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Snowden reloaded: Die Whistleblower organisieren sich

von Sonja Peteranderl
Sarah Harrison, Laura Poitras, Jacob Applebaum: Berlin entwickelt sich zum Hub für Überwachungsgegner, Investigativjournalisten und Hacker. Alle, die sich für Whistleblower, digitale Rechte und Privatsphäre engagieren wollen, finden hier Gleichgesinnte und die richtigen Netzwerke.

Was Sarah Harrison Whistle­blowern raten würde? Harrison lacht: „Melde dich bei mir, bevor dein Foto überall ist.“ Erst Stunden nachdem Edward Snowden im Juni 2013 an die Öffentlichkeit gegangen, zum Gesicht der weltweiten Massenüberwachung geworden war, wandte er sich Hilfe suchend an die Enthüllungsplattform WikiLeaks.

Er hatte an vieles, aber nicht an alles gedacht: etwa daran, dass er bei einem Auslieferungs­gesuch der USA vielleicht jahrelang in einem Hongkonger Gefängnis auf Asyl warten müsste. Was folgte, ist bekannt: WikiLeaks-Mitarbeiterin Harrison reiste nach Hongkong, besprach sich mit Anwälten, lotete Szenarien aus, organisierte das russische Asyl. Vorläufige Endstation: Moskau, wo Snowden heute mit seiner Freundin lebt.

In den seither vergangenen zwei Jahren wurde zwar erst ein minimaler Teil aller Snowden-Dokumente veröffentlicht — genug allerdings, um eine Idee der weltweiten Massenüberwachung zu vermitteln, an der Regierungen, Geheimdienste und Firmen beteiligt sind. Heute ist auch Berlin Schauplatz eines deutsch-amerikanischen Überwachungsskandals — ebenso wie Hauptquartier neuer Initia­tiven, die Snowdens Nachfolger strategischer begleiten wollen. Vor, während und nach den Leaks.

„Ob es um Whistleblowing, digitale Rechte oder Privatsphäre geht: Die Szene in Berlin wächst und ist in den letzten Jahren auch stärker zusammengewachsen“, sagt Sarah Harrison in einem Café im Prenzlauer Berg. Die 33-jährige Britin lebt ebenso in Berlin wie Laura Poitras, Regisseurin des Snowden-Films Citizenfour, oder Aktivist und Autor Jacob Appelbaum.

Im März 2016 soll hier das Logan Symposium stattfinden, ein Gipfeltreffen der Überwachungsgegner, Investigativjournalisten, Hacker. „Berlin entwickelt sich zum Hub — für jeden, der sich auf dem Gebiet engagieren will, ist die Stadt die erste Wahl, weil hier so viele Gleichgesinnte leben“, so Harrison.

Mit ihrer seit einem Jahr aktiven Courage Foundation hat sie ein Netzwerk für Whistleblower und andere Verfechter von Informationsfreiheit aufgebaut — eine Taskforce, die Experten für Recht, operative und technische Sicherheit, aber auch Öffentlichkeitsarbeit vereint. „Wir sind eine junge Organisation“, so Harrison. „Aber wir versuchen, schnell genug zu wachsen, angesichts der zunehmenden Anfragen, die wir erhalten.“

Sieben Schützlinge, darunter Snowden, betreut die Stiftung derzeit. Seltener geht es um Fluchthilfe, meist um juristische Unterstützung, Asylanträge, Spenden für Anwaltskosten. Aber auch: da zu sein, für Menschen, die oft schlagartig alles verlieren — Job, Familie, Freunde, Freiheit. Seit Juli zählt der Brite Lauri Love zu den Betreuten, der US-Regierungsseiten gehackt hat, sowie der inhaftierte US-Journalist Barrett Brown, der auf geleakte Daten der Sicherheitsfirma Stratfor verlinkt hatte.

Nutze die Medien — aber traue ihnen nicht!

Annie Machon, Ex-Agentin des britischen Geheimdienstes MI5

„Brown sitzt für ein halbes Jahrzehnt im Gefängnis, muss 800.000 Dollar an Stratfor zahlen. Obwohl er nicht mal beschuldigt wird, etwas mit dem Hack zu tun zu haben“, so Harrison. Ihre Stiftung übernimmt brisante Fälle, die große NGOs nicht übernehmen können, weil ihnen die Expertise fehlt — oder sie nicht ins Visier von Regierungen geraten wollen, auf deren Finanzierung sie angewiesen sind.

