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Ein Dorf in Sachsen könnte mit Seltenen Erden ein massives wirtschaftliches und ökologisches Problem lösen

von Jakob Vicari
Noch beherrscht China den Markt der Seltenen Erden. Kein Smartphone und kein Elektroauto kommen ohne sie aus.Von diesem Acker aber könnte eine Revolution ausgehen, die ein Dorf in Sachsen weltbekannt machen würde.

Der Bürgermeister greift zur Flasche. Ein kleines Mineralwasser, voll, blau, aus Plastik, das auf Manfred Wildes Schreibtisch steht, hier im Rathaus von Delitzsch, Sachsen. Und das an Ort und Stelle zur Minimetapher wird für das Wunder, um das es in dieser Geschichte geht.

„So sieht er aus“, sagt Bürgermeister Wilde, hält die Flasche in die Luft. „So sieht er aus, unser Schatz.“

Wie? Ja, wie ein Wasserflaschenhals. Ein Keil aus erstarrtem Magma, Durchmesser 110 Meter, genaue Länge unbekannt. Vielleicht 1000, vielleicht 1200 Meter tief ragt er in den Boden, bald wird man es wissen. Dass dieser riesige, ganz außergewöhnliche Gesteinskegel hier in Storkwitz steckt, mit der Spitze nach oben, in diesem äußerst gewöhnlichen sächsischen Örtchen, das ist Glück. Und Zufall. Denn er, der sprichwörtliche Schatz, von dem der Bürgermeister spricht – er könnte im besten Fall ein massives wirtschaftliches und ökologisches Problem lösen, das in den kommenden Jahren auf uns zurollt.

Der große, wasserflaschenförmige Magmakeil enthält nämlich die sogenannten Metalle der Seltenen Erden. Nicht in sonderlich hoher Konzentration, dafür verteilt auf ein gewaltiges Volumen. Lanthan, Cer oder Neodym heißen die Seltenen Erden, typische Verbraucher haben nie von ihnen gehört, nutzen sie aber massenhaft und täglich: als Bestandteile in Smartphones und Tablets, Flachbildschirmen und LED-Lampen, sie stecken in Windkraftanlagen und Hybridmotoren. Mit Lan­thanoxid werden Kameralinsen gebaut, Cer lässt das Licht weißer Leuchtdioden strahlen, Neodym dient als Magnet in Elektromotoren. Sie sind bislang nicht zu ersetzen. Ohne Seltene Erden dreht sich und leuchtet hier gar nichts.

Das bedeutet: Es gibt wenige Rohstoffe, die so essenziell sind für die Technologien der Zukunft. Das „Öl der Zukunft“ werden die Seltenen Erden genannt, das Versorgungsrisiko ist immens – und die Weltmarktlage sehr unentspannt. 2011 kamen 95 Prozent der Seltenen Erden, die weltweit verarbeitet wurden, aus China, die Vorkommen im Rest der Welt sind entweder zu klein oder im Abbau zu unwirtschaftlich. Sogar in der Serie House Of Cards debattiert der von Kevin Spacey gespielte Frank Underwood an einer Stelle mit dem US-Präsidenten über Seltene Erden – als es um die angespannten Beziehungen zum Osten geht. Tatsächlich verklagten die USA, die EU und Japan 2012 China vor der WTO, nachdem die Ausfuhrzöl­le erhöht und die Liefermengen gedrosselt wurden. Man übertreibt nicht, wenn man sagt: Diese komischen Metalle sind heute längst ein weltwirtschaftlicher Machtfaktor.

In Storkwitz liegt das größte bekannte Vorkommen der Seltenen Erden in Europa

Und jetzt: Storkwitz. Hier, verborgen im Gesteinskeil, liegt das derzeit größte bekannte Vorkommen der Seltenen Erden in Europa. Nachgewiesene 20 000 Tonnen Oxid, womöglich ein Vielfaches. Allerdings: Derzeit kann es noch nicht gefördert werden. Was mit Geld zu tun hat. Und mit Chemie. Mit Bakterien, Forschung, Fortschritt in einer der kompliziertesten Disziplinen. Vielleicht kein echter Krimi. Aber ein Schicksalsspiel.

Also: Schatzkarte raus, auf zum Ortstermin. Storkwitz, Ortsteil von Delitzsch, nördlich von Leipzig, 150 Einwohner. Nordsachsen, wo das Örtchen liegt, ist gezeichnet von der industriellen Vergangenheit. Für die Braunkohle haben die Bergbaubagger ganze Landstriche wegrasiert, um Storkwitz machten sie einen Bogen. Die Hauptstraße sieht aus, als habe jemand ein Farben-Outlet geplündert und die Häuser in die knalligsten Töne getaucht, aber gegen die Tristesse kommen weder Sonne noch Wandbemalung an. Die Tür der Dorfkneipe Zur Zicke wird von einer jungen Birke versperrt, lange her, dass hier jemand ein Bier getrunken hat. Die Pension Erwin bietet Zimmer für 13,50 Euro pro Nacht.

