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Machines Of Loving Grace / Pure Statistik darf niemals siegen

von Jürgen Geuter
Algorithmen sind überall. Jeder hat ständig mit ihnen zu tun, viele fürchten sie, doch die wenigsten verstehen tatsächlich, wie sie funktionieren. In seiner WIRED-Kolumne durchleuchtet Jürgen Geuter die mathematischen Problemlöser, die unsere Welt zu lenken scheinen. Diesmal: wie Algorithmen Trends finden — und aktiv prägen.

Popularität ist — besonders, wenn es ums Digitale geht — ein sehr spannendes Konzept: Einerseits ist das Versprechen, mit den eigenen Tweets, Videos oder Posts populär zu werden in unser Verständnis des Netzes fast genauso tief eingegraben wie TCP/IP. Andererseits hat gerade das Netz dazu beigetragen, Menschen die offensive Ablehnung des Mainstreams leichter zu machen: Früher gab's nur die Musik, die der lokale Plattenladen hatte, heute kann man seine ganze Freizeit lang nur finnische Electroclash-Bands hören, die noch nie vor mehr als 50 Leuten aufgetreten sind.

Trotzdem wirkt sich gesamtgesellschaftliche Popularität auf uns alle aus: Sie sorgt dafür, dass ich trotz sorgfältigem Kuratieren meiner Musikquellen doch irgendwann unweigerlich mit Helene-Fischer-Songs konfrontiert bin und dass das Fernsehen — obwohl ich mich nicht dran erinnern kann, wann ich es das letzte mal geschaut habe — irgendwie trotzdem eine gewisse Relevanz für mein Leben hat. Indem es Themen setzt oder durch Ausblendung begräbt.

Gesellschaftliche Trends, die über kurz oder lang sehr populär werden, frühzeitig aufzuspüren, sie vielleicht sogar zu prägen und zu formen, war früher eine Aufgabe für (pop-)kulturelle Schatzsucher. Menschen, die sich mit bestimmten Subkulturen oder Ausgangspunkten sozialer Phänomene auskennen, sie deswegen frühzeitig erkennen und auf für den Mainstream verständliche Weise verpacken können. Doch Trendsforschung war immer furchtbar lahm: Um Trends festzustellen, musste man warten, bis ein bestimmtes Mem eine gewisse Verbreitung gefunden hatte und dadurch messbar wurde.

Heute allerdings, in einer Zeit, in der sich viele soziale Aktivitäten in diversen Internetplattformen von Facebook über Twitter bis hin zu den Suchtrends von Google niederschlagen, ist das Aufspüren von Trends eine Aufgabe für einfache Softwaresysteme geworden.

Früher brauchte man (pop-)kulturelle Schatzsucher, heute ist das Aufspüren von Trends eine Aufgabe für einfache Softwaresysteme.

Wie genau die jeweiligen Trends auf unterschiedlichen Plattformen ermittelt werden, ist individuell unterschiedlich und meist zumindest in den Details geheim. Das Vorgehen lässt sich allerdings recht gut abstrakt beschreiben: Man nehme für einen definierten Zeitraum (eine Stunde, ein Tag, eine Woche etc.) alle Posts, die auf einer Plattform gemacht wurden. Nun betrachtet man alle Worte aus diesen Posts, filtert bestimmte Begriffe heraus (das Wort „und“ zum Beispiel kommt in deutschen Texten sehr oft vor, ist aber für Trends eher nicht so wichtig) und guckt, ob bestimmte Begriffe vielleicht zu einem zusammengefasst werden sollten („Pudding“ und „#Pudding“ beispielsweise). Für die übriggebliebenen Wörter zählt man durch, wie oft sie benutzt wurden, lässt vielleicht noch einfließen, wie viele unterschiedliche Accounts einen Begriff verwendeten und schon hat man eine sortierte Liste aus heißen, aktuellen Trends oder „trending topics“, wie sie manchmal genannt werden.

Man kann den Algorithmus auch noch ein wenig tunen, indem man zum Beispiel Ortsinformationen hinzufügt (Trends in einer Region) oder indem man beispielsweise Trends „bestraft“, die schon länger da sind, um neue, aufkommende Themen schneller in den Trends zu platzieren. Grundsätzlich ist das Vorgehen ziemlich simpel. Aber ist das alles?

