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Zaudern oder zupacken: Das Digital-Dilemma der deutschen Wirtschaft

von Karsten Lemm
Immer Einsen und Nullen, muss das wirklich sein? Beim Wirtschaftsgipfel der Süddeutschen Zeitung in Berlin rangen Politiker und Unternehmer mit der unvermeidlichen Einsicht: Die Digitalwelt bringt Veränderung, Verunsicherung und Fragezeichen. Während die einen mit dem Wandel hadern, bauen die anderen neue Firmen – und zeigen: Auch Deutschland kann vorn mit dabei sein.

„Ich denke aktuell nur in Türen“, sagt Christian Bogatu. „Jede Tür zählt für mich.“ Ein klassisches Gründer-Statement. Bogatu ist Miterfinder eines vernetzten Türschloss-Systems und versucht, mit seiner Firma Kiwi Teil der nächsten digitalen Revolution zu werden: Smart Citys und Smart Homes brauchen schlaue Infrastruktur – zum Beispiel Schlösser, die automatisch öffnen, wenn die Feuerwehr vor der Tür steht. „In 40 Prozent der Fälle“, sagt Bogatu, gehe bei Rettungseinsätzen kostbare Zeit verloren, weil erst einmal jemand gefunden werden müsse, der die Retter ins Haus lassen kann. Kiwi soll das ändern. In Berlin werden bereits Hunderte von Wohnungen mit den neuartigen Schlössern ausgestattet.

Bogatu hat für ein paar Stunden eine Auszeit vom Startup-Bauen genommen, um an einer Podiums-Diskussion zur Frage „Wie schaffen wir ein innovatives Ökosystem?“ teilzunehmen. Er sitzt auf der Bühne im Berliner Adlon-Hotel – eine noble Adresse, direkt am Brandenburger Tor. Hier findet drei Tage lang der Wirtschaftsgipfel der Süddeutschen Zeitung statt, ein alljährliches Treffen der Reichen und Einflussreichen. Unternehmer, Topmanager, Politiker besprechen Fragen der Zeit zu Gesellschaft, Geld und Zukunft. Dominantes Thema diesmal, neben der Flüchtlingskrise: Alles wird digital, ob wir wollen oder nicht.

Der digitale Wandel wirbelt alles durcheinander. Das verlangt nach Regeln und Verordnungen.

Viele wollen eigentlich lieber nicht, aber was bleibt ihnen übrig? Der Aufsichtsratschef der Deutschen Bank, Paul Achleitner, preist die Mitarbeiter in seinen Filialen als wichtigstes Kapital – „das so genannte Rumlaufvermögen“ –, weiß aber auch, dass viele dieser Filialen in den kommenden Jahren wohl geschlossen werden. „Die gesamte Finanzindustrie befindet sich in einem Umbruch, der fundamentale Konsequenzen haben wird“, erklärt er und gibt offen zu, dass Banken dabei sehr spät dran sind. DGB-Vorstand Reiner Hoffmann kann sich zwar dafür begeistern, dass Uber-Fahrer weniger Zeit durch Warten verlieren als traditionelle Taxifahrer. „Wir sehen, da gibt es erhebliche Potenziale“ zur Optimierung, lobt er – um gleich die Warnung folgen zu lassen, dass die Gewinne aus solchen Optimierungen auch den Fahrern zukommen müssten, nicht nur einer Firma wie Uber. „Sonst wird es keine gesellschaftliche Akzeptanz geben.“

Dieses „Ja, aber“ ist allgegenwärtig bei der Konferenz. Möglichkeiten, die das Neue bieten könnte, treten vorwiegend in Begleitung von Mahnungen auf. Die Autorin und Unternehmerin Anke Domscheit-Berg etwa wittert bei Drohnen die Gefahr, dass finstere Mitmenschen die ferngesteuerten Flieger dazu nutzen könnten, anderen Leuten Gift ins Essen zu werfen. Justizminister Heiko Maas fällt zu Wearables und dem Internet der Dinge als erstes die Forderung ein: „Der Kunde muss das letzte Wort über seine Daten haben, und ich muss mich frei entscheiden können, ob ich so viele Daten preisgeben will.“ Ohnehin sind sich alle einig, dass man dringend etwas tun müsste, um Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB) zu vereinfachen, die jeder gern in Sekundenschnelle wegklickt.

