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Morgen das ganze Web? WordPress-Gründer Matt Mullenweg im Interview

von Karsten Lemm
Aus einer kleinen Blogging-Software, 2003 gestartet, ist der heimliche Riese des Internets geworden: Jede vierte Website setzt heute auf WordPress, um Informationen zu präsentieren — von schlichten Texten bis zu Basketball-Videos und Pakettracking-Infos. Was kommt als nächstes? WIRED hat mit Matt Mullenweg gesprochen, dem Mitgründer des Open-Source-Projekts.

Es sind ereignisreiche Wochen für Matt Mullenweg: Gerade erst hat der 31-jährige Texaner die Entwicklung einer rundum erneuerten Bedienoberfläche für WordPress geleitet (Codename „Calypso“), die es leichter machen soll, Webseiten zu verwalten. Eine Generalüberholung, die der eigene Erfolg nötig machte: WordPress, von Mullenweg und Mike Little ursprünglich als Blogging-Programm konzipiert, hat sich mit den Jahren zum Allroundtalent gewandelt. Neben Millionen von Privatleuten, die digital Tagebuch führen, greifen auch Dutzende von Weltmarken wie CNN, der Paketdienst UPS und selbst Facebook auf die Open-Source-Software zurück, um ihren Besuchern im Netz Informationen zu präsentieren.

Jede vierte Website verlässt sich inzwischen auf WordPress, meldet das Marktforschungsunternehmen W3Techs — und die größte Herausforderung liegt für Mullenweg und seine Mitstreiter darin, Betreiber von Webseiten für sich zu gewinnen, die bisher komplett auf ein sogenanntes Content Management System (CMS) verzichten. Das sind immer noch mehr als die Hälfte, denn auch WordPress-Konkurrenten wie Drupal und Joomla leben in Nischen von nur wenigen Prozent Marktanteil.

Vor der Veröffentlichung der jüngsten WordPress-Version am 8. Dezember sprach Mullenweg mit WIRED darüber, wie seine Software die nächsten 75 Prozent des Internets erobern will, warum WordPress der Ruf anhaftet, unsicher zu sein, und wie ein Open-Source-Projekt gegen kommerzielle Internetgiganten bestehen kann.

WIRED: Herr Mullenweg, keiner Ihrer Konkurrenten kommt auch nur in die Nähe von 25 Prozent Marktanteil. Wie haben Sie das geschafft?
Matt Mullenweg: Zwei Hauptgründe, glaube ich: Zum einen ist es sehr einfach, sich in WordPress einzuarbeiten. Wir denken immer über das Nutzer-Erlebnis nach und versuchen, alles so intuitiv wie möglich zu gestalten. Trotzdem ist WordPress enorm mächtig und anpassungsfähig. Das erlaubt es auch großen Unternehmen, genau das umzusetzen, was ihnen vorschwebt. Normalerweise ist es ja so, dass man mit einem eher simplen Produkt anfängt und dann auf etwas Komplexeres umsteigen muss, wenn die Ansprüche steigen. So wie man zum Beispiel zuerst eine Kompaktkamera kauft und später zu einer Spiegelreflex-Kamera wechselt. Bei WordPress ist das anders: Egal, ob Sie gerade anfangen oder seit Jahren dabei sind und eine Website betreiben, die Millionen von Besuchern hat — Sie können die gleiche Software nutzen.

WIRED: War das von Anfang an Ihr Ehrgeiz: eine Software zu erschaffen, die eines Tages die Welt erobert?
Mullenweg: Ich wollte bloß etwas für meine eigene Website haben. Alles, was es damals gab, war zu kompliziert oder zu umständlich für meine Zwecke. Also habe ich mich mit einigen anderen zusammengetan — darunter Mike Little in Europa — und angefangen, WordPress zu bauen. Unsere Ambitionen damals waren sehr, sehr gering. Ich glaube, keiner von uns hätte sich je vorstellen können, wie WordPress sich über die nächsten 13 Jahre entwickeln würde.