Hinter dem Ortsschild rechts, unter einem Weizenfeld, liegt er. Der Schatz. Keine Flagge, die im Boden steckt, kein Häuschen mit einem irren Alten, der mit der Schrotflinte die Gaffer verjagt. Der obere Rand des Magmakeils steckt immerhin 280 Meter tief im Boden, setzt sich weit nach unten fort, an den Rändern durchsetzt von den scharfen Splittern der umgebenden Erdkruste. „Es ist doch seltsam, dass der liebe Gott ausgerechnet hier einen so wundersamen geo­logischen Klumpen in die Erde gelegt hat“, sagt Manfred Wilde, der besagte Bürgermeis­ter, der in seinem viel zu großen Büro im viel zu großen Rathaus von Delitzsch sitzt. Zu DDR-Zeiten arbeitete Wilde noch als Hausmeister, heute ist er habilitierter Historiker, der erlebt hat, wie selbst verwegene Träume zur Realität werden können.

„Wir begreifen das hier als Zukunftsressource“, erklärt Wilde und blickt in die Weite des Rathausbüros. „Irgendwann sind die Vorkommen in China erschöpft. Und wir haben Geduld.“ Zwei Fabriken für Schneckenkorn, ein Waggonwerk und eine Schokoladenfabrik gibt es hier schon. „Schienen, Schnecken, Schokolade“, sagt er und hält kurz inne, um den folgenden Gag besser wirken zu lassen. „Es spräche doch nichts dagegen, wenn Scheltene Erden dazukommen.“

Storkwitz, die Seltenen Erden, der geologische Aufbruchsschlachtruf. Zur Bürgerversammlung, als das Thema zum ersten Mal groß auf der Agenda stand, kam das ganze Dorf. „Es gab viele Fragen“, sagt Wilde. „Aber die Menschen stehen dem Bergbau grundsätzlich offen gegenüber.“

Wer überhaupt über den unsichtbaren Schatz gestolpert ist? Man muss weit zurückgehen, rund 40 Jahre, in die DDR-Historie. Damals waren Geologen unter Hochdruck auf der Suche nach mehr Uran für sowjetische Reaktoren. Sie durchlöcherten die Erde Sachsens, Bohrung neben Bohrung. Im Erzgebirge wurden sie fündig. Vom Uranabbau nicht verseucht zu werden, war das erste große Glück von Storkwitz. Das andere: Im Gestein aus den Testbohrungen entdeckten die Geologen Erze mit Seltenen Erden. Eine Besonderheit, ein Gimmick aus dem Periodensystem, selten und schwer aufzuspüren. War ja auch nur Zufall gewesen.

Damals wusste man mit dieser Sensation nicht viel anzufangen. Die DDR-Führung beschloss, das Vorkommen weiter zu erkunden, dann kam die Wende. Storkwitz geriet in Vergessenheit – bis vor Kurzem. „Eines Tages im Jahr 2010 kamen die Herren der Deutschen Rohstoff AG“, erzählt Bürgermeister Wilde. Sie berichteten ihm von dem, worauf sein Ort da sitzt. In den Archiven hatten sie den Schatz entdeckt, sich umgehend die Abbaurechte gesichert und die Seltenerden Storkwitz AG gegründet.

„Seltene Erden glitzern weder noch schimmern sie noch leuchten sie im Dunkeln“, sagt Jörg Reichert, Lagerstättengeologe und Vorstand der AG. „Man sieht sie nicht.“ Umso wichtiger war die Probebohrung, die er nach dem Studium der alten Aufzeichnungen veranlasste, vor vier Jahren. Mit schwerem Gerät rückte die Seltenerden AG an, stellte den Riesenbohrer auf das Weizenfeld am Ortsausgang, drillte schräg in den Magmakeil. Erstes Ergebnis: Die DDR-Forscher hatten recht gehabt. Reichert vermutet, dass er mindestens bis zu einer Tiefe von 1200 Metern Gestein finden wird, das Seltene Erden enthält. Das gesamte sächsische Vorkommen könnte gut und gerne 100 000 Tonnen ausmachen.

