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28 Tage in der virtuellen Realität: Wenn Menschen zu Avataren werden

von Christopher Pramstaller
28 Tage lang will Mark Farid in einer Welt leben, die nicht seine eigene ist. Was er sieht, soll nicht mehr unter seiner Kontrolle stehen. Was er hört, könnte er nicht mehr beeinflussen.

Ein anderer Mensch wird bestimmen, wie er die Welt erfährt. Ein Fremder, den Mark Farid vorher noch nie gesehen hat. Er wird essen, was der Andere isst. Er wird schlafen, wenn der Andere schläft. Geht der Fremde auf die Toilette, wird auch Mark das tun. Um das möglich zu machen, wird Farid eine Virtual-Reality-Brille aufsetzen und schalldichte Kopfhörer. 28 Tage lang will er ein Leben in einer für ihn virtuellen Realität führen, länger als jeder andere Mensch zuvor.

Ensteht unsere Identität in uns selbst oder formt uns die Umwelt?

Mark Farid

Wir stehen am Anfang einer neuen Ära, der Ära der Avatare; der Reise des menschlichen Geistes in virtuelle Körper. Schon heute ist uns das in Ansätzen vertraut. Auf Facebook, Twitter oder in Multiplayer-Games verschwimmen die Grenzen zwischen virtueller Person und realem Ich. Je vertrauter wir mit dem Cyberspace werden, desto natürlicher gelingt uns das. Virtual Reality ist der nächste Schritt.

„Ensteht unsere Identität in uns selbst oder formt uns die Umwelt“, fragt Farid. „Wenn ich versuche, einem anderen Geist möglichst nahe zu kommen, werde ich dann irgendwann denken, diese Person bin ich selbst?“ Es geht um die Frage, ob der Körper nur ein sensorisches Werkzeug des Gehirns ist, oder ob der Geist unabdingbar mit seinem physischen Körper verbunden ist.

Seeing I heißt Farids Projekt. Zusammen mit dem Kurator Nimrod Vardi und dem Dokumentarfilmer John Ingle versucht er per Crowdfunding das nötige Geld zu sammeln. Es soll ihn der Erfahrung möglichst nahe bringen, durch die Augen eines Anderen zu sehen.  

Der Input, wie Farid die fremde Person nennt, wird einen Monat lang eine Brille tragen, die ein 180-Grad-Panorama und Stereosound aufnimmt. Das Material wird anschließend auf Fehler überprüft und ihm sechs Tage später eingespielt. Um die Erfahrung so realistisch wie möglich zu gestalten, soll sein Team die Zeit haben, das gleiche Essen vorzubereiten, das der Input gegessen hat, und andere Materialien zu besorgen. 24 Stunden dauerte im Februar ein Logistik-Testlauf vor dem großen Experiment in der Arebyte-Galerie im Osten Londons.

Wer der Input für die 28 Tage sein soll, ist noch unklar. Farids Team ist gerade auf der Suche nach einem Protagonisten. Ein heterosexueller Mann soll es sein, mit seiner Freundin oder Frau soll er zusammenleben. Farid selbst ist hetero und will ein paar wenige Parameter Vertrautheit behalten. „Wenn jemand alleine lebt, dann wird er weniger mit anderen Menschen interagieren“, sagt Farid. „Lebt die Person mit einem anderen Menschen, wird sie nicht einfach nur handeln sondern auch darüber reden.“

Eine Garage in Palo Alto, Kalifornien, irgendwann Anfang der 1980er Jahre: Jaron Lanier will ein Hummer sein. Die ausladenden Vororte der Kleinstadt im Silicon Valley sind schon damals ein Ort voller digitaler Ideen und Lanier einer der einflussreichsten Vordenker. „Jaron Lanier sieht die Tage kommen, wenn die neuen Systeme weitaus wichtiger als bloße Computer oder sogar Fernsehen sind“, schreibt die New York Times 1989.

Lanier und einige seiner Freunde experimentieren mit virtueller Realität. Sie werden zu den ersten Menschen gehören, die erfahren, wie es sich anfühlt, in einen Avatar zu schlüpfen. „Wie sehr diese Erfahrungen die Grenzen des Geistes verschieben können, wurde mir durch einen Software-Bug bewusst“, schreibt Lanier später. „Ich stieg in einen menschlichen Avatar, doch meine Hand war gigantisch groß. Als ich meine Finger bewegte, verschlangen sie sich gegenseitig. Dennoch konnte ich mit dieser riesigen Hand ohne Probleme umgehen.“

Wie andersartig kann die Form eines Avatars sein, bevor die Kontrolle unmöglich wird?

Jaron Lanier

Das warf die Frage auf, wie andersartig die Form eines Avatars sein kann, bevor die Kontrolle schwierig wird. Die Antwort stellte sich für Lanier als große Überraschung heraus. Einer der ersten Avatare war ein Hummer. Eine Kreatur mit mehr Extremitäten als ein Mensch. Doch auch dieser ließ sich durch Körperbewegungen steuern.

Das menschliche Gehirn ist überaus anpassbar. In ihm eingeschrieben ist eine Karte unseres Körpers, der Homunkulus. Dieses Konstrukt gibt uns ein Gefühl davon, welche körperliche Form wir haben. Wenn es Lanier möglich war, sich an den Körper eines Hummers zu gewöhnen, könnte es dann auch möglich sein, jede andere Form anzunehmen?

