Hinweis zu Affiliate-Links: Alle Produkte werden von der Redaktion unabhängig ausgewählt. Im Falle eines Kaufs des Produkts nach Klick auf den Link erhalten wir ggf. eine Provision.

Ein Designer macht die unsichtbaren Bewegungen von Kung-Fu-Meistern sichtbar

von Cindy Michel
Kung Fu ist Dynamik und schnelle Bewegungen, die nur im Moment sichtbar sind. Tobias Gremmler hat sie in seinem Animationsfilm Kung Fu Motions Visualizations eingefangen. Im WIRED-Interview erklärt der Designer, wie er dazu die Software eines Kernspintomographen umfunktionierte und warum er das Chi interessant findet – auch wenn es vielleicht gar nicht existiert.

Die Körper der beiden Kung-Fu-Meister Li Shek Lin und Wong Yiu Kau lassen sich im Animationsfilm von Tobias Gremmler lediglich erahnen. Ihre Leiber verschwinden hinter ihren Bewegungen. Das für das bloße Auge eigentlich wahrnehmbare verblasst in Kung Fu Motions Visualizations – und das vorher Unsichtbare wird sichtbar.

Die Bewegung in der Fotografie beschäftigt Künstler und Wissenschaftler schon, seitdem sie erstmals auf einem Filmstreifen festgehalten wurde. Der britische Fotograf Eadweard Muybridge untersuchte in den 1870er Jahren den Bewegungsablauf galoppierender Rennpferde und legte mit seinen Fotoexperimenten den Grundstein für die Kinematografie. Andere, etwa der Filmtheoretiker Jean Epstein, glaubten in der Raumzeit, die erst das Bewegbild offenbart, gar eine Parallelwelt zu erkennen.

Auch Designer Gremmler ist fasziniert vom Unsichtbaren. Für eine Ausstellung über Kung Fu in Hongkong hat er die Bewegungsabläufe zweier Meister untersucht und sie in fünf verschiedenen Designansätzen visualisiert. WIRED hat mit ihm über sein Werk gesprochen.

WIRED: In Kung Fu Motions Visualizations machst du das Unsichtbare sichtbar. Warum sollen wir Bewegungen, die wir mit bloßem Auge nicht erkennen, eigentlich sehen?
Tobias Gremmler: Vieles ist visuell nicht wahrnehmbar und existiert dennoch. Daten sind in ihrer physikalischen Form mit bloßem Auge nicht sichtbar und rücken erst zum Zeitpunkt ihrer Visualisierung in unsere bewusste Realität. Dennoch existieren sie, werden abgerufen, interpretiert und erinnert. Mit Bewegung und Gesten verhält es sich ähnlich. Obwohl wir eine Bewegung nur im Augenblick der Gegenwart sehen, dehnen wir diesen Augenblick in die Vergangenheit und Zukunft und begreifen dadurch die Handlungsintention und Information der Bewegung.

WIRED: Einer der ersten, der Bewegung sichtbar machte, war Eadweard Muybridge in seinen Fotografien eines Pferds im Galopp – ein geschichtsträchtiger Moment für Filmtheorie und Fotografie. Haben dich seine Arbeiten inspiriert?
Gremmler: Die Arbeiten von Muybridge oder auch Marey sind gute Beispiele für das Zusammenspiel von Kreativität und technischer Innovation. Durch die Erfindung der Fotografie und Mehrfachbelichtungen wurde es möglich, zeitbasierte Ereignisse in Sequenzen abzubilden. Muybridge hat das Anwendungspotential dieser Technologie durch seine Arbeit enorm erweitert.   Dieses Prinzip verfolge ich in einigen meiner Variationen digital weiter.

