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„Network Effect“ zeigt den voyeuristischen Horror der sozialen Netzwerke

von Michael Förtsch
Tagtäglich fluten wir soziale Netzwerke mit abertausenden Videos, Texten und Bildern. Diese Fragmente unseres alltäglichen Lebens sollen uns mit anderen verbinden. Im Webprojekt „Network Effect“ kulminiert das alles jedoch zu einem Albtraum aus Banalität und Voyeurismus.

Verzerrte und verschwommene Aufnahmen von einem Mann in der Badewanne, dazu ein Gewirr aus Stimmen, die etwas über Schmutz und Körpergeruch erzählen. Am unteren Rand des Bildes prangen dazu Statistiken und Nachrichtenmeldungen über Wasser, während das Bade- in ein Duschvideo übergeht und frisches Sprachwirrwarr einsetzt.

Unser Projekt spiegelt die Erfahrung des Browsens im Web wieder — es ist voller Potential, aber frei von Leben.

Jonathan Harris und Greg Hochmuth, die Macher von „Network Effect“

Am oberen Bildschirmende hingegen locken andere Themen: „Starren“, „Essen“, „Kotzen“, „Springen“, „Küssen“, „Fliegen“. Allesamt führen sie nach einem Klick zu weiteren, ähnlich bizarren Kakophonien aus Bewegtbild, Text, Zahlen und Audioschnipseln. Doch es bleibt nur eine bestimmte Zeit, um sie zu erleben, berechnet nach der Lebenserwartung in dem Land, aus dem der Zuschauer kommt. 8 Minuten und 1 Sekunde sind es in Deutschland. Danach sperrt sich die Website „Network Effect“ für 24 Stunden.

Das surreale Kunstprojekt von Jonathan Harris und Greg Hochmuth soll die Reizüberflutung und den Informationsüberfluss unserer Zeit repräsentieren, die durch Facebook, Twitter, YouTube und WhatsApp befeuert werden: Eine Lawine an Eindrücken und Momenten, die wir gar nicht bewältigen können — aber die uns stets aufs Neue ködert. „Wir haben versucht, ein übersteigertes Portrait der typischen Internetnutzung zu zeichnen“, erklären Harris und Hochmuth.

„Die Videos aktivieren unseren Voyeurismus, die Soundaufnahmen locken uns mit Geheimnissen, die Daten versprechen eine Art Allwissenheit“, sagen die Künstler. „Aber das alles ist eine Täuschung. Es gibt niemanden, der zuschaut, es gibt kein Geheimnis und die Daten, die so wichtig erscheinen, sind in Wahrheit total absurd.“

Das Audio-, Video- und Informationsmaterial, auf dem „Network Effect“ aufbaut, ist allerdings durchgehend real und ungestellt. Die knapp 10.000 verwendeten Videos stammen von YouTube und die ebenso vielen Audiospuren basieren auf eingesprochenen Tweets. Die angezeigten Statistiken, Zitate und Diagramme kommen ebenfalls aus echten Publikationen und die Nachrichten von Google News. Sechs Monate haben Harris und Hochmuth an dem Projekt gearbeitet das, wie sie sagen, aus dem Gedanken entstand, wie wohl eine hochentwickelte Alien-Rasse das Treiben der Menschen betrachten würde. „Was würden sie von uns sehen?“, fragt Harris und antwortet gleich selbst: „Das merkwürdige Verhalten des menschlichen Körpers.“

Tatsächlich fördert „Network Effect“ die eigentlich melancholische Leere der sozialen Netzwerke zu Tage: Menschen betrachten Menschen, die sich bei vollkommen banalen Tätigkeiten filmen und fotografieren. Oder sie lesen Texte über ebenso triviale Aktivitäten. „Unser Projekt spiegelt die Erfahrung des Browsens im Web wieder — es ist voller Potential, aber frei von Leben. Wir verlassen das Netz nicht glücklicher, gesättigt und weiser, sondern unruhig, zerstreut und empfindungslos“, so das Entwicklerduo.

Soziale Netzwerke hätten einen geradezu drogengleichen Effekt auf den Menschen, der ihn von den tiefergehenden Fragen des Seins ablenke. „Wir hoffen, unser Projekt hilft den Menschen, aus dieser Trance zu erwachen“, erklären Harris und Hochmuth. „Wir brauchen Zeit, Raum und Stille, um uns daran zu erinnern, wer wir sind, wer wir waren und wer wir sein könnten.“ 

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