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OKStupid / Tinder ist nicht schuld an eurem langweiligen Liebesleben

von Bastian Utz
Tinder ist nicht nur die wohl bekannteste Dating-App, sondern auch der Sündenbock vieler, denen etwas an Gesellschaft, Technologie und „der jungen Generation“ nicht passt. Warum das so ist — und warum es endlich aufhören sollte, lest ihr in der neuen Folge „OKStupid“, der wöchentlichen Online-Dating-Kolumne von WIRED.

Es gibt Menschen, die haben Tinder nie benutzt, aber hassen es. Und es gibt Menschen, die haben Tinder benutzt und hassen sich dafür vielleicht ein bisschen selbst. Was beide gemeinsam haben: Sie schreiben darüber. In Artikeln über die „Dating-Apokalypse“, die „Generation Beziehungsunfähig“ oder das „Tinder für XY“. Und egal ob angewiderter Blick von außen, verzweifelte Selbstspiegelung oder hinkender Vergleich von Funktionsprinzipien: Immer muss dieses kleine Stück Software mit dem Flammenlogo und der simplen Wisch-Logik als Sündenbock herhalten — für Weltschmerz, Kulturpessimismus und Technophobie. Warum ist das so?

Zum einen, weil Tinder ein denkbar einfaches Ziel ist. Passt es doch mit seiner binären Logik (rechts oder links, ja oder nein, Match oder kein Match, Hot or Not) bestens ins Weltbild, das nur Schwarz oder Weiß kennt: gute, tolle, romantisch keimfreie Vergangenheit vs. böse, schlimme, technologieversiffte Gegenwart. Wo der Feind steht, ist klar: auf dem Home-Bildschirm des Smartphones. Die Lieblingsbeschäftigungen des Feindes: oberflächliche Fleischbeschau, schneller Sex und die Institutionalisierung permanenter Unverbindlichkeit mithilfe von Technologie. Dass die App für manche vielleicht einfach nur die Möglichkeit ist, Menschen kennenzulernen, denen sie in der Großstadt wie auf dem Land sonst vielleicht nie über den Weg gelaufen wären? Wurscht, denn in dieser Erklärung steckt nicht genug Drama!

Natürlich kann man einer App die Schuld geben an langweiligen Dates und mittelmäßigem Sex.

Soweit die feuilletonistische Außenansicht. Aber es gibt noch eine zweite Gattung von Tinder-Texten, nämlich die „Generationenbeschreibung anhand des Selbstversuchs“. Und die ist keinen Deut besser: Die Autoren haben die App zwar ausprobiert, ernsthaft oder nur zu Recherchezwecken, aber irgendwie hat ihnen ganz und gar nicht gefallen, was sie sahen: Zu wenig Dates, nur Idioten getroffen, die noch nicht mal gut im Bett waren, blöde App. Aus der beschränkten Eigenerfahrung werden dann munter Pauschalurteile über eine ganze Generation abgeleitet (was auch immer das sein soll), verklärte Nostalgie und düstere Zukunftsprognosen inklusive. Kann man natürlich machen.

Und natürlich kann man einer App die Schuld geben an langweiligen Dates, oberflächlichen Unterhaltungen und mittelmäßigem Sex. Oder man gesteht sich eben ein, dass viele Menschen, die man auf der Partnersuche so trifft, schon immer ziemliche Arschlöcher waren — oder wenigstens langweilig, oberflächlich und unklug. Oder, dass der mangelnde Erfolg (was auch immer das sein soll) eventuell auch an eigener Unzulänglichkeit liegt — und man auch beim hundertprozentig digitalfreien Tanzfest der Kirchengemeinde in den 80ern keine(n) abbekommen hätte, weil man immer was zu meckern hat und niemand den eigenen Ansprüchen genügt. Aber hey, es ist doch so viel einfacher, Tinder die Schuld zu geben.

Oder man gesteht sich eben ein, dass Menschen schon immer ziemliche Arschlöcher waren.

„Zu sagen ‚Alle sind so!‘ ist für das Individuum immer bequemer als reflektierte Beobachtung und das Auseinanderklamüsern eventuell schwieriger Zusammenhänge“, hat meine Freundin Tania mal geschrieben. „Am schlechtesten aushalten kann das Individuum: Unlogik, Zufall, Einzelfälle, (eigene) Dummheit, Pech.“ Das Aushalten sollte das Individuum aber vielleicht mal üben, und seine Mitmenschen nicht weiter mit solchen Texten nerven.

Denn letztlich ist es doch so, liebe Weltschmerzler, Kulturpessimisten und Technologiekritiker: Wenn ein derart einfach gestricktes Stück Software wie Tinder (ihr erinnert euch: rechts oder links, ja oder nein, Match oder kein Match, Hot or Not) wirklich in der Lage ist, das Liebesleben einer ganzen Generation (was auch immer das sein soll) zu verkorksen — hat die Silicon-Valley-Ideologie, die ihr angeblich so wacker bekämpft, dann nicht längst gewonnen? Das könnt ihr doch nicht ernsthaft behaupten wollen, oder?

Diese Kolumne wird wöchentlich von mehreren AutorInnen unter Pseudonym verfasst. Alle Folgen findet ihr hier. 

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