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Werner Herzog über Netflix, Oculus Rift und seine digitale Leibgarde

von Joachim Hentschel
Auf YouTube imitieren Leute seine Stimme und lesen damit Gute-Nacht-Geschichten vor. Ein Tumblr-Blog bas­telt aus seinen schönsten Sprüchen Motivationsposter, und seine Dokumentation „Grizzly Man“ ist ein Hit auf Netflix. Dass Werner Herzog — 72, aus München, als Regisseur in den Siebzigerjahren ein Vorkämpfer des Neuen Deutschen Films — zum Internet-Star werden würde, hätte keiner geahnt.

Besonders beliebt: der gravitätisch bebende Erzählton, mit dem er aus dem Off durch seine Dokumentationen über Tropfsteinhöhlen, Antarktis und kuwaitische Ölquellen führt. Sein neues Werk, „Königin der Wüste“ (Kinostart: 3.9.), ist ein Spielfilm mit Nicole Kidman in der Rolle der britischen Entdeckerin Gertrude Bell, die in der Zeit um den Ersten Weltkrieg durch den Nahen Osten reiste. Und im WIRED-Interview zeigt Herzog sich als Vertreter einer sehr raren Spezies: als traditionskultureller Mahner, der dennoch vom Internet besessen ist.

WIRED: Im Internet treiben sich viele falsche Werner Herzogs herum. Die Frage an Sie als Experten: Woran erkennt man den richtigen?
Werner Herzog: Sie müssen meine Filme anschauen, meine Texte lesen. Dann werden Sie schnell begreifen, mit wem Sie es zu tun haben. Allerdings haben auch diese Fälschungen ihren Reiz. Sie sind so etwas wie meine digitale Leibgarde. Und sie sind mir immer noch lieber als Leute, die im wirklichen Leben das Feuer auf mich eröffnen.

Wie großartig das Internet sein kann: Leute, die sonst mit Bazookas schießen, lösen plötzlich ein schweres Rätsel der Wissenschaft.

WIRED: Sie spielen auf ein TV-Interview an, während dessen Aufzeichnung in Los Angeles jemand mit dem Luftgewehr auf Sie schoss. Das Video hat auf YouTube mehr als zwei Millionen Klicks. Über 3,1 Millionen sahen dagegen Ihre Online-Doku „From One Second To The Next“, in der Sie für den Mobilfunkanbieter AT&T tödlichen Unfällen nachgingen, bei denen die Fahrer durch SMS abgelenkt wurden.
Herzog: Obwohl dieser Film 35 Minuten lang ist. Das ist auf YouTube eine völlige Anomalie. Aber es existiert heute ja auch weder im Fernsehen noch im Kino ein Format, in dem Sie einen halbstündigen Film zeigen könnten.

WIRED: Haben Sie YouTube damit als Plattform entdeckt?
Herzog: In der Tat arbeite ich gerade wieder an einem Projekt fürs Internet, über das ich aber noch nichts Genaueres sagen kann. Ein paar Filme, jeweils fünf, sechs Minuten lang, die wohl auf YouTube gezeigt werden. Wie gesagt: Gewöhnlich schaut dort ja niemand etwas an, das länger als achteinhalb Minuten dauert.

WIRED: Große Regisseure wie Woody Allen drehen jetzt auch für Plattformen wie Amazon oder Netflix. Für Sie eine Option?
Herzog: Natürlich. Die gesamte Vertriebslandschaft ändert sich rasant, und Netflix ist ja in erster Linie eine Vertriebsform. Wir müssen das klar sehen, auch als Künstler, die mit dem alten System groß geworden sind: Da kommen außerordentliche Möglichkeiten auf uns zu. Wie großartig das Internet sein kann, sieht man an anderen Beispielen ja noch besser: Sie kennen sicher die Geschichte von den Biochemikern der University of Washington, die 2011 zur Er­forschung eines Aids verursachenden Enzyms eine Art Videospiel einsetzten. In nur drei Wochen hatte die Game-Community die Struktur entschlüsselt. Da antwortet die Welt plötzlich in wunderbarer Weise: Leute, die sich sonst gegenseitig mit Bazookas beschießen, lösen plötzlich ein unerhört schwieriges Rätsel der Wissenschaft.

