freunde, lässt man die Sache, nun ja, austrudeln.

Man liket weniger Posts des anderen auf Facebook, schreibt sich nicht mehr so häufig. Irgendwann schreibt man sich gar nicht mehr. Auf Facebook aber bleibt man verbunden. Sich zu entfreunden, das wäre als Geste einfach zu viel Drama für diese Sorte Bekanntschaft, die das Leben ja gerade nicht verändert.

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Früher, vor den Tagen von Social Media, vergaßen die Leute solche Bekanntschaften einfach irgendwann. Heute aber werden wir einander zu Facebook-Karteileichen: Wenn wir wollten, könnte jeder von uns seine oder ihre Freundeslisten durchgehen und all die Lebenswegkreuzungen mit wohl Dutzenden Menschen rekonstruieren, die kurzen Phasen des Miteinanders, das baldige Auseinanderdriften. Netterweise drängt uns Facebook diesen Gedanken aber gerade nicht auf: Es kriegt ja mit, wenn sich zwei Leute nicht mehr schreiben und die Aktivitäten des je anderen nicht mehr groß verfolgen, und entsprechend weniger zeigt es den beiden Leuten voneinander. Bis irgendwann gar nichts mehr kommt.

Wiedersehen im Newsfeed
Vor ein paar Tagen habe ich diese Frau zum ersten Mal seit Jahren wiedergesehen. Auf Facebook. Sie hatte ein Foto von sich gepostet. Auf dem sie nicht allein zu sehen war, da waren auch ein Kind und ein Mann im Bild. Ein Familienfoto war das. Als ich die Frau kennengelernt hatte, vor vielleicht acht, neun Jahren, war sie für mein Empfinden einer dieser Berliner Singles zwischen zirka 20 und 40 gewesen, die nach irgendwas suchen, für das das Wort „Liebe“ meist etwas zu groß ist. „Geborgenheit“ klingt realistischer, „regelmäßiger Geschlechtsverkehr“ pragmatischer. Nun war die Frau also Mutter und Teil einer richtigen Kleinfamilie. Kinder: Wie die Zeit vergeht!

Der Facebook-Algorithmus hatte augenscheinlich befunden, dass dieses Foto so bedeutsam war, dass es das erste Posting dieser Frau seit Jahren war, das in meinem Newsfeed auftauchte. Und weil Facebook ein paar Tage zuvor, nämlich am 29. Juni, mitgeteilt hatte, eben diesen, seinen Algorithmus zu verändern und seinen Nutzern künftig mehr Postings von Freunden anzuzeigen, ging ich selbstverständlich davon aus: Das musste ein Beleg dieser Änderung sein.

Obwohl man bei Facebook doch eigentlich nie sagen kann, was Änderung und was Zufall ist. Und was die eigene Wahrnehmung und das eigene Klickverhalten damit zu tun haben. Der Newsfeed rauscht immerzu herunter, wer sollte da den Überblick behalten. Und Facebook doktert ja ständig am eigenen Algorithmus herum, mal angekündigt, mal unangekündigt, und ab wann diese neuesten Einstellungen gelten, hat Facebook am 29. Juni nicht mitgeteilt.

Ich war auf einmal umzingelt von Facebook-Freunden

Trotzdem hatte ich das Gefühl (und zunächst nicht mehr als eben das Gefühl): In den ersten Tagen danach sah ich plötzlich viele Leute wieder, von denen ich fast schon vergessen hatte, dass es sie gibt. Ich fühlte mich regelrecht umstellt von Neuigkeiten aus dem Leben anderer, um die ich nicht wirklich gebeten hatte. Ich war auf einmal umzingelt von Facebook-Freunden.

Obwohl ich mich natürlich irgendwie auch für sie freute: Es tauchten weitere Fotos von Neugeborenen auf, deren Mütter ich von sehr früher kannte und die jedenfalls mir gegenüber nie offen Kinderwünsche geäußert hatten; ein Bild dokumentierte ziemlich eindeutig die Schwangerschaft einer Facebook-Freundin, was mir einen kurzen Stich versetzte, denn vor langer Zeit hatte ich mir mal vorstellen können, mit ihr zusammen zu sein; andere Leute, mit denen ich seit Ewigkeiten nichts mehr zu tun habe, gaben auf Facebook ihre Vermählungen bekannt, die Gatten und Gattinnen kannte ich allesamt nicht, die mussten zwischenzeitlich in deren Leben getreten sein; und ein sehr ehemaliger Kollege, der mir früher mit seinen regelmäßigen Beschwerde-Postings wider die allgemeine Niedertracht der Welt auf die Nerven gegangen und dann aber ewig nicht mehr in meinem Feed aufgetaucht war, beschwerte sich erstmals wieder für mich sichtbar über irgendwas. Na, dann: Herzlich willkommen zurück in meiner Aufmerksamkeit.

