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Citizen Ex: Digital sind wir schon lange keine Staatsbürger mehr

von Max Biederbeck
Online zählt eine Nationalität nichts mehr. Schon lange weicht sie insgeheim auf, unsere Bürgerrechte werden somit verwässert. Ein neues Addon für Firefox, Safari und Chrome führt über unsere digitalen Nationalitäten nun beängstigend genau Buch — per Live-Tracker.

Im Moment bin ich zu 14 Prozent Ire. Zu 50 Prozent komme ich aus den USA, ein Drittel von mir ist noch deutscher Staatsbürger. Und immerhin vier Prozent meines Ichs sind Teil der russischen Föderation. Also meines digitalen Ichs zumindest. Das zeigt mir das Browser-Addon Citizen Ex.

Der Londoner Künstler und Aktivist James Bridle hat die Anwendung entworfen, um auf eine Tatsache aufmerksam zu machen: Ja, vielleicht steht eine bestimmte Nation in meinem Pass. Die Frage nach meiner wirklichen Staatsbürgerschaft ist aber längst wesentlich komplizierter geworden, zumindest digital. Je länger ich im Internet lebe (und das tue ich schon sehr lange), desto mehr werde ich zum „Algorithmic Citizen“. Denn wo meine Informationen und meine Online-Daten sind, da bin auch ich.

„Staatsangehörigkeiten sind eines der Schlachtfelder des 21. Jahrhundert“, sagt Bridle. Das habe mit Globalisierung zu tun, und auch mit den online immer irrelevanter werdenden Grenzen eines Landes. Zum ersten Mal fiel dem Künstler das auf, als er einen Artikel über die Tötung von britischen Staatsbürgern mithilfe von Drohnen der Royal Airforce schrieb.

„Die Hinrichtungen wurden damit begründet, dass man den Männern vorher den britischen Bürgerstatus aberkannt hatte“, erinnert sich Bridle. Weil er selbst einen Tech-Hintergrund hat, fielen ihm immer mehr solcher Beispiele auf. Fälle, in denen nicht etwa Staatsgrenzen, sondern der Einsatz von Technologie bestimmte, wer wir eigentlich sind.

Es ging um Flüchtlinge, die per Skype interviewt wurden, um über ihre Aufenthaltserlaubnis zu entscheiden und um die Folgen der Snowden-Dokumente, die gerade aktuell wieder zeigen: Geheimdienste wie NSA und BND schauen schon lange nicht mehr, in welchem Staat sie ihre Ziele verfolgen. „Wir sehen uns als Bürger und unsere damit verbundenen Rechte als etwas Selbstverständliches, aber das ist schon lange nicht mehr so“, sagt Bridle.

Also programmierte er zum Anlass des englischen „Web We Want“-Festivals ein Browser-Addon, das genau diese Tatsache verdeutlichen soll. Vor ein paar Tagen erst hat er es gelauncht. „Ein Kunstprojekt zum Mitmachen“, wie Bridle sagt. Hat man Citizen Ex erst einmal installiert, verschafft es sich Zugang zur IP-Adresse des eigenen Providers und zur sogenannten Remote-IP. Das ist der Ort, an dem die eigenen Daten verwaltet und weitergeleitet werden. Tippt man eine Nachricht bei Facebook ein, oder startet eine Suchanfrage bei Google, so viel sollte mittlerweile klar sein, machen sie eine Reise um die Welt. Citizen Ex visualisiert diesen Prozess auf einer Karte und anhand von Flaggen und Prozentangaben und zeigt, was er eigentlich bedeutet.

Die eigene Online-Identität schwirrt unkontrollierbar in der Welt umher.

Mit jeder besuchten Seite aktualisiert sich auch das Addon. Schnell wird klar: Die eigene Online-Identität schwirrt in der ganzen Welt unkontrollierbar umher, der Internetbürger hat keine Nationalität. Citizen Ex bietet sogar eine Weltkarte an, auf der es die Querverbindungen aufzeichnet. „Ich wollte mit persönlichen Daten klar machen, wie gespalten unsere persönlichen Rechte im Netz sind, ohne dabei selbst die Privatsphäre der Leute zu verletzen“, sagt Bridle. Ob man den Mangel an Staatszugehörigkeit und den damit verbundenen Rechten und Pflichten nun als gut oder schlecht empfinde, sei dahingestellt. Eine Dystopie oder düstere Zukunftsversion sei Citizen Ex jedenfalls nicht.

Der „Algorithmic Citizen“, er existiert längst, wie Bridle schon auf der re:publica 2015 andeutete. Unsere Identität und unsere Rechte im Netz verändern sich ständig, ähnlich wie ein mathematischer Algorithmus. Und das gilt nicht nur für unsere Staatsbürgerschaft.

„Bald werden Informationen, über die wir nichts wissen, entscheiden, ob wir wählen dürfen oder ob wir einen Kredit aufnehmen können“, sagt Bridle. Darf etwa nur wählen, wer zu einem Zehntel Staatsbürger ist, oder zu 21,5 Prozent?

Eine Zukunfsvision, deren wahrer Kern sich schon jetzt zeigt. In Großbritannien gibt bereits eine Debatte zum Thema EU-Referendum. Die Streitfrage: Dürfen europäische Einwanderer sich am Volksentscheid zum Verbleib in der Europäischen Union beteiligen? „Das zeigt, dass ein neuer rechtlicher wie kultureller Kampf darum entsteht, wer wir sind“, erklärt der Künstler.

Nachdem ich einiges an Zeit in diesen Text investiert und natürlich zwischendurch prokrastinierend im Internet gesurft habe, hat sich meine Staatsbürgerschaft übrigens schon wieder verändert. Jetzt bin ich auch noch zu 1,73 Prozent Chinese. 

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