Hinweis zu Affiliate-Links: Alle Produkte werden von der Redaktion unabhängig ausgewählt. Im Falle eines Kaufs des Produkts nach Klick auf den Link erhalten wir ggf. eine Provision.

Digital ist besser / Betriebssysteme sind kinderleicht? Von wegen!

von Johnny Haeusler
Der Umgang mit Computern ist in den letzten Jahren sehr viel leichter geworden, sagt man. Jedes Kind könne einen Computer bedienen. Das stimmt vielleicht sogar, weil Kinder schon immer respektlos mit Dingen umgegangen sind, die für sie neu sind. Also mit allem. Ob ein Kind vor einem Computer oder vor einer Kiste Legosteine sitzt, ist eigentlich unerheblich. Es testet, probiert aus und gewinnt daraus Erkenntnisse. Bei Erwachsenen ist das leider anders.

Die Kunst des neugierigen Erkundens ist den meisten Erwachsenen längst abhanden gekommen. Sie agieren auf Basis bereits gemachter Erfahrungen und begegnen dem Neuen immer nur im Vergleich mit dem Bekannten. Das kann für das Verständnis eigentlich unvergleichbarer Dinge ein Hindernis sein.

Die Computerindustrie beziehungsweise ihre Interface-Designerinnen und UX-Experten haben auf diese Tatsache mit Metaphern reagiert, die Anfängern die Bedienung von Computersystemen erleichtern sollten: Unser Betriebsystem hat einen „Schreibtisch“, wir sortieren Daten in „Ordner“, wir „ziehen“ Dokumente in einen „Papierkorb“ und wir öffnen und schließen „Fenster“. Bekannte Begriffe, hinter denen sich eigentlich nur die Navigation durch Dateisystemstrukturen und digitale Kopiervorgänge verbergen.

Begriffe wie ‚Schreibtisch‘, ‚Fenster‘ oder ‚Ordner‘ waren nie wirklich hilfreich.

Dass das jemals wirklich hilfreich war, bezweifle ich. Ich erinnere mich gerne an das Telefonat mit der Mutter eines Freundes, die an ihrem brandneuen iMac verzweifelte: „Siehst du auf dem Schreibtisch jetzt ein Dokument, also etwas, das aussieht, wie ein Brief?“, fragte ich sie, um bei der Suche nach einem gerade geschriebenen Text behilflich zu sein. „Nein“, antwortete sie. „Hier liegt nichts auf dem Schreibtisch.“ — „Okay. Dann mach mal bitte erstmal alle Fenster zu.“ Ich war davon ausgegangen, dass sie den Desktop nicht einsehen konnte, weil offene Fenster die Sicht versperrten. Es dauerte eine viel zu lange Zeit, bis sich die Mutter meines Freundes zurückmeldete. „So, jetzt sind alle Fenster zu!“

Ich muss wahrscheinlich nicht erklären, dass wir völlig aneinander vorbei geredet hatten. Die Mutter meines Freundes hatte auf ihrem Schreibtisch nach dem Brief gesucht, also auf dem Möbelstück, auf dem ihr iMac stand, und meiner Bitte um das Schließen der Fenster war sie nachgekommen, indem sie aufgestanden war und ihre Wohnung auf echte offene Fenster überprüft hatte.

Die Metaphern, die uns helfen sollten, hatten versagt.

Natürlich lachten wir beide später (viel später, sehr viel später) herzlich über diese Missverständnisse — aber lustig war alles eigentlich nicht. Ich war in meiner Geek-Arroganz davon ausgegangen, dass sie wusste, von welchen Fenstern ich sprach. Sie selbst hatte aber als kompletter Neuling logischerweise keine Ahnung davon, was ein Schreibtisch oder Fenster im Zusammenhang mit ihrem iMac sein sollte. Die Metaphern, die uns helfen sollten, hatten versagt.

Noch schlimmer als damals sieht es heute aus, denn auf Tablets und Smartphones gibt es keine Schreibtische oder Fenster oder Papierkörbe mehr. Und als ich neulich einer älteren Dame, die noch nie mit einem Computern gearbeitet hat, die Bedienung eines Kindle erklären wollte, bin ich schier verzweifelt. Nicht nur, weil das Ding gar keine Computer-Fenster oder einen Desktop hat, was mir aber bei den Erklärungen eh nicht geholfen hätte, nein, das Interface und damit die Bedienung des Ebook-Readers ist noch dazu ein einziges inkonsistentes Wirrwarr.

Mal muss man zum Ausführen einer Aktion ins Menü, mal muss man auf den oberen Rand des Bildschirms drücken, um eine andere Bedienungsebene einzublenden. Mal schließt man ein Fenster... Moment mal, es ist ja kein Fenster, es ist noch eine weitere, dritte Ebene... Mal also entrinnt man einer zusätzlichen Interaktionsebene, indem man wahlweise auf „OK“ oder „Abbruch“ klickt, mal muss ein kleines Kreuz in der oberen rechten Ecke der Ebene drücken. Mal werden ausgewählte Begriffe unterstrichen dargestellt, mal erscheinen sie nur etwas fetter auf dem Display. Mal blättert man weiter, indem man von rechts nach links wischt, mal genügt der Tap auf den rechten Seitenrand. Und so weiter. Es ist ein Graus.

Für mich, der seit 25 Jahren Computer-Interfaces benutzt, stellt ein Kindle keine große Herausforderung dar. Aber erklären Sie mal einer Person, die noch einen PC besessen hat, dieses oder andere modernere Geräte, die doch alle so selbsterklärend zu bedienen sein sollen. Sie werden verzweifeln. Das, was sich dort teilweise an Bedienungschaos und Nutzerirreführung abspielt, versteht nicht einmal ein Kind. Und das will was heißen.

In der letzten Folge „Digital ist besser“ verriet Johnny Haeusler, was er auf der re:publica 2015 gelernt hat. 

GQ Empfiehlt