WIRED: Wie genau?
Gremmler: Ich habe Ende der 90er Jahre mit Software zur Visualisierung volumetrischer Daten experimentiert. Die Software wurde eigentlich dazu genutzt, um mit Kernspintomographen gescannte Scheiben des Gehirns dreidimensional darzustellen. Wenn man dabei aber die dritte Dimension (z-Achse) mit der Zeit (t-Achse) ersetzt und Filmsequenzen scannt anstatt des Gehirns, dann ist das Ergebnis eine 3D-Ansicht eines zeitlichen Ablaufs. Die Methode ist vergleichbar mit der von Muybridge, jedoch mit digitaler Technologie erweitert in drei Dimensionen.

icon_cookie

Um diese Inhalte zu sehen, akzeptieren Sie bitte unsere Cookies.

Cookies verwalten

WIRED: Warum aber gerade Kung Fu?
Gremmler: Die Person verschwindet hinter der Bewegung. Im Kung Fu hat die Bewegung eine hohe Priorität. Oft hat sie eine lange Tradition und ist wesentlich älter als die Meister, die sie ausführen. Sie wird über Generationen von Meister zu Schüler weitergegeben.

WIRED: Diese Bewegungsdynamik hast du in eine physische Form gepackt?
Gremmler: Ja, sie sollte sich durch Licht und Schatten materialisieren. Zudem sollte die virtuelle Verkörperung bestimmte Eigenschaften erfüllen, um lesbar zu werden.

WIRED: Dein Film benutzt dazu fünf verschiedene Designansätze. Wie hast du die Bewegungen in den einzelnen Teilen physisch dargestellt und mit welcher Intention?
Gremmler: Es beginnt mit Fabric Weaved In Time. Hier werden die Bewegungspfade transparenter, je weiter sie in der Zeit zurückliegen. Sie verschwinden graduell und machen den Blick frei für neue Bewegungsmuster. Das wirkt wie ein durch Zeit gewobenes Kostüm. Anschließend kommt Velocity Transforms Into Matter: Schnelle Bewegungen spielen eine wichtige Rolle im Kung Fu. In einem normalen Film werden diese Bewegungen durch Bewegungsunschärfe beeinträchtigt. Auch unser Wahrnehmungssystem kann langsame Bewegungen wesentlich besser erkennen als schnelle. Um schnelle Bewegungen dennoch besser erkennbar zu machen, habe ich die Bewegungsdaten auf Basis ihrer Geschwindigkeit analysiert. In der Visualisierung bekommen Körperteile, die sich schnell bewegen, mehr Masse. Langsame verblassen im Gegenzug. Der dritte Teil heißt Expanding Into Emptiness. Bewegungseigenschaften wie Geschwindigkeit und Drehung werden in den Raum expandiert. Das ist vergleichbar mit Turbulenzen in Luft oder Wasser, ausgelöst durch die Bewegung eines Körpers. Diese Variation zeigt, wie sich die Energie der Bewegung im Raum fortsetzt. Im zweiten Teil habe ich zudem Endpunkte an bestimmten Positionen des Körpers gesetzt, die den Energiefluss in Richtung der Hände leiten und entlang der Waffe, dem Dreizack und Speer, ausstoßen.

In der Variation Reconstructing Shapes From Motion wird hingegen eine bambusartige Struktur aus der Bewegung rekonstruiert. In Asien findet Bambus häufig im Gerüstbau für Wolkenkratzer Anwendung. Die Bambusstruktur wächst sozusagen mit der Architektur in die Höhe. Im Video wird durch diese Metapher die Form der Bewegung eingefangen und skulptural rekonstruiert. Im zweiten Teil von Variation vier, Form Follows Time, werden ähnliche Methoden wie in Variation eins verwendet. Das transparente Gewebe ist allerdings durch schleifenartige Formen ersetzt, die durch ihre Verdrehung der Rotationen in der Bewegung folgen.