WordPress wäre nicht mal ein Hundertstel so erfolgreich, wenn es kein Open-Source-Projekt wäre.

WIRED: Sie haben von Anfang an darauf gesetzt, WordPress als Open-Source-Projekt zu betreiben. War das wichtig für den Erfolg?
Mullenweg: Keine Frage, es war entscheidend. WordPress wäre nicht mal ein Hundertstel so erfolgreich, wenn wir es nicht als Open-Source-Projekt angelegt hätten. Niemand hätte es überhaupt wahrgenommen. Ich bin ein großer Fan des Open-Source-Gedankens: Er versammelt Menschen um ein gemeinsames Ziel. Was wir als Community schaffen können, ist weit besser als alles, was ein Programmierer oder ein Unternehmen für sich allein fertig bringt. Weil es auf viele unterschiedliche Einsichten und Ideen aufbauen kann.

WIRED: Wo liegt eigentlich der Unterschied zwischen WordPress.org und WordPress.com?
Mullenweg: Eine Website bei WordPress.com zu betreiben ist so ähnlich, wie eine Wohnung zu mieten, während WordPress.org eher dem eigenen Haus entspricht. Das heißt, Nutzer müssen selbst für einen Server sorgen und WordPress eigenhändig darauf einrichten. In die Wohnung kann man sofort einziehen, und der Eigentümer kümmert sich um Reparaturen und sorgt dafür, dass alles in Ordnung ist. Als Hausbesitzer trägt man selbst die Verantwortung, hat aber am Ende auch mehr Kontrolle und ist flexibler.

WIRED: Der Vermieter bei WordPress.com sind Sie, mit Ihrer Firma Automattic. Warum kommen selbst große Unternehmen zu Ihnen?
Mullenweg: Weil wir ihnen helfen können, wenn sie etwas suchen, das keine Mühe macht, absolut stabil läuft, nie unter dem Besucher-Ansturm in die Knie geht und auch sicher ist vor Hacker-Angriffen. Nehmen wir Facebook als Beispiel: Alles, was auf fb.com erscheint, läuft über unsere Server — zum Beispiel die Pressemitteilungen und Informationen für Aktionäre. Facebook ist eines der besten Technikunternehmen der Welt, und wir sind die Spezialisten, wenn es um WordPress geht.

WordPress ist sicher. Aber manche Leute schließen die Türen nicht richtig ab.

WIRED: Dabei wimmelt es im Internet von abfälligen Kommentaren über WordPress. Viele Entwickler stöhnen, wenn Kunden nach WordPress verlangen — nicht zuletzt, weil Ihr offenes System mit Tausenden von Plug-in-Erweiterungen eben ganz und gar nicht als sicher gilt.
Mullenweg: WordPress an sich ist ausgesprochen sicher. Aber wenn Sie an die Analogie mit dem Mieten und Hausbesitzen zurückdenken: Manche Leute schließen die Türen nicht richtig ab. Bei WordPress.com kümmern wir uns um mehrere Zehnmillionen Webseiten und erfüllen die höchsten Sicherheitsstandards. Alle möglichen Unternehmen vertrauen uns, von UPS und TED bis zu Vanguard, einem Finanzdienstleister. Und ganz ehrlich: Es ist nicht schwer, Websites sicher zu betreiben. Alles, was man braucht, gibt es kostenlos online. Es kommt darauf an, sichere Passwörter zu wählen, alles aktuell zu halten oder auch eine Zwei-Faktor-Authentifizierung zu nutzen.

WIRED: Bloggen ist nicht mehr besonders hip. Die meisten Menschen präsentieren sich lieber auf Facebook oder Instagram. Wozu dann noch WordPress?
Mullenweg: Vielleicht reicht Facebook als Ersatz, wenn man nur ein paar Gedanken mitteilen möchte, wie auf einem Blog. Aber die eigene Website ist weiterhin der beste Weg, sich im Netz darzustellen, und WordPress ergänzt sich ganz hervorragend mit sozialen Medien. Man kann zum Beispiel Blog-Einträge automatisch an Dienste wie Facebook oder LinkedIn weiterschicken. Dort können Freunde und Follower aufmerksam werden und von all diesen unterschiedlichen Stellen im Netz auf die persönliche Website kommen, wo sie genau das Erlebnis erhalten, das man sich wünscht: Es ist Ihr eigenes Design, es sind Ihre eigenen Inhalte. Wenn Sie Werbung schalten möchten, schalten Sie Werbung. Was immer Sie möchten, die Kontrolle liegt ganz bei Ihnen.