Gesetze sollen her, Regeln, Vorschriften, Verordnungen, um das Chaos zu bändigen, das der ungestüme Wandel mit sich bringt. Dieser Drang, alles erstmal abzusichern, lässt manche verzweifeln. „Wir verpassen gerade den Anschluss“, warnt die Genetikerin Saskia Biskup, die mit ihrem Startup CeGaT daran arbeitet, Tumore durch Genalyse besser heilbar zu machen. Die allgegenwärtige Sorge um Datenschutz bremse Deutschland im Wettlauf um medizinische Fortschritte aus, argumentiert sie. Wer nicht bereit sei, Einblicke in persönliche Daten zu geben, könne auch nicht von persönlichen Behandlungsmethoden profitieren, die erst durch Datenanalyse möglich werden. „Dann bekommt man halt seine 400 Milligramm Aspirin“, sagt Biskup, „so wie jeder andere.“

Aktuell sind wir kein Gründerland mehr.

Prof. Isabell Welpe

Die Münchner Wirtschaftswissenschaftlerin Isabell Welpe sieht in den „Strukturen, die uns in der alten Welt so erfolgreich gemacht haben“, nun eher Hindernisse: Die deutsche Neigung, alles gründlich zu durchdenken, hierarchisch zu planen und möglichst zu warten, bis Produkte in den Augen ihrer Entwickler hundertprozentig gelungen sind – all das seien Nachteile in Zeiten ständigen schnellen Wandels. „Aktuell sind wir kein Gründerland mehr“, sagt Welpe. „Wir müssen darauf setzen, dass die digitale Transformation bestehender Unternehmen gelingt.“

So wie bei Klöckner. Der 109 Jahre alte Stahlriese mietete sich vor einigen Monaten im Berliner Betahaus ein – einer Art Startup-WG –, um aus der Nähe zu erfahren, woher womöglich die Konkurrenz von morgen kommt. „Wir suchten Vernetzung und wollten herausfinden, warum Startups so viel schneller sind als wir Corporates“, erklärt Gisbert Rühl, Vorstandschef des 10.000-Mitarbeiter-Unternehmens. Er gilt jetzt als Musterbeispiel für den vorausdenkenden Topmanager, wird gelobt, gefeiert, auch von Kollegen bewundert. Anfangs allerdings, so erzählt er am Rande der Konferenz, schüttelten die meisten nur verwundert den Kopf.

Keiner will jemals etwas falsch machen.

Hans-Christian Boos

Ideen, die sich erst noch beweisen müssen, haben in Deutschland traditionell einen schweren Stand. Hans-Christian Boos kennt das nur zu gut. Mit seiner Firma Arago arbeitet er seit 20 Jahren an Expertensystemen, die künstliche Intelligenz nutzen, um Kunden beim Optimieren von Alltagsprozessen zu helfen. Trotz der Erfahrung falle es seinem Unternehmen in Deutschland weiter schwer, Kunden zu finden, sagt Boos. „Wir ringen mit der Mentalität: Keiner will jemals etwas falsch machen.“ Viele Unternehmen investierten 80 Prozent ihres IT-Budgets, damit alles beim Alten bleibe. „Lieber nichts machen als Fehler, von denen man sich erholen muss“, sagt Boos. Amerikaner zeigten sich experimentierfreudiger: „Wir verkaufen mehr in den USA als in Deutschland.“

Dabei wissen ja eigentlich alle, dass nichts bleiben kann, nichts bleiben wird, wie es ist. Und dass es Zeit wird, doch mal Neues auszuprobieren, Dinge zu riskieren. Am deutlichsten sagt es ausgerechnet ein Politiker, der EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft, Günther Oettinger. „Es wird Verlierer geben“, wirft er gleich zum Auftakt seines Auftritts in den Saal und spricht von der Herausforderung, gegen Silicon-Valley-Giganten anzutreten, die einen natürlichen Vorteil haben: 320 Millionen Menschen vor der eigenen Haustür, die alle dieselbe Weltsprache sprechen. Dazu noch Universitäten wie Stanford, Harvard oder das MIT als Talentschmieden. „Einige von Ihnen werden Verlierer sein“, warnt Oettinger, ein Christdemokrat. „Sie wissen es nur noch nicht.“

Was Oettinger nicht erwähnt, ist ein weiterer Wettbewerbsvorteil, den zumindest das Silicon Valley besitzt: Geldgeber mit tiefen Taschen, so genannte VCs, die nicht zögern, ihr Kapital auch anzulegen. „Amerikanische VCs glauben an das Team und die Idee“, sagt Kiwi-Mitgründer Christian Bogatu. „Sie sind visionärer.“ Er hat sich trotzdem vorgenommen, im jungen, schnell wachsenden Markt für schlaue Schlösser ganz vorn mitzuspielen. Jede Tür zählt.

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