Der Rohstoff ist sauteuer, man kann ihn nicht sehen, Jörg Reichert zeigt ihn trotzdem gerne vor. Chemnitz, ein schundiges Gebäude im zweiten Hinterhof eines Fabrikkomplexes. Reichert zieht sich schnell noch ein Jackett über, geht voran, die Treppe runter, durch die Tür. Leicht muffiger Geruch. Im Lagerraum türmen sich die Holzkisten, eine Art extensive Erdsammlung. 3800 Kisten voller Bohrkerne aus Testgrabungen, sorgfältig beschriftet mit Tiefe und Fundort. Reicherts Kostbarkeiten sind die Kisten aus Storkwitz, das Zeug, das 2012 bei der ersten Bohrung aus dem Weizenfeld geholt wurde. „Magmatisches Gestein“, sagt er und nimmt einen der Brocken in die Hand. „Das kam glutflüssig aus dem tiefsten Inneren der Erde. Irgendwann ist es stecken geblieben und abgekühlt.“ Hier also sind die wertvollen Seltenen Erden drin. Aber wie sollen sie da wieder herauskommen? 400 potenzielle Abbaustellen für Seltene Erden gibt es weltweit. Überall versuchen Männer wie Reichert, diese aus ihrem Trägermaterial herauszulösen. In China, dem Hauptförderland, werden sie unter fragwürdigen Bedingungen abgebaut. In Storkwitz allerdings möchte man Verfahren verwenden, die ökologisch so einwandfrei wie möglich sind. Seltene Erden made in Germany: ein nachhaltiges Vorbild für den Rest der Welt.

Einfach ist das nicht. Um mit weniger harter Chemie auskommen zu können, braucht man die Hilfe von Lebewesen. Miniorganismen mit seltsamen Manieren und außerordentlichen Talenten. Biomining heißt das Stichwort. Die Förderung von Metallen mithilfe von Bakterien ist seit den 70er-Jahren bekannt. Heute werden bereits etwa 15 Prozent des weltweiten Kupfers auf diese Art abgebaut, drei Prozent des Goldes, ebenso Nickel, Kobalt, Zink. Das Prinzip, vereinfacht gesagt: Bestimmte Organismen können Metalle aus dem Erz lösen. Daher ist Biomining billig und ökologischer als andere Methoden. Was allerdings noch fehlt: Organismen, die Seltene Erden knacken.

Aber zum Glück gibt es nicht nur Bohrkern-Sammler wie Jörg Reichert, sondern auch Bakterien-Archivare. Zum Beispiel – und das bringt uns zum dritten Schauplatz dieser unglaublichen Geschichte – in Zwingenberg in Hessen. Bei der Brain AG. Einer Bio­bank, die über 33 000 verschiedene Organismen in ihren Gefrierschränken hat, ein ebenso einzigartiges wie bizarres Archiv der Bakterien und Pilze, der Algen und Archaea. Normalerweise kommen Kunden aus der Pharmaindustrie, der Landwirtschaft oder chemischen Industrie hierher. Irgendwann standen auch hier, wie damals beim De­litzscher Bürgermeister, die Herren von der Seltenerden AG vor der Tür. Wenn es irgendwo auf der Welt einen Organismus gibt, der Seltene Erden mag, so dachten sie, dann dort.

Die Biologin Esther Gabor arbeitet bei der Brain AG, eine Art Partnervermittlerin für Mikroorganismen. Im Grunde, findet sie, ist jedes Lebewesen eine effiziente, über Millionen Jahre entwickelte Biofabrik, von der man lernen kann. „Es gibt für jeden Zweck ein Vorbild“, sagt Esther Gabor. „Man muss es nur entdecken.“

Und so begann, nachdem vom ersten gro­ßen Verdacht der DDR-Uransucher bis zur Sicherstellung der Storkwitzer Brocken im Kellerraum von Jörg Reichert rund 40 Jahre vergangen waren, das nächste, vielleicht letzte Kapitel in der großen Jagd nach den deutschen Seltenen Erden: die Suche nach dem passenden Bakterium.

Eine mühsame Mission ersten Grades. In Bergwerken kratzten die Brain-Forscher Organismen von den Wänden, sie nahmen Proben von mit Schwermetallen verseuchten Flächen, fischten in Vulkangewässern. Die seltsamen Lebensformen, die an diesen Orten lebten, wurden von Esther Gabor isoliert, vermehrt und archiviert. Ziel der Rasterfahndung: ein Organismus, der so speziell lebt, dass er dafür ein bestimmtes Seltene-Erden-Metall braucht.
Gabor stellte eine Nährlösung her, eine besonders lebensunfreundliche Säure, um die Bedingungen beim Abbau der Seltenen Erden zu simulieren. Tausende Arten von Kleinstlebewesen, die auch nur irgendwie infrage kamen, trug sie auf Zuchtplatten auf. Zwölf Spalten in acht Reihen, 96 Kolonien pro Platte. Nur etwa ein Prozent der Organismen wuchs überhaupt, das entspricht einem Treffer pro Platte. Eine Arbeit, so ähnlich, als wolle man in einem ausverkauften Fußballstadion genau die Person finden, die Lakritze liebt, Kartoffelbrei hasst, sich im November 2007 das rechte Bein gebrochen hat und deren Vorname mit Q beginnt. Ohne irgendjemanden dazu befragen zu können.