WIRED: Der Filmtheoretiker Jean Epstein hat sich in seinen Studien viel mit der vierten Dimension beschäftigt, der Zeit. Für ihn war nicht nachvollziehbar, warum die meisten Menschen ein Problem damit haben, die Zeit als Raumzeit zu begreifen. Geht es dir ähnlich?
Gremmler: Selbst wenn wir ein statisches Bild betrachten, nehmen wir die Bildinformation sequenziell, also zeitbasiert auf, während unser Blick über das Bild wandert. Ich habe dieses Phänomen für mein 2003 erschienenes Buch Grids for the Dynamic Image mit einem Eye-Tracking-System analysiert. Wenn man die aufgenommenen Blickkoordinaten invertiert und dadurch die Bildposition steuert, sieht man wie das Bild durch den Betrachter abgetastet wird. Man betrachtet das Bild sozusagen durch den Wahrnehmungsrhythmus eines anderen. Eine sehr interessante Erfahrung, die auch Aufschluss darüber gibt, in welchen Intervallen visuelle Information aufgenommen und verarbeitet wird.

WIRED: Welche Aspekte der Kung-Fu-Philosophie interessieren dich?
Gremmler: Einer der interessantesten Aspekte ist das Chi. Dabei geht es um den Energiefluss im Körper und wie sich dieser im Kontext der Bewegung und anderer Faktoren verhält beziehungsweise beeinflusst wird. Eine bestimmte Geste oder Position wird dadurch nicht nur über äußerliche Nachahmung erlernt, sondern über individuelle Imagination und Erfahrung. Für mich spielt es im übrigen keine Rolle, ob das Chi tatsächlich existiert.

WIRED: Wie meinst du das?
Gremmler: Wenn ich jemanden, der auf einem Seil balanciert, sage, er hat einen Energiepunkt im Bauch den er durch Konzentration auf das Seil ausrichten kann um besser Balance zu halten, wirkt sich das wahrscheinlich positiv auf seine Stabilität aus. Die motorische Steuerung wird ja im Gehirn koordiniert, ob bewusst oder unbewusst. Allein die Vorstellung kann schon einen physischen Effekt bewirken.

WIRED: Betreibst du selbst Kung Fu?
Gremmler: Leider nicht. Wenn ich gestalte, entwickle ich dennoch Empathie zum Inhalt. Ich versuche, mich in das Thema hineinzufühlen und signifikante Elemente visuell zu übersetzen. Dieser Prozess kann sehr inspirierend sein und man lernt dabei viel Neues.

+++ Mehr von WIRED regelmäßig ins Postfach? Hier für den Newsletter anmelden +++

WIRED: Die Tradition des Kung Fu ist etwa 1500 Jahre alt. Wie passen diese uralten Traditionen und Techniken mit moderner Kunst zusammen?
Gremmler: Mein Video wurde von einer Ausstellung über Kung Fu in Auftrag gegeben. In der Ausstellung sind auch reale Objekte, Fotos, Zeichnungen und Filmsequenzen zu sehen. Das Video wird also im Kontext weiterer Informationen vom Besucher erfahren. Obgleich es schon jetzt online mehr Betrachter gewonnen hat als die zu erwartenden Besucherzahl der Ausstellung, scheint es zu ganz unterschiedlichen Menschen zu sprechen. Die positiven Kommentare von Kung-Fu-Experten, Tänzern, Musikern, Designern, Künstlern und interessierten Laien zeigen, dass es durchaus möglich ist, Traditionelles zeitgemäß zu kommunizieren. Als Berater für die Ausstellung war es mir auch wichtig, darauf zu achten, dass sich Inhalte und Medien optimal ergänzen. Bewegungsabläufe digital darzustellen, ergab dabei am meisten Sinn. Dass diese über 1500 Jahre alt sind, sehe ich nicht als Hindernis. Die meisten unserer Bewegungen haben wahrscheinlich einen wesentlich älteren Ursprung. Das macht ihre Aktualität zeitlos.

Die Ausstellung im Hong Kong Heritage Museum, in der Tobias Gremmlers Animationsfilm Kung Fu Motions Visualizations zu sehen ist, eröffnet am 1. September. 

GQ Empfiehlt
YouTuber verpassen „Star Wars“ ein 8-Bit-Remake

YouTuber verpassen „Star Wars“ ein 8-Bit-Remake

von Benedikt Plass-Fleßenkämper