In einer ARD-Sendung (da war es wieder, das Fernsehen, von dem man sich nur schwer befreien kann) hat ein Politiker in einer Diskussion um Geflüchtete eine rassistische Formulierung für People of Color verwendet (der Politiker hat sich im Nachhinein öffentlich für die Verwendung des Wortes entschuldigt). Selbstverständlich wurden die Sendung und der rassistische Ausfall auch auf diversen Online-Plattformen diskutiert. Wurde der Politiker für seine Formulierung kritisiert, die Wortwahl in Schutz genommen, das magische Argument zur Erstickung einer jeden gesellschaftlichen Debatte vorgebracht („Haben wir denn nicht wichtigere Probleme?“) und diverse andere Positionen vorgetragen. Viele dieser Beiträge verwendeten — teils als Provokation, teils als Zitat, teils „einfach so“ — das rassistische Wort.

Ein trivialer Algorithmus kann plötzlich politisch und sozial relevant werden.

Dem Trending-Algorithmus von Twitter war der Kontext egal und das Wort stand offensichtlich noch nicht auf der Liste der zu ignorierenden Begriffe. Und so wurde die rassistische Beleidigung zeitweise zum Trending Topic auf Twitter. Hier entsteht ein Problem mit einem simplen, Worthäufigkeiten aufaddierenden Algorithmus: Er reproduziert unbesehen soziale Ausgrenzung und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Bonusproblem: Die Kritik an der Verwendung eines Begriffs trägt potentiell noch dazu bei, ihn zu einem Trend zu adeln. Denn natürlich ist ein Trend mehr als nur eine zufällige Statistik.

Die offiziellen Trends von Facebook, Twitter oder anderen Plattformen sind nicht nur eine Statistik über die Nutzung von Worten, sondern führen auch dazu, das eine bestimmte Position im öffentlichen Diskurs gestärkt oder etabliert wird. Als sich vor einigen Monaten Schwarze in den USA als Protest gegen Polizeigewalt gegen People of Color unter dem Hashtag #BlackLivesMatter sammelten, formierte sich umgehend eine Gegenbewegung, die versuchte, den Protest durch die Etablierung des scheinbar nett gemeinten #AllLivesMAtter (wer würde widersprechen wollen?) unsichtbar zu machen und zu schwächen. Der Kampf gegen den Protest fand auch im Kampf um die (Er-)Setzung von trending Topics statt.

Und so wird ein trivialer Algorithmus, der eigentlich nur sagt, welche Worte gerade viel benutzt werden, plötzlich politsch und sozial relevant. Zu einer Statistik, die Menschen verletzt und zu ihrer gesellschaftlichen Diskriminierung beiträgt.

Natürlich wissen wir alle, wie einfach man theoretisch auf Trending Topics einwirken könnte. Durch Erzeugung einer Vielzahl von Sockenpuppen-Accounts beispielsweise, die bestimmte Begriffe verwenden und sie so zu etablieren versuchen. Das macht die Trends allerdings genauso (oder genausowenig) relevant wie die Einschaltquoten im TV, bei deren Ermittlung ja auch die Maxime gilt: „Viele Werte sind erfunden und gerundet.“

Wir sind trainiert auf die Wahrheit von Metriken: Was man messen kann, muss wahr sein.

Denn wir sind trainiert auf die Wahrheit von Metriken: Wenn man es messen kann, muss es ja irgendwie stimmen. Ob eine Metrik taugt oder nicht, ist in der gesamtgesellschaftlichen Debatte weit weniger relevant als die Frage, ob sie einfach aufbereitbare Ergebnisse erzeugt.

Wir tragen für unseren Beitrag zu solchen Trends eine gewisse Verantwortung, müssen uns fragen, ob die Verwendung und Verstärkung bestimmter Worte und Meme wirklich das ethisch Richtige ist. Trotzdem ist die Erkennung von Trends keineswegs unwichtig. Wir müssen uns fragen und mit Plattformanbietern aushandeln, wie die Algorithmen zur Bestimmung von Trends gestaltet sein müssen. Welche Aspekte einfließen und welche Worte beispielsweise auf einer Blacklist stehen. Denn gesellschaftliche und diskursive Relevanz werden solche Trending Topics immer erzeugen. Deshalb dürfen wir die Trendlisten nicht der nackten Statistik überlassen. Hashtag #PureStatistikDarfNiemalsSiegen.

In der letzten Folge von „Machines Of Loving Grace“ ergründete Jürgen Geuter, wie Algorithmen unsere E-Mail-Postfächer aufräumen. 

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