WIRED: Netflix tritt mittlerweile selbst als Kinoverleiher auf. Können Sie verstehen, dass manche traditionelle Kinobetreiber dieses Modell boykottieren?
Herzog: Das ist alles noch nicht getestet, wir müs­sen abwarten. Eines ist für mich klar: Das Kino, wie wir es kennen, wird bleiben. Aber in den schweren Wassern und Stürmen, die wir derzeit erleben, wird sich vieles neu ordnen. Natürlich befindet sich auch das Fernsehen im Sinkflug, völlig zu Recht übrigens. Das Niveau ist dort im selben drastischen Maß gesunken, wie das Publikum seine Aufmerksamkeit dem Internet zugewandt hat.

WIRED: Hat Werner Herzog selbst einen Netflix-Account?
Herzog: Nein. Ich habe ja nicht mal ein Cell Phone. Der letzte denkende Mensch, der keines haben will. Alles Wichtige erreicht mich trotzdem.

WIRED: Also: Sie meiden soziale Medien, interessieren sich aber für die digitale Öffentlichkeit. Wie machen Sie sich überhaupt ein Bild von ihr?
Herzog: Durch Nachdenken. Beobachten und Nachdenken. So einfach ist das.

WIRED: Wie kann man das alles beobachten, wenn man selbst nicht mitmacht?
Herzog: Das sind simple Dinge. Wenn ich mit jemandem am Mittagstisch sitze, ein Teenager sitzt dabei und klinkt sich aus dem Gespräch aus, schaut unter der Tischplatte diskret auf das Handy, auf irgendeine SMS, und ist plötzlich in einer Parallelwelt. Aber wir müssen jetzt auch nicht versuchen, die Welt zu erklären. Lassen Sie uns lieber über „Königin der Wüste sprechen“.

WIRED: Gerne. Was an Ihrem Film über die Archäologin Gertrude Bell besonders interessant ist: wie sie in den 1910er-Jahren mit den Stammesfürsten im Nahen Osten verhandelt. Ist das die Art von Diplomatie, die dem Westen zuletzt im Irak und in Afghanis­tan gut gestanden hätte?
Herzog: Das kann man so sagen. Gertrude Bell ist die historische Figur mit dem besten Verständnis für die Welt der Beduinen. Auch Lawrence von Arabien hat viele seiner Erkenntnisse von ihr geklaut.

WIRED: Sie arbeiten auch dieses Mal wieder ohne digitale Effekte. Könnten Experimente mit CGI oder Oculus Rift irgendwann für Sie infrage kommen?
Herzog: Wenn Sie Oculus Rift erwähnen: Da bin ich an vorderster Front mit dabei. Ich treffe mich derzeit mit ganz jungen Leuten, die versuchen, dafür Inhalte zu finden. Ich glaube, dass man viel zu kurz greift, wenn man in der 360-Grad-Virtualität nur eine Verlängerung von 3D-Technologie oder Videospielen sieht. Ich habe ein Memorandum dazu verfasst, das großes Aufsehen erregt hat.

WIRED: Wo kann man das lesen?
Herzog: Das ist noch intern. Aber in 50 Jahren wird es berühmt sein. Es geht mir ums innerste Wesen dieser Technologie. Und darum, alle denkbaren Irrwege zu vermeiden.

WIRED: Wirkt das traditionelle Kino im Jahr 2015 denn bislang zukunftsfähig auf Sie?
Herzog: Es gibt ja maximal vier gute Filme pro Jahr. Einer davon ist jedenfalls „The Look Of Silence“ von Joshua Oppenheimer, eine Dokumentation über die Aufarbeitung des indonesischen Völkermords.

WIRED: Wie fanden Sie „Citizenfour“, den Edward-Snowden-Film?
Herzog: Ich habe ihn noch nicht gesehen.

WIRED: Interessiert er Sie?
Herzog: Ich sehe lieber Filme als Journalismus. Und ich vermute, „Citizenfour“ ist Journalismus at its best. Aber mal schauen. 

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