Manche von Gabors Organismen wuchsen nicht nur. Sie bildeten zusätzlich auch gelbe Höfe um die Bakterienhaufen. Das bedeutete: Sie konnten nicht nur überleben, sie verarbeiteten das Nährmedium, lagerten es ab. In den Ablagerungen von zwei Exemplaren fand die Forscherin dann tatsächlich Spuren einer Seltenen Erde: Scandium. Ein Durchbruch zum Sektkorkenknallen, den man Außenstehenden kaum erklären kann. Die Entdeckung der ers­ten bekannten Organismen, die sich zum Biomining der Seltenen Erden eignen. Zwei klitzekleine Pioniere, die auf eine Zeit hindeuten, in der die Versöhnung zwischen Technologie und Natur im dreckigen Bergbaugeschäft gelingen könnte. Eine Zeit, in der Bakterien die Rohstoffe für die Industrie gewinnen.
Als Gabor sich dann die Storkwitzer Bohrkerne aus Reicherts Keller vornahm, fand sie in einer Gesteinsprobe – die aus 371 Meter Tiefe stammte – einen der Organismen im Magma, die Scandium mögen. Der Knacker, ein stäbchenförmiges Pseudomonas-Bakterium, erhielt feierlich die nächste freie Inventarnummer, die 32 615. Nun ist er der Hoffnungsträger der Brain: BR32615 löst Scandium aus dem Erz, reichert es in hoher Konzentration in seinem Körper an. Genaueres will Esther Gabor nicht sagen. Organismen lassen sich nicht patentieren. Die Konkurrenz könnte sich das Geheimnis jederzeit schnappen.

Natürlich ist das noch längst nicht das Ziel. In einem Spiel mit vielen Levels ist Esther Gabor gerade mal eine Ebene weiter gekommen – schließlich gibt es 17 verschiedene Seltene-Erden-Elemente. Drei Jahre wird es mindestens noch dauern, rechnet sie vor, bis man immerhin zehn bis zwölf Biomining-Bakterien dafür gefunden haben könnte.

Und ganz kampflos werden die Chinesen ihre internatio­nale Vormachtstellung sicher nicht aufgeben. Nach den ersten Bohrungen von Storkwitz sanken plötzlich die Weltmarktpreise für Seltene Erden aus China, womöglich eine gezielte Aktion, sicher nicht gegen Storkwitz, aber insgesamt gegen die Versuche des Westens, weltweit neue Lagerstätten zu erschließen: Das Land wolle die Konkurrenz kaputt machen, glauben einige. Andere schieben den Preisverfall auf den florierenden Schwarzmarkt. Vielleicht wird das Ganze doch noch zum Krimi, zum Wirtschafts- und Bergbau-Thriller. Zu dessen Höhepunkt dann auch noch eine Armada unbekannter, bizarrer Bakterien auftauchen wird.

In Storkwitz wird womöglich erst einmal wieder Ruhe einkehren, absolute Ruhe, bevor die Geschichte aufs Finale zuläuft. Obwohl es dort ja in der Regel eh schon ruhig genug ist. Eine zweite Bohrung, die wertvolle Erkenntnisse über die wahren Dimensionen des Vorkommens bringen könnte, hat Jörg Reichert von der Seltenerden Storkwitz AG erst mal verschoben: nicht finanzierbar im Moment. Scandium, die Seltene Erde, für die es bei der Brain AG schon die passenden Organismen gibt, ist in Storkwitz sowieso nur vergleichsweise schwach konzentriert, man müsste erst auf weitere Laborfortschritte warten. Dennoch lässt sich einer wie Reichert wegen solcher Stolpersteine natürlich nicht von seiner großen Vision abbringen.

„Ich kann keine Jahreszahl für Storkwitz nennen“, sagt Reichert, als er die Lagertür wieder hinter sich abschließt. „Aber es gibt ja nicht nur diese eine Lagerstätte.“ Und die Bakterien wie Kumpel BR32615, sie könnten überall zur Stelle sein. Wenn man sie erst mal gefunden hat.

Für 2020 haben Experten einen weltweiten Bedarf von 240 000 Tonnen Seltener Erden errechnet. Das Mikro-Kroppzeug kann schon mal die Ärmel hochkrempeln.

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