Die Courage Foundation finanziert sich durch Crowdfunding. Die Vorstellung, Whistleblower zu unterstützen, sei zwar durch Snowden „normaler geworden“, doch sei es immer noch schwierig, große NGOs dafür zu mobilisieren, so Harrison. „Andererseits erleben wir einen Crackdown westlicher Regierun­gen, mit unfairen Prozessen und unproportionalen Gefängnisstrafen.“ In Deutschland warnt der Ex-Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar vor einer möglichen „Kriminalisierung von Whistleblowern, Whistleblower-Plattformen oder sogar Journalisten“ durch den Passus zur „Datenhehlerei“ im Gesetzentwurf zur Vorratsdatenspeicherung. Im Juli wurde bekannt, dass die Bundesanwaltschaft gegen das Blog Netzpolitik.org ermittelt. Der Vorwurf: Landesverrat.

Dem „Krieg gegen Whistleblower“ will auch Annie Machon, Ex-Agentin des britischen Geheimdienstes MI5, ein Netzwerk entgegensetzen. Mit ihrem Partner David Shayler prangerte sie in den Neunzigerjahren illegale Geheimdienstpraktiken an. Shaylers Haftstrafe: ein halbes Jahr. „Aber 35 Jahre wie bei Manning“, sagt Machon, „das ist ein anderes Kaliber.“ In der Amtszeit von US-Präsident Obama wurden so viele Whistleblower auf Grundlage des Spionagegesetzes von 1917 angeklagt wie nie zuvor. Anstatt Vorwürfe zu untersuchen, sollten Nachahmer abgeschreckt werden, meint Machon.

Dennoch war Chelsea Manning für Snowden eine Inspiration, ebenso andere Whistleblower wie der Ex-NSA-Mitarbeiter Thomas Drake. Snowden brachte etwa sich und die Beweise außer Landes in Sicherheit, bevor er an die Öffentlichkeit ging. Machons Tipps: „Schau dir die Fälle früherer Whistleblower an, überlege dir, was funktioniert hat und was nicht.“ Und: „Nutze die Medien, aber vertraue ihnen nicht.“

Für die, die nach ihm kommen, könnte auch der Fall Snowden zu einem Blueprint werden. Zusammen mit dem Sicherheitsexperten Simon Davies hat Machon vor Kurzem Code Red gegründet, ein „Meta-Netzwerk“, das zum Archiv des Whistleblower-Wissens werden, internationale Kontakte vermitteln und Projekte vorantreiben will. „Derzeit sind die Diskussionen noch sehr auf den Westen konzentriert“, so Machon.

Zur Recherche ist sie in den letzten Monaten mit Davies durch Europa gereist, um Punkte zu identifizieren, an denen der Kampf gegen Überwachung ansetzen kann. Wie Ende Juni in Berlin: Ein Dutzend Aktivisten, Tech-Experten, Journalisten diskutierten. Was mobilisiert Menschen gegen Über­wachung? Geleakte Penisbilder? Aufrufe von Youtube-Stars? Wenn sie sehen, welche Budgets in Überwachung fließen? Code Red präsentierte hier auch ein erstes konkretes Tech-Projekt: ein Online-Bezahl­system, bei dem der Zahlungsverkehr via E-Commerce-Seiten verschleiert wird, etwa für Spenden an chinesische NGOs oder Wiki­Leaks. Arbeitstitel: Scrambled X.

Spuren zu verwischen, ist im digitalen Zeitalter schwieriger geworden, andererseits war es für Whistleblower noch nie so leicht, so viele Dokumente so schnell zu verbreiten. Nach dem WikiLeaks-Vorbild haben Medien weltweit Dropboxen für Dokumente eingerichtet — für Snowden-Kaliber sind sie jedoch nicht sicher genug. Nun ist WikiLeaks nach fünf Jahren, in denen man sich gegen Ermittlungen und Bankenblockaden wehren musste, mit einem neuen Einreichungssystem zurück.

Interessierte können verschlüsselt mit Mitarbeitern chatten, Dokumente lassen sich schnell durchsuchen. Per Crowd­funding sammelt WikiLeaks eine Prämie für Dokumente zum Freihandelsabkommen TTIP. „Es hat uns viel Zeit gekostet“, sagt Sarah Harrison. „Wir sind aber jetzt in der Lage, mehr und mehr zu veröffentlichen.“ Das Team bereite sich auf einen „großen Herbst“ vor. Vielleicht ja auch mit Dokumenten eines deutschen Whisteblowers — auf den die Berliner Szene noch immer wartet. 

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