WIRED: Eine ganze Reihe von Startups wie Squarespace versucht, es Kunden noch einfacher zu machen als WordPress. Sie bieten fertig gestaltete Webseiten an, die man leicht an die eigenen Bedürfnisse anpassen kann.
Mullenweg: WordPress hat immer schon gute Konkurrenten gehabt, und diese neuen Dienste wie Squarespace, Weebly oder Wix leisten hervorragende Arbeit. Allerdings passiert es schnell, dass man an Grenzen stößt. Das liegt in der Natur der Sache Musterseiten, die sich ein wenig nach persönlichen Wünschen verändern lassen. Deshalb sehen wir viele Fälle, in denen Nutzer zu uns wechseln. Sie fangen bei einem dieser Dienste an, und wenn ihre Ansprüche wachsen, kommen sie zu WordPress.

WordPress kann ein Betriebssystem für das Internet werden.

WIRED: Der Blog-Eintrag, mit dem Sie das Überschreiten der 25 Prozent Marktanteil kommentiert haben, trägt die Überschrift: „Seventy-Five to Go“. Ist das Ihr Ernst?
Mullenweg: Na ja, die Überschrift sagt eigentlich alles. Ich glaube, WordPress hat das Potenzial, zu einer Art Betriebssystem für das Internet zu werden. Wir bauen etwas, das leicht zu erlernen, robust und zugleich flexibel genug ist, um die Mehrheit aller Websites zu betreiben. Es liegt jetzt an uns, die Software Stück für Stück zu verbessern — und auch die Wahrnehmung, damit es keine Missverständnisse rund um die Sicherheit und Erweiterungsfähigkeit gibt. Wir müssen zeigen, dass WordPress für alles mögliche taugt, egal ob Bank, Magazin oder privates Blog.

WIRED: Sie beschäftigen mit Automattic mehr als 400 Mitarbeiter, sind aber in aller Welt verteilt — wie geht das?
Mullenweg: Wir arbeiten weitgehend wie ein Open-Source-Team: Wir nutzen Dinge wie Google Hangout, Skype, Slack und unser eigenes Tool, P2, mit dem wir hausinterne E-Mails praktisch abgeschafft haben. Man muss sich das vorstellen wie bei einem nicht-öffentlichen Blog. Alles wird dort eingetragen und besprochen, und dank solcher Online-Tools spielt es kaum noch eine Rolle, wer wo wohnt. Wir haben drei Mitarbeiter in Deutschland, und sie sind jederzeit nur ein paar Klicks entfernt. Aber es ist auch wichtig, sich ab und zu persönlich zu sehen. Deshalb organisieren wir einmal im Jahr ein Treffen für alle Mitarbeiter und zwischendurch, eine Woche lang, für einzelne Teams. Sie dürfen sich aussuchen, wo sie hin wollen — es gab schon Meetups in Tokio, Hawaii, Südafrika oder Athen. Solche Treffen sind nach unserer Erfahrung sehr effektiv, und den Rest des Jahres arbeiten alle, wie und wo sie möchten.

Alles, was WordPress macht, könnte besser werden.

WIRED: Wo sehen Sie die großen Herausforderungen für WordPress?
Mullenweg: Oh je, da gibt es so viele. Alles, was WordPress macht, buchstäblich jeder einzelne Aspekt, könnte besser werden. Es gibt nichts, mit dem ich hundertprozentig zufrieden bin. Dazu kommen neue Geschäftsbereiche, die wir ausbauen wollen — so wie E-Commerce mit der Erweiterung WooCommerce, die wir im Mai gekauft haben. Ich denke, vor uns liegen noch Jahrzehnte an Arbeit. Das ist meine Lebensaufgabe. Ich möchte den Rest meiner Tage damit verbringen, WordPress zu verbessern, weil ich glaube, dass die Welt und das Web eine Open-Source-Plattform verdienen, die jeder von uns nutzen kann.

