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Zum Start von „Daredevil“ waren wir im War Room von Netflix

von Britta Wedeling
Bei der Weltpremiere der düsteren Comic-Serie „Daredevil“ gewährte Netflix erstmals einen Blick hinter die Kulissen seiner Schaltzentrale, in der das Unternehmen die Zukunft des Fernsehens erfindet. WIRED Germany war dabei.

Selbst bei der Deko haben sie an jedes Detail gedacht. Auf dem langen Holztisch stehen Miniaturen des Empire State Buildings neben einem Strauß blutroter Rosen und typischen New Yorker Taxis in Spielzeuggröße. Dazwischen hocken Mitarbeiter von Netflix vor ihren Laptops. Noch 30 Minuten bis zur Premiere von „Daredevil“, der neuen Netflix-Serie nach dem legendären Marvel-Comic, die um Mitternacht Ortszeit von der Konzernzentrale im kalifornischen Los Gatos aus in über 50 Ländern auf der ganzen Welt live gehen wird und im New Yorker Bezirk Hell’s Kitchen spielt. In 13 Episoden zeigt die erste Staffel die Entwicklung des blinden Anwalts Matt Murdock zum Superhelden.

Die Firma, die Hollywood und die TV-Industrie aufgemischt hat, will sich nicht in die Logfiles des Erfolges gucken lassen.

Der War Room ist die Schaltzentrale von Netflix, dem Konzern, der im südlichen Silicon Valley gerade die Zukunft des Fernsehens erfindet. Noch vor fünf Jahren war die Firma nur als DVD-Verleih bekannt, der seinen Nutzern Filme in roten Umschlägen mit der Post zuschickte. Heute investiert Gründer Reed Hastings dreistellige Millionensummen in eigens produzierte Serien und schickt die Inhalte statt per Post digital auf die Bildschirme seiner Fans. Sogar eigene Kinofilme sind geplant. Netflix ist zum Inbegriff davon geworden, wie das Internet unsere Sehgewohnheiten verändert hat.

In dem vollgestopften Raum im dritten Stock laufen bei jedem Launch einer neuen Serie alle Informationen zusammen. Die Szenerie aus hunderten Kabeln, flackernden Kameralichtern und Menschen mit Stressflecken im Gesicht gleicht einem Schlachtfeld. Für den Konzern geht es um viel, zum ersten Mal launcht Netflix ein neues Produkt in diesem Umfang, die Erwartungen der weltweit 57 Millionen Streaming-Fans sind riesig.

Was die Produktionskosten für das Marvel-Epos angeht, hält man sich bedeckt — wie bei nahezu jedem Detail zu Netflix. Die Firma, die Hollywood und die Fernsehindustrie aufgemischt hat, will sich nicht in die Logfiles des Erfolgs gucken lassen. Wie viel Geld man für „Daredevil“ ausgegeben hat? Wie Netflix unterschiedliche Geschmäcker oder kulturelle Unterschiede einbezieht und nach welchen Kriterien Inhalte, Plots, Figuren und Schauspieler ausgewählt werdent? Zentrale Fragen beantwortet das Unternehmen nicht. Aber das Publikum kann getrost davon ausgehen, dass die Geschichte des blinden Matt Murdoch, gespielt von Charlie Cox, der tagsüber als Anwalt arbeitet und in der Nacht Kriminelle verprügelt, eine extrem aufwendige Produktion war. 

Noch 20 Minuten. An dem langen Tisch starren Chris Jaffe, verantwortlich für den Launch, und Big Data-Experte Todd Yellin gespannt auf eine Leinwand, auf der langsam die roten Lettern einer Uhr ablaufen. Um sie herum im ganzen Raum verteilt zeigen Bildschirme die Netflix-Startseiten der wichtigsten Länder, in denen es den Streamingdienst gibt, von den USA über Großbritannien und Deutschland bis hin zu Brasilien.

An einem normalen Abend belegen amerikanische Netflix-Nutzer ein Drittel der US- Breitbandkapazität.

Viele Menschen dort werden alle „Daredevil“-Episoden in einem Schwung durchgucken. Netflix hat den Fernsehkonsum revolutioniert. So kommt es, dass an einem normalen Abend amerikanische Netflix-Nutzer rund ein Drittel der amerikanischen Breitbandkapazität belegen. Das führt laut Netflix zu einem völlig neuen zwischenmenschlichen Problem, dem sogenannten „Stream-Cheating“: ein Partner schaut ohne den oder die Liebste die gemeinsame Serie weiter.

Kein TV-Unternehmen weiß mehr über seine Zuschauer als Netflix, dessen Konferenzräume Namen haben wie „Sex and the City, „Herr der Ringe“ oder „Batman“. Am Eingang der Herrentoilette grinst Cary Grant. Durch den Konferenzraum blickt Frank Underwood, der Protagonist von „House of Cards“. Netflix ist ein bisschen Hollywood, aber dann auch wieder nicht. Reed Hastings, der das Unternehmen 1997 gründete, hat Technologie auf die Film-Industrie angewandt: Die vielen Bildschirme mit den steilen Graphen, die auf allen Stockwerken von der Decke hängen, die Stapel von Smartphones, unzählige Computer, Charts und zitternde Kurven — sie alle demonstrieren das sehr deutlich.

Noch zehn Minuten. Wie genau das mit einem „globalen Publikum“ funktioniere, erklärt Yellin, das müsse man erst noch herausfinden. „Aber uns sind gute Inhalte wichtiger als der Algorithmus.“ Dennoch wird auch der ehemalige Dokumentarfilmer aus Los Angeles wissen, dass besonders die neuen Technologien Netflix so stark machen.

Netflix ist ein bisschen wie die Matrix. Sie wird immer wieder angepasst, manchmal ruckelt es, manchmal nicht.

Die Revolution funktioniert dabei in zwei Richtungen: Einerseits hat Netflix ein neues Verfahren entwickelt, Inhalte in hoher Qualität auszuliefern, trotz der riesigen Datenmengen von Video-Material und trotz der unterschiedlichen Bandbreiten in den unterschiedlichen Regionen der Welt. Netflix ist ein bisschen wie die Matrix. Sie wird immer wieder angepasst, manchmal ruckelt es, manchmal nicht. Das Unternehmen registriere etwa, erläutert Chris Jaffe, wenn der Empfang schlechter würde, zum Beispiel, wenn der Nachbar gerade hohe Datenmengen herunterlade. Dann werde automatisch die Qualität gesenkt, darunter leide zwar die Optik, dafür falle aber das Buffern weg. Zudem passt Netflix Serien und Filme permanent an neue Plattformen und Bildschirmgrößen an. Silicon-Valley-Firmen wie Apple versorgen den Konzern deshalb schon mit ihren neuen Geräten, bevor diese überhaupt auf den Markt kommen. Steve Jobs persönlich etwa brachte Firmengründer Reed Hastings vor Launch ein iPad vorbei.

Und die andere Richtung: Netflix evaluiert live die Vorlieben der Nutzer. Die Software registriert, wann sie einschalten, wie lange sie schauen oder wann sie die Serie wechseln. Yellin will nicht ins Detail gehen, aber: „Sie würden sich wundern! Die 77-Jährige, die sich Splatterfilme ansieht, es gibt sie.“

Der Einsatz von Big Data zur Verbesserung der eigenen Services gehört inzwischen natürlich zur gängigen Praxis nahezu aller Software-Unternehmen. Wie der Online-Händler Amazon gibt auch Netflix Empfehlungen ab, für Serien oder Filme, die den Nutzer ebenfalls interessieren könnten. 

Bastelt der Konzern seine Storys nach den Wünschen der Zuschauer?

Noch drei Minuten. Die Software wird regelmäßig überarbeitet. Netflix testet permanent verschiedene Funktionen, live und parallel gegeneinander in einem A/B-Testing. Dabei kann es um einen Dreh im Plot der Serie ebenso gehen wie um die Farbe des Startknopfs. Aber bastelt der Konzern seine Storys nach den Wünschen seiner Zuschauer, wie es immer wieder gerüchteweise heißt? Yellin grinst, bleibt aber auch hier nur im Ungefähren. Und natürlich, betont er — schließlich habe er die Journalistin eines deutschen Mediums vor sich und die Deutschen seien ja so „datensensibel“ — würden die Daten keinesfalls an Dritte weitergegeben.

Am langen Holztisch ist es inzwischen still geworden, die Zeit bis Mitternacht läuft langsam ab. An einem großen Schalthebel stehen Todd Yellin und Chris Jaffe, sie zählen den Coundown herunter. „3, 2, 1…0!“ Dann wird der Schalter betätigt. Auf der Leinwand erscheint der Schriftzug der neuen Netflix-Serie. „Sind wir live?“, fragt Jaffe seinen Nebenmann. Yellin reißt die Arme hoch, während auf den Bildschirmen um ihn herum das dunkle Gesicht des blinden Anwalts erscheint. „Ja, wir sind live!“ 

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