Hinweis zu Affiliate-Links: Alle Produkte werden von der Redaktion unabhängig ausgewählt. Im Falle eines Kaufs des Produkts nach Klick auf den Link erhalten wir ggf. eine Provision.

Teil 3 der WIRED-Deutschlandreise: Berlin, München, Frankfurt, Kalifornien

von Anja Reiter
Die Zukunft ist digital, das haben die Deutschen nun auch endlich kapiert. Wo steht dieses Land also, wo will es hin? Das wollten wir von WIRED herausfinden und sind fünf Monate lang durch Deutschland gereist. Herausgekommen ist ein Mosaik aus Digitalisierungsgeschichten in fünf Etappen. Teil 3 führt von Berlin über München und kurz nach Frankfurt – denn von dort aus fliegen wir direkt nach Sunnyvale, Kalifornien.

Diese Reportage erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe des WIRED Magazins im Dezember 2016. Wenn ihr die Ersten sein wollt, die einen WIRED-Artikel lesen, bevor er online geht: Hier könnt ihr das WIRED Magazin testen.

(Mit Teil 3 eingestiegen? Hier geht's zum Anfang der Serie)

Teil 3 der WIRED-Deutschlandtour // Berlin // Anfang November 2016

Ungefähr zwei Wegbier entfernt vom Startup-Campus Factory, einfach die Brunnenstraße runter und dann weiter in die Rosenthaler, kippt Hip-Berlin abends Wodka-Ginger-Ale in einem Brillenladen. Wo sonst.

Doch beim südkoreanischen Label Yun gibt es keine Vintage-Modelle, die so toll zu den Berliner Vollbärten passen. Den Shop beherrscht eine futuristische Maschine, ein Monstrum mit metallisch blitzender Transportrutsche – ein fünf Meter langes, vollautomatisiertes Gläser-Fertigungssystem. Nur 20 Minuten braucht es für eine neue Brille: Gestell aussuchen, Gläser dazu, dann wandert das Gestell über ein Laufband in die Glasschleifmaschine und wird danach von Hand angepasst. Zack, fertig. Total günstig, ab 99 Euro. Total unromantisch. Typisch Maschinenzeitalter.

Einen symbolträchtigeren Ort fürs Aufeinandertreffen von Mensch und Maschine hätte sich Gen Sadakane, Gründer und Creative Director der Foto-App EyeEm, für die Launch-Party der neuen Ausgabe des EyeEm-Magazins nicht aussuchen können. Sadakane lässt die Fotos der User drucken, die neue Nummer heißt: Machina – a curation of real photography by a machine. Und wenn man so will, sind diese 124 Seiten die Essenz dessen, was EyeEm in den vergangenen fünf Jahren aufgebaut hat: auf der einen Seite eine Community aus 20 Millionen sehr guten und vor allem engagierten Hobby- und Profifotografen; auf der anderen Seite ein sehr ausgetüfteltes Computer-Vision-System.

Eine KI ist das, „die beste Bildersuche der Welt“, wie der EyeEm-Mitgründer Florian Meissner sagt. „Es gibt nicht viele, die können, was wir können.“ Klingt größenwahnsinnig, ist es aber nicht. EyeEm hat sich in den vergangenen Jahren zu einem der auch international erfolgreichen Vorzeige-Startups aus Berlin entwickelt.

Vor zwei Jahren noch saß Meissner in seinem Kreuzberger Büro und erzählte, was sein Algorithmus da gerade lernte: richtige Ergebnisse zu liefern, wenn zum Beispiel jemand nach „Gelbe Blume auf schwarzem Hintergrund“ sucht. Das war damals noch eine Herausforderung für Computer-Vision-Systeme, heute kann Meissners Algorithmus EyeEm vision mehr. Er erkennt, was auf Fotos ist. Wer eine Landschaft mit Baum fotografiert, dem schlägt das System die Kategorien „Landscape, tree, outside“ vor, und bei zwei Männern im Smoking auf einem roten Teppich fällt ihm „glamour, only men, well-dressed“ ein. Das ist ziemlich beeindruckend und für das Geschäftsmodell von EyeEm unerlässlich.

