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Kosmos-Kolumne / Hakan Tanriverdi über die sogenannte Sousveillance

von Hakan Tanriverdi
Hilft gegen Überwachung am Ende nur — Überwachung? Mithilfe von Drohnen, Kameras und Datenbrillen? Ein Plädoyer für die sogenannte Sousveillance.

Wer im Mittelalter ein armer Bauer war und Taubenschläge besaß, dem drohte der Tod. Das schnelle Versenden von Nachrichten war ein Privileg der hohen Gesellschaft, der Zeitvorsprung galt als Machtinstrument. Wer schneller Bescheid wusste, konnte besser reagieren: Die Armee konnte Gegner ausspähen, überrumpeln, bezwingen, foltern, töten.

Die Zeit wird wichtiger als der Raum, argumentiert der französische Philosoph Paul Virilio. Eine Straße vom Dorf in die Stadt ermöglicht den Handel — und wer nicht mehr Unsummen für Reisen ausgeben muss, den Raum also vernachlässigen kann, der nimmt an der Welt teil, auch wenn er in seinem Dorf bleibt.  

Sousveillance ist die Aufforderung, die Kamera umzudrehen.

Mit dem Internet hat sich die Zeit als ordnendes Prinzip etabliert, zu unseren wichtigsten Straßen gehören auch Glasfaserkabel. Wir haben unseren Lebensmittelpunkt in das Netz verlagert und profitieren vom Instant-Zugriff. Daten in die Cloud, Nachrichten werden heute problemlos verschickt. Whatsapp und Facebook-Messenger gehören zu den meistgenutzten Diensten. Die längste Sekunde, die wir haben, ist die Edge-Sekunde, wenn das Smartphone keinen Empfang hat und die Daten nicht fließen, sondern tröpfeln.

Genau unter diesen Voraussetzungen des Instant-Zugriffs wird der Raum, den Virilio so vernachlässigt hat, wieder wichtig. Denn Überwachung findet ja nicht nur im Internet statt, das die NSA in einem für die Öffentlichkeit unsichtbaren Prozess kartografiert. Die Behörden sind längst dabei, auch den analogen Raum zu erfassen, mit Kameras und Drohnen. Compton, ein Vorort von Los Angeles, wurde beispielsweise von einem Flugzeug aus live gefilmt. „Es ist wie Google Earth mit Rückspulfunktion“, sagten damals die Verantwortlichen.

Um der Überwachung der NSA zu entkommen — so gut das eben geht —, gibt es die Strategie des Komparativs: mehr Verschlüsselung, leichtere Bedienung, bessere Aufklärung. Doch über die Art der Überwachung, die den Raum erobert, findet kaum eine Diskussion statt.

Das Problem: Technologien, die für Sousveillance stehen könnten, werden weithin abgelehnt.

Dabei gibt es ein Konzept, über das man nachdenken könnte. Es heißt Sousveillance, eine Idee des Informatikers Steve Mann. Am besten übersetzt man das Wort mit „Überwachung von unten“, im Wesentlichen ist es die Aufforderung, die Kamera umzudrehen, sie also auf die Überwacher zu richten. Mann hofft, dass dadurch eine größere Sensiblität gegenüber der Überwachung entsteht. Um einige Beispiele für Sousveillance zu nennen: alle Videos, die Polizeigewalt dokumentieren und in Gerichten als Beweismittel dafür sorgen, dass die Argumentationsbasis der Polizisten geschwächt wird. Jedes Drohnenvideo, sei es nun in Kiew oder Hongkong, das über die Demonstration hinwegfliegt und zeigt, ob es sich um ein paar Menschen oder eine Massenbewegung handelt.

Das Problem allerdings: Technologien, die für Sousveillance stehen könnten, werden weithin abgelehnt. Die Glass-Datenbrille von Google gilt zum Beispiel als Frechheit — als massives Eindringen in die Privatsphäre. Und ja, das kann eine Gefahr sein. Das Potenzial wird allerdings allzu schnell beiseite gewischt. Denn was eintreten wird, mit Drohnen, Google-Glass und jeder Art von Technik, die ab heute auf Kameras setzt, ist Folgendes: Sie etabliert einen Superheldenblick. Es ist kein bloßes Abbild der Realität mehr, es ist eine zusätzliche Schicht (oder eben ein augenblicklicher Wechsel in die Vogelperspektive). Das ist ein Gewinn.

Dass die Brille hässlich aussieht, können wir ignorieren. Es werden neue Modelle folgen. Wichtig ist, wofür die Technik eingesetzt werden könnte: Das beginnt bei klassischen Jobs wie dem eines Kfz-Mechanikers und endet als mögliches Tool, um Übergriffe durch Polizisten zu filmen, subtiler als mit Smartphones — und trotzdem effektiv genug, um eine öffentliche Debatte loszutreten. 

HAKAN TANRIVERDI arbeitet als freier Journalist unter anderem für das Digital-Ressort von „Sueddeutsche.de“, er twittert unter @hakantee. Für WIRED schreibt er regelmäßig über Netz- und Technologie-Themen. 

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