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Wie es sich anfühlt, mit einem Anzug zu trainieren, der Muskeln unter Strom setzt

von Tim Rittmann
Muskelaufbau mithilfe von gezielten Stromstößen — was nach Teleshopping-Trash klingt, ist inzwischen weitgehend etabliert. Allerdings vor allem bei Medizinern und Profisportlern. Ein deutscher Entwickler will die Technologie nun für den Massenmarkt herstellen.

Der Anzug funktioniert, dabei habe ich ihn noch gar nicht eingeschaltet. Das ist das Motivierende an guter Kompressionskleidung: Das hautenge Material verteilt die Wampe schön gleichmäßig und man sieht direkt kerniger aus. Der zweiteilige Anzug namens Antelope aus leitender Polymer soll jedoch keine Problemzonen kaschieren — er soll sie verschwinden lassen.

Antelope besteht aus Hard- und Software: In Oberteil und Hose wurden Elektroden eingewebt. Der sogenannte Booster — eine Befehlseinheit in der Größe eines Smartphones, die seitlich auf Hüfthöhe angebracht wird — steuert mit Elektroimpulsen gezielt einzelne Muskelgruppen an. So können Bauch, Rücken, Po, Arme oder Beine stimuliert werden. Geht es nach den Entwicklern von Wearable Life Science aus Nürnberg, macht Antelope irgendwann Fitness-Studios, Geräte und sogar Personal Coaches überflüssig. „Disruptiv“ soll der Anzug sein, wie man das im Startup-Sprech nennt.

Vor dem ersten Ausprobieren bin ich nervös. Vielleicht tut es weh, und „fit durch Strom“, das klingt irgendwie unseriös, nach leeren Teleshopping-Versprechen. Tatsächlich nutzt der Anzug eine ähnliche Technologie wie der allseits bekannte Bauchweg-Gürtel aus dem TV-Verkaufs-Marathon. EMS steht für Elektrische Muskelstimulation und wird schon lange in der medizinischen Reha eingesetzt. Auch Hochleistungssportler nutzen das Training aus der Steckdose. Es gibt ein Video auf YouTube, in dem Sprintweltmeister Usain Bolt auf dem Bauch liegt und seinem Trainer einen Ball zuwirft. Dabei ächzt und stöhnt er, als würde er eine 200-Kilo-Hantel stemmen. Verkabelt ist der Top-Athlet mit einem stationären EMS-Gerät, das aussieht wie Krankenhaus-Equipment.

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Der Anzug, den ich ausprobiere, ist die mobile Weiterentwicklung dieses stationären Geräts. Der Booster, der die Elektroimpulse auslöst, wird per Bluetooth angesteuert. Eine App regelt, wie intensiv meine Muskeln unter Strom gesetzt werden, und ob in Intervallen oder mit gleichbleibender Spannung. Bei sieben Prozent Belastungsintensität merke ich bloß ein leichtes Kribbeln. Der Regler wird aufgedreht, bei 15 Prozent werden meine Bauchdecke und die Brustmuskeln hart.

Bei 15 Prozent werden Bauchdecke und Brustmuskeln hart.

In der Werbung für trashige Bauchweg-Gürtel lümmeln sich braungebrannte Menschen auf Sitzmöbeln, während ihre Muskeln lustig zucken. Der Waschbrettbauch, so sagen sie, sei ganz ohne Anstrengung gekommen, frei Haus — beziehungsweise für nur 59 Euro. Das ist natürlich Quatsch. Aber sportwissenschaftliche Studien weisen auf einen Zusatzeffekt hin, egal ob für den Muskelaufbau oder mehr Ausdauer, wenn man EMS und Training kombiniert. Natürlich in Maßen, im schlimmsten Fall kann es zu Muskelfaserrissen durch absolute Überlastung kommen. Denn der elektrische Impuls sorgt für eine Spannungserhöhung, einen optimaleren Reiz in den Muskelfasern. Das dürfte der Grund sein, warum Usain Bolt in dem Video so angestrengt aussah. Weil es anstrengender ist.

Ich drehe die Intensität weiter auf. Bei 20 Prozent will ich den Arm anwinkeln wie beim Hantel-Training, doch er gehorcht mir nicht mehr richtig. Es ist, als würde ich gegen einen unsichtbaren Widerstand drücken. Das Kribbeln fühlt sich inzwischen eher unangenehm an. Ich frage mich, wie man so laufen soll. Dabei wären zum Beispiel Triathleten eine interessante Zielgruppe. Wer zum Warmmachen einen Halbmarathon absolviert, für den dürfte es interessant sein, gleichzeitig auch die Rumpfmuskulatur zu stärken. Und würde ein Bauchweg-Anzug wirklich den Gang ins Fitness-Studio ersparen, wäre er definitiv nicht nur für Ausdauersportler interessant, sondern auch für den Massenmarkt.

Als würde mein Körper in einem Ameisenhaufen liegen und durch einen großen Stein beschwert.

Derzeit sprießen EMS-Studios wie Pilze aus dem Boden. Etwa 500 gibt es in Deutschland, sie werben mit 20-Minuten-Workouts — damit in der Mittagspause wenigstens noch Zeit für einen leckeren Salat bleibt. Der Antelope-Anzug konnte von der Begeisterung für EMS bereits profitieren, das Finanzierungsziel der Crowdfunding-Kampagne wurde ums Siebenfache überschritten. Aber: Der Gedanke, mehrere Kilometer in diesem Anzug zu absolvieren, während mein Körper sich anfühlt, als würde er in einem Ameisenhaufen liegen und durch einen großen Stein beschwert, lässt mich zweifeln, ob Antelope wirklich etwas für den Hausgebrauch ist.

Auf dem Trimm-Dich-Pfad im Berliner Volkspark Friedrichshain, meiner Standard-Laufstrecke, mache ich einen letzten Test. Der Wind ist kalt, aber als der Strom zu fließen beginnt, wird es tatsächlich wärmer. Meine Beine sind schon auf den ersten Metern so schwer, als wäre ich bereits 15 Runden gelaufen, mein Rücken ist kerzengerade, als würde ich einen Berg hinauf joggen — auf flachem Gelände. Das Kribbeln merke ich nach einer Weile nicht mehr, mein Körper hat sich daran gewöhnt. Immerhin.

Leider konnte ich den Anzug-Prototypen nicht wirklich ausführlich testen. Innerhalb von vier Wochen wäre meine generelle Leistung angeblich um knapp ein Drittel gesteigert worden, die Sprungkraft um 20 Prozent, das Muskelvolumen um ein Zehntel. Und, ach ja, und Rückenschmerzen wären quasi über Nacht zur Zivilisationskrankheit von gestern geworden. So verspricht es jedenfalls die Antelope-Website. Und dieses Versprechen kostet: Kommt der Anzug im Frühjahr 2016 auf den Markt, kostet das Komplettpaket stolze 1300 Euro — ein Preis, der die meisten Hobby-Athleten vorerst abschrecken dürfte. 

In unserer Serie „Gamechanger“ beantwortet Tim Rittmann noch mehr Fragen zum Sport der Zukunft — und dabei geht es nicht nur um König Fußball. 

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