Berlin sei einer der besten Orte, sagt Meissner. Immer noch günstig, voll mit guten Leuten

Die App bringt Fotografen mit den großen Bildagenturen der Welt wie Getty zusammen. Dort bekommt man heute EyeEm-Fotos, genauso wie auf dem Marktplatz des Startups. Die User partizipieren an den Umsätzen, auch Sadakane verkauft Bilder über die eigene Plattform: „Booooom, if I can you can“, postete er am 21. Oktober auf Facebook. Dazu einen Screenshot seines EyeEm-Kontos: „$372,43, ready for payout.“

Die Firma ist dabei, den weltweiten Markt der Stockfotografie umzukrempeln, längst hat sie ein Office in New York. Trotzdem wollen die Gründer Berlin als Headquarter nicht aufgeben. Das hier sei einer der besten Orte, sagt Meissner. Immer noch günstig, voll mit guten Leuten.

Für die Machina-Ausgabe ihres Magazins haben sie sich etwas Besonderes ausgedacht. Ihr Algorithmus EyeEm vision hat das Heft zusammengestellt. Denn das System kann auch entscheiden, welches Bild am besten ist. Das funktioniert für Marken wie Boston Consulting, für die EyeEm vision nur diejenigen Fotos raussucht, die zum Markenkern der Beratungsagentur passen. Und es funktioniert für alle Smartphone-Nutzer, für die es eine eigene App gibt: The Roll durchkämmt die Fotos auf dem Handy, erkennt doppelte und bestimmt das beste.

Für eine Bilderstrecke im Magazin hat The Roll verlorene Schätze von Usern wieder ausgegraben, in anderen werden die Lieblingsfotos der User den Lieblingsbildern des Algorithmus gegenübergestellt. Oder EyeEm vision versucht, den Geschmack von Bildredakteuren nachzubauen. „Unser Computer-Vision-System wird die menschliche Auswahl nicht ersetzen, aber es kann sie sehr wohl unterstützen“, sagt Sadakane. Für manche Menschen ist eben ein verwackeltes Bild das beste, weil es eine persönliche Geschichte erzählt.

Und genau dafür nutzen die meisten EyeEm-User die App: für persönliche Geschichten. Silvia Foglia etwa, die an diesem Abend zur Launch-Party gekommen ist. Noch heute erinnert sich die Italienerin an das erste Bild, das sie über den Marktplatz verkauft hat. EyeEm, das auf Community-Pflege setzt, hatte es ihr vergangenes Jahr als Weihnachtskarte geschickt. Oder an das erste Foto, mit dem die Marketingmanagerin einen EyeEm-Wettbewerb gewonnen hatte.

Das erzählt Foglia vorm Brillenladen. Durch die Schaufenster sieht man drinnen Berliner Gestalten, daneben steht hell erleuchtet die futuristische Maschine.
Das könnte doch ein Bild der Zukunft sein: der friedlichen Koexistenz von Menschen und Maschinen. Die einen feiern (sich selbst), die anderen arbeiten. Die Frage ist nur, was der Mensch auf Dauer zu feiern hat, der nichts mehr zu arbeiten hat.

München // Ende Oktober 2016

Ein loftartiges Büro in München-Laim, die Stahl- und Holzmöbel wurden vom hauseigenen Industriedesigner entworfen, und mittendrin steht er da: Toru, 1,75 Meter groß und ein kastiger Typ, 220 Kilo schwer. Vier Kilometer pro Stunde kann er zurücklegen, nach acht Stunden ist er müde. Dann ist sein Akku leer.

Toru ist ein Roboter, mit ihm wollen die Gründer des Münchner Startups Magazino die Welt der Warenlager und Logistik revolutionieren: Toru kann selbