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OkStupid / Das sehr reale Ende einer nicht realen Beziehung

von Lilly Müller
Sie lernen sich online kennen. Im Nimmerland namens Facebook-Chat tollen sie verbal durch die Zeit, vergessen alles um sich herum. Sie mögen sich. Sie verknallen sich. Sie verbingen jede freie Minute zusammen — bis sie die Safety Zone des Chats verlassen, um sich in der Wirklichkeit zu treffen.

Die Band spielte einen ihrer letzten Songs. An den Titel kann ich mich nicht mehr erinnern. Auch nicht, ob wir Bier oder Schnaps tranken — ich weiß nur, dass wir eine Menge davon hatten. Egal was es war. Wir saßen dicht nebeneinander auf der Schwelle zu dem kleinen Saal, in dem die Boxen wummerten. Durch den Zigarettenrauch tanzten die Projektionen der Diskokugel. Als ob sie von unserem Gespräch nichts mitbekämen, glitzerten sie unbekümmert an der bröckelnden Wand, an dem Tresen entlang, über die Nasen, Beine und Irokesenschnitte der pogenden Meute. Sie verliehen dem Abend einen surrealen Schimmer, als ob Glöckchen ihren Feenstaub über alles gekotzt hätte. „In diesem Universum gibt es keine Zukunft für uns, oder?“, schrie er mir ins Ohr und schaute mich dann fragend an. „Scheiß echte Welt“, erwiderte ich und legte meinen Kopf auf seine Schulter. Das war das reale Ende unserer irrealen Beziehung.

Aber bevor etwas zu Ende geht, muss es irgendwo einen Anfang genommen haben. Unsere nicht existente Beziehung begann ganz klassisch im heutigen Nimmerland — dem Internet. Dort haben wir uns kennengelernt. Aber nicht auf einer der vielen Dating-Plattformen. Online-Dating, nicht zu verwechseln mit dem Dating online (man trifft sich virtuell im Internet), ist nämlich nichts für mich. Nichts für ungut, jeder ist da anders.

Online interessiert es keinen, ob die Beine rasiert sind, die Haare gewaschen oder die Hose wirklich gut sitzt.

Vielleicht auch deswegen, weil ich eigentlich in festen Händen bin. In einer existenten Beziehung in der realen Welt. In der Welt, die analog ist. Die, die ohne Bits wie Bytes und ohne WLAN auskommt — und die, die tut hier erstmal nichts zur Sache. Denn die Geschichte von ihm und mir gibt es nur in der Parallelwelt, die sich öffnet, wenn der Messenger klingelt. Und mit so einem „Bing“ startete auch unser virtuelles Wir.

„Bing!“, machte es. „Hey, ich heiße Fred“, hatte da wer ins Chatfenster getippt. „Ben meinte, ich könne mich bei dir melden. Du kannst mir mit einem Drehbuch helfen?“ Ach so, ein Kumpel von Ben. Stimmt, der hatte diesen Fred schon angekündigt. Ich sagte „Ja“.

Fred erzählte mir von seinem Exposé und ich ihm von meinem. Ich lebte in München, er in Hamburg. Er studierte Literatur, ich auch. Ich verfasste gerne Prosa, er auch. Er kaufte ausschließlich recyceltes Toilettenpapier, ich auch. Wir lasen viel voneinander. Ich mochte die Art wie er schrieb. Sehr sogar.

Die nächsten Wochen und Monate trafen wir uns immer öfter in diesem virtuellen Raum. Wir diskutierten das Leben durch Sonne, Mond und Matrix. Irgendwann begannen wir, die gleichen Songs zu hören, wenn wir uns online trafen — also fast täglich. Später dann trafen wir uns nicht nur zum Chatten, sondern verabredeten uns für Dates:

Er: Date-Night? Wollen wir uns heute Abend auf einen Wein treffen?
Ich: Oh ja. „Rot oder weiß?
Er: Lass uns einen Roten trinken, passt besser zum Wetter. Es regnet seit Tagen und außerdem ist es saukalt.
Ich: Bei dir vielleicht, hier hat es 15 Grad und die Sonne scheint.
Er: Abends nicht mehr. Bis dann, freu mich.
Ich: Ich mich auch. :D

Das Gute an Dates online ist übrigens, dass man extrem viel Zeit spart. Die lästige Sucherei nach dem perfekten Outfit fällt schon mal weg. Keinen interessiert es, ob die Beine rasiert sind, die Haare gewaschen oder die Hose wirklich gut sitzt. Sieht ja keiner.

In diesem unseren Facebook-Chat-Nimmerland sprachen wir über alles und jeden, aber nie über unsere Partner in der realen Welt. Immer öfter fragten wir uns, was für eine Art Beziehung wir hier eigentlich führten. Wir wussten es nicht. War ja auch egal. Anderen ging es ähnlich. Goethe zum Beispiel schrieb über Jahre mit seiner Brieffreundin Charlotte von Stein. Wer weiß, vielleicht dateten die ja auch in einem Paralleluniversum — nur eben in einem aus Papier und Tinte.

„Ob Goethe und Charlotte auch so nervös waren vor ihrem ersten Treffen?“, fragte mich Fred. Und da kam sie, die Panik. Wir waren beide für das gleich Projekt engagiert worden — ein Treffen in der realen Welt war also unvermeidbar. Uns war klar, dass es keinen Weg zurück geben würde, wenn die Schwelle raus aus der Safety Zone des Chatfenster erst einmal überschritten war.

Scheiß echte Welt, sagte er und wir warteten bis das Licht anging.

Bis zu dem Zeitpunkt wussten wir weder wie sich unsere Stimmen anhörten, noch wie wir tatsächlich aussahen. Dann trafen wir uns. In echt. Mit schweißnassen Händen und Schmetterlingen im Bauch drehten wir den Film, für den wir gebucht waren. Analog waren wir genauso verknallt ineinander wie virtuell. Dennoch passierte nichts zwischen uns. Wir blieben unseren Partnern treu. Ein gemeinsames Leben in der echten Welt zu führen, war für uns beide nicht drin. Die Voraussetzungen wären perfekt gewesen, aber wir wussten, dass das nicht passieren würde. Egal wie sehr wir es wollten. Warum? Das weiß nur Glöckchen — oder Mark Zuckerberg.

Lange nachdem die Band schon abgebaut hatte, saßen wir noch dort auf der Schwelle und sahen den tanzenden Lichtern der Diskokugel zu. „Scheiß echte Welt“, wiederholte er und wir warteten bis das Licht anging.

Diese Kolumne wird von mehreren AutorInnen unter Pseudonym geschrieben. Alle Folgen findet ihr hier

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