Dass das Leben meiner Facebook-Freunde auch ohne mein Beisein in der wirklichen Welt weitergeht, ist mir selbstverständlich klar. Nur werde ich neuerdings offenbar mit der Nase auf diesen Umstand gestoßen, wo mich Facebook zuvor mit Meldungen vor allem von News-Seiten überschüttet hat. Von den meisten weiß ich nicht mal mehr, weshalb ich ihnen überhaupt mal angefangen habe zu followen.

Die sozialmediale Popcorn-Maschine
Was ich nur weiß, in der Theorie, ist folgendes: Es gibt Sorten von Postings, bei denen man sich auch als totaler Social-Media-Laie leicht erklären kann, warum man sie im Newsfeed angezeigt bekommt – Babyfotos und Hochzeitsbekanntgaben kriegen stets sehr viele Likes und Herzchen, und wenn jemand aus dem Facebook-Freundeskreis mit Likes und Herzchen überschüttet wird, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass man dieses Posting auch zu sehen kriegt.

Ziemlich eindeutig ist es auch so, dass es kein Zufall ist, wenn umgekehrt das von mir gepostete neue Video meiner Lieblingsband kaum Likes erhält, denn die wenigsten meiner Freunde dürften mein Posting gesehen haben: Weshalb sollte Facebook seinem einzigen wirklichen Konkurrenten Google respektive Alphabet die Klicks schenken, die mein Videolink auf die Alphabet-Tochter Youtube bedeuten würde? Facebook und Google sind mittlerweile verantwortlich für über 80 Prozent des Referral-Traffic, also den Teil des Internetverkehrs, der durch Verlinkungen entsteht. Und weil zunehmend weniger Menschen direkt Homepages aufrufen und stattdessen zum Beispiel auf News-Seiten erst durch Verweise auf Facebook oder Google landen, ist der Referral-Traffic die eigentliche große Marktmacht im Netz, die sich gerade mal eine Social-Media-Plattform und eine Suchmaschine teilen. (Und Facebook hat mittlerweile knapp die Nase vorn vor Google.)

Facebook funktioniert, kurz gesagt, wie eine intelligente Popcorn-Maschine

Ebenfalls in der Theorie weiß ich, dass der Facebook-Algorithmus unter anderem mit der anthropologischen Annahme operiert, dass Menschen immer mehr von dem wollen, was sie mögen. Mit jedem meiner Klicks auf, sagen wir, ein Sexratgeber-Posting des amerikanischen Esquire steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ich mehr Sexratgeber-Postings des amerikanischen Esquire angezeigt kriege; und da ich vermutlich nicht der Einzige bin, der darauf klickt, werden die Social-Media-Redakteure des Magazins entsprechend ihren Schreiberkollegen rückmelden, dass Sexratgeber-Postings wahnsinnig gut laufen auf Facebook; und so werden die umso mehr Sexratgebertexte schreiben, welche die Social-Media-Redakteure dann auf Facebook posten; und so können ich und sehr viele andere dann zum Beispiel auf Facebook auf immer noch mehr Sexratgeber-Postings des amerikanischen Esquire klicken. Puh.

Facebook funktioniert ja, kürzer gesagt, wie eine intelligente Popcorn-Maschine: Hat die erst mal kapiert, dass du Popcorn magst, überschüttet sie dich mit immer mehr des gleichen Popcorns.

Bis du kotzt.

Will sagen: Bis du nicht mehr drauf klickst oder einer Seite wie der von Esquire gar nicht mehr folgst auf Facebook.

Ein undurchsichtiger Haufen Variablen
Das Problem der Social-Media-Theorie ist nur, dass die keine wirklich empirische Wissenschaft ist, denn eine solche würde zum Beispiel auf objektivem Zahlenmaterial und eindeutigen Kausalitäten basieren. Doch Facebook gibt kaum absolute Zahlen heraus, und von außen lassen sich Ursachen und Wirkungen beim Algorithmus kaum mehr zweifelsfrei bestimmen. Denn der ist längst viel zu komplex geworden: Er ist, jedenfalls stelle ich mir das nach den Beschreibungen meiner Kollegen Social-Media-Redakteure so vor, eine riesige Wucherung von Variablen und Einflussfaktoren, ein gigantischer Zahlenzellhaufen, den kaum jemand noch wirklich durchblickt. Womöglich nicht mal mehr Facebook selbst.

Zwar lassen sich von außen Referral-Zahlen messen. Von der aktuellsten Änderung des Algorithmus’ erwarteten News-Seiten dann ja auch, dass sie sich negativ auf ihre Zugriffszahlen auf Facebook auswirken würden – denn wenn wir Nutzer plötzlich wieder mehr von unseren Freunden läsen, dann sähen wir ja entsprechend weniger oder weniger häufig Postings von News-Seiten. Zum Beispiel auch von WIRED.de.

Tatsächlich aber brachen die Zahlen dort nach dem 29. Juni gar nicht ein. Und anderswo auch nicht: Die US-Agentur Parse.Ly, die als Dienstleister für Medienhäuser digitale Datenströme analysiert, registrierte lediglich in den ersten Tagen nach dem 29. Juni eine kleine Negativdelle bei den Zugriffszahlen ihrer Kunden – aber nicht in absoluten Zahlen ausgedrückt, sondern gemessen an den zu erwartenden Facebook-Referrals für Parse.Ly-Kunden. Dieser Trend kehrte sich jedoch am 6. Juli um. Plötzlich lagen die Page-View-Zahlen, die Facebook an Parse.Ly-Kunden ablieferte, sogar konstant über den zuvor prognostizierten. Relativ betrachtet ist vielleicht gar nichts passiert nach dem 29. Juni auf Facebook.

Hat Facebook seinen Algorithmus womöglich also gar nicht verändert? Oder noch nicht? Oder anders als angekündigt? Oder haben die News-Seiten nach den ersten Erfahrungswerten irgendwas verändert, um wieder bessere Referral-Zahlen zu kriegen?

Diese Fragen lassen sich nicht mit Bestimmtheit beantworten. Dafür sind die möglichen Einflussfaktoren längst zu viele geworden, die der Facebook-Algorithmus miteinander verrechnet. Den professionell zu interpretieren, das ist mittlerweile so, als lese man Horoskop oder schaue in eine Glaskugel: Jeder liest das hinein, was er hineinlesen will; jeder sieht das, was er sehen will.

Und das geht nicht nur den Profis so. Sondern uns allen. Wer nicht an seiner Wahrnehmung der Welt zweifelt, wenn er oder sie in die eigene Facebook-Filterblase voller Weltuntergang und Pokémon Go schaut, muss an etwas anderem zweifeln, seinem oder ihrem Verstand nämlich.

Meine Blase, deine Blase!
Was wir uns aber viel zu selten klarmachen, ist folgendes: Wir haben uns unsere Facebook-Filterblase alle selbst gemacht. Mit jeder verschickten und empfangenen Freundschaftsanfrage, mit jedem Like, mit jedem Follow-Häkchen bei Seiten von News-Medien, Stars, Sportlern, Blogs, Filmen, was auch immer. Wir sind die Erschaffer unserer eigenen sozialmedialen Wahrnehmung, Facebook ordnet sie bloß im eigenen Sinne, aggregiert sie, kuratiert sie, bespielt sie mit dem, was es als (selbstredend für Facebook) verwertbaren Teil unserer Empfindungen, Meinungen, Haltungen, Sehnsüchten identifiziert zu haben glaubt.

Der eigentliche Witz ist also: Wir lesen im Facebook-Algorithmus nicht nur wie in einem Horoskop – wir schreiben selbst kräftig mit an unserem Horoskop. Bloß verdrängen wir das. So wie wir die womöglich zunehmende Undurchdringlichkeit der Außenwände unserer Bubble nicht erkennen: Wer weiß schon noch, was in den vermeintlich weitentfernten Filterblasen von AfD-Wählern los ist oder gleich nebenan in denen der eigenen Freunde, Kollegen, Familienmitglieder?

Leide ich am Ende also bloß an einem Wahrnehmungsproblem, wenn ich glaube, ich hätte in den vergangenen zwei Wochen so viele Geister aus der Vergangenheit wiedergesehen, gute und weniger gute? Sehe ich mich womöglich nur bestätigt in der Vermutung, dass alles mal wieder an Facebook liegt – gerade weil ich mich in dieser Vermutung bestätigt sehen will?

Das lässt sich eben auch nicht mehr sagen. (Okay, man könnte mal seinen Therapeuten fragen, falls der oder die auch Social-Media-Experte ist.) Und deshalb ist es wohl das Beste, man behandelt Facebook auch genauso, wie man ein Horoskop behandeln würde: Man nimmt es zur Kenntnis, erfreut sich daran, erbost sich darüber – und mehr aber auch nicht. Man lebt sein Leben einfach weiter und lässt sich von der Welt überraschen, im Guten wie im Schlechten. Das Blöde ist nur: Das Leben und die Welt ist – verdammt! – noch viel komplexer als der Facebook-Algorithmus.

Heute Morgen habe ich es immerhin schon geschafft, auf Facebook bei Esquire den Unfollow-Button zu drücken, denn eigentlich müsste ich ja mittlerweile alt genug sein, um genug über Sex zu wissen. Danach habe ich noch mal nach dem Familienfoto der Frau gesucht, die ich so lange nicht vermisst habe. Ich habe mein Like drunter gesetzt. Einfach so. Mir fiel aber auch nichts besseres ein.

Mal sehen, was der Facebook-Algorithmus damit nun wieder anfängt. 

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