WIRED: Wie können Sie so weit voraus planen, in einer Welt, die sich rasend schnell verändert?
Mullenweg: Ich konzentriere mich mehr auf die Organisation als das Produkt oder Techniktrends. Mag sein, dass sich rund um Virtuelle Realität zum Beispiel neue Möglichkeiten für WordPress ergeben — aber mehr Zeit verbringe ich damit, mir zu überlegen, wie wir richtig aufgestellt sind, um effizient zu wachsen. Heute sind wir 400 Leute, in zehn Jahren vielleicht 4000. Was müssen wir tun, um dieses Wachstum gut zu bewältigen und am Ende effizienter zu arbeiten als heute? Bei Produkten denken wir eher in Ein- bis Dreijahreszeiträumen: Die nächsten zwölf Monate kann man konkret planen, und über drei Jahre hinweg wird der Ausblick etwas undeutlicher, ist aber immer noch OK.

Wir könnten eine ähnliche Revolution auslösen wie Gutenberg.

WIRED: Aber wie wollen Sie radikale Veränderungen überstehen? Vielleicht wird WordPress plötzlich überflüssig, durch etwas, das heute unmöglich abzusehen ist.
Mullenweg: Auf genau die gleiche Art, wie wir in den vergangenen zehn Jahren überlebt haben: durch ständige Anpassung. Keiner weiß, was die Zukunft bringt — aber man kann beweglich bleiben. Zu WordPress gehört, dass wir auf unsere Nutzer hören, mit geradezu religiöser Inbrunst. Und dass unsere Nutzer selbst dabei helfen, WordPress weiterzuentwickeln. Das heißt, die Menschen, die täglich mit der Software arbeiten, bestimmen auch mit, wohin wir uns als nächstes bewegen. Es ist ja nicht so, dass ich auf irgendeinen Berg klettere und am Ende mit Steintafeln zurückkomme, auf denen steht: „Dies ist die Zukunft von WordPress.“ Es ist ein sehr interaktiver Prozess — und ich glaube, wenn wir bescheiden und beweglich bleiben, dann gibt es nichts, auf das wir uns nicht einstellen könnten.

WIRED: Als Sie WordPress gegründet haben, waren Sie gerade 19 Jahre alt. Was hat Sie so am Bloggen fasziniert, dass Sie unbedingt Ihre eigene Software entwickeln wollten?
Mullenweg: Ich liebe Lesen und Schreiben. Beides gibt mir das Gefühl, zu einem besseren Menschen zu werden. Und im weiteren Sinne haben Medien mich schon immer fasziniert, weil durch die Geschichte hindurch jede Revolution in der Informationsvermittlung auch tiefgreifende soziale Veränderungen mit sich gebracht hat. Denken Sie nur daran, wie Gutenberg und die Druckerpresse die Machtverhältnisse verändert haben. Ich bin fest davon überzeugt: Wenn WordPress seine Mission erfüllt, jedem Menschen auf der Welt eine Stimme zu geben, dann können wir die Welt verbessern. Das Gleichgewicht wird sich zugunsten der Menschen verschieben, sodass sie genauso viel zu sagen haben wie Medien, Regierungen und Großkonzerne. Das ist die Welt, in der ich leben will. Ich glaube, es war Alan Kay, der gesagt hat: „Der beste Weg, die Zukunft vorherzusagen, ist es, sie zu erfinden.“ Was das Internet angeht, so denke ich, wir können es weit offener machen und der Welt ein Mehr an Freiheit bringen, überall und in allen Sprachen. Und damit vielleicht eine ähnliche Revolution auslösen wie Gutenberg vor vielen hundert Jahren. 

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