Body Transfer Illusion heißt der Bereich der kognitiven Neurowissenschaften, in dem untersucht wird, wie das Gehirn auf diese Weise ausgetrickst werden kann. Man kann es dazu bringen, zu glauben, ein anderer Körper, oder zumindest ein Teil davon, gehöre zu ihm selbst.

Marks Experiment könnte für ihn extrem verstörend sein.

Barbara Sahakian, Professorin für klinische Neuropsychologie

Es gibt Psychologen, die Sorge über den mentalen Auswirkungen von Farids Experiment geäußert haben. Barbara Sahakian, Professorin für klinische Neuropsychologie in Cambridge, sagte dem Independent: „Marks Experiment könnte für ihn extrem verstörend sein und es ist unklar, ob es ihm Schaden zufügen könnte.“ Simon Baron-Cohen, Professor für kognitive Neurowissenschaften an derselben Universität, glaubt etwas anderes. Die Erfahrung könne zu erhöhter Empathie führen. Warum sollte sich Farids Gehirn nicht schnell anpassen und die Eindrücke eines anderen Menschen als seine eigenen wahrnehmen?

In den vergangenen Jahren hat es einige Experimente gegeben, die Aufschluss geben, welche Möglichkeiten sich ergeben, wenn sich Menschen in die virtuelle Realität begeben. In Barcelona ließen Forscher 24 Männern in den virtuellen Körper einer Frau eintauchen. Sie stellten fest, dass ihre Probanden sehr schnell eine physische Identifikation mit dem virtuellen Körper herstellen konnten, der eigentlich nur visuell existierte. Wurde der Avatar geohrfeigt, zuckten die Probanden zurück.

Einen ähnlichen Ansatz verfolgte die Kunst-Installation The Machine to be Another. Ein Mann und eine Frau tragen dabei jeweils ein Headset und versuchen, den Körper geistig zu tauschen. Opfer von Schlaganfällen könnte das dabei helfen, ihren realen Körper schneller wieder zu benutzen

Um den Abbau von rassistischen Vorurteilen ging es Tabitha Peck von der Duke University in den USA bei einem Experiment im vergangenen Jahr. Sie ließ ihre Probanden in den Körper eines Menschen mit anderer Hautfarbe schlüpfen. Tatsächlich konnte Peck positive Ergebnisse beobachten.

Uni Würzburg, Institut für Informatik: Am 22. März dieses Jahres führen zwei Forscher ein Experiment durch, das dem Seeing-I-Projekt sehr nahe kommt. Frank Steinicke taucht 24 Stunden lang in eine virtuelle Realität ein, nur alle zwei Stunden gibt es eine zehnminütige Pause. Ein Selbstversuch des Professors für Mensch-Computer-Interaktion. Es geht um die Frage, wie sich Wahrnehmung und Verhalten ändern, wenn ein Mensch für eine so lange Zeit die reale Welt verlässt. Fünf mal fünf Meter groß ist der Raum, ein Schreibtisch mit Stuhl, ein Computer und eine Couch befinden sich darin, sowohl real als auch virtuell. Hier verbringt er die meiste Zeit des Tages. Er kann sich jederzeit in eine zweite Welt teleportieren, auf eine virtuelle Insel.

Als am Abend die virtuelle Sonne unterging, wurde mir kalt.

Frank Steinicke, Professor für Mensch-Computer-Interaktion in Hamburg

Um 16:20 Uhr setzt sich Steinicke das Headset auf und taucht ein. Die Erfahrung ist nicht nur angenehm. Schon nach wenigen Stunden setzt Übelkeit ein. „Simulator Sickness“ nennen das die Forscher, die Orientierung fällt schwer. Doch es gibt auch andere Effekte.

Immer wieder verschwimmen die beiden Dimensionen. Die Welten, in denen er sich bewegt, gehen ineinander über. Steinicke empfindet embodiment, eine Verleiblichung. „Als am Abend die virtuelle Sonne unterging, wurde mir kalt“, erklärt er. „Dabei blieb die Temperatur in der realen Welt konstant.“ Körpermesswerte zeigten bei vielen Experimente, dass Probanden schon nach wenigen Sekunden Eindrücke aus der virtuellen Realität als echt empfinden würden. Doch während sich Steinicke in seinem Experiment selbst bewegen konnte und die Kontrolle hatte, wird Farid nur Beobachter sein.

Es ist ein Unterschied, ob man ein Leben selbst lebt oder es nur anschaut.

Berni Good, Cyberpsychologin

„Es ist ein Unterschied, ob man ein Leben selbst lebt oder es nur anschaut“, sagte die britische Cyberpsychologin Berni Good dem Guardian. Echte Präsenz im virtuellen Raum könne nur durch Interaktion entstehen. „In Virtual-Reality-Spielen hat das Individuum die Möglichkeit, die Umwelt zu kontrollieren. Das ist eine Grundvoraussetzung für ein Präsenzgefühl“, meint Good. Dennoch könne auch durch die rein visuelle Erfahrung eine geteilte Identität entstehen.

15 Jahre, so lange wird es dauern, bis wir einen Großteil unserer Zeit in einer Welt verbringen werden, in der sich reale und virtuelle Dinge überlappen, meint der Mensch-Computer-Forscher Steinicke. Die Entwicklungskurven der Technologien seien exponentiell. Schon bald könnten wir zu Identitäts-Touristen werden. Wir könnten erfahren, wie sich fremde Körper anfühlen. Die Grenzen der Sinne, die uns die reale Welt diktiert, könnten radikal verschoben werden. Die Ära der Avatare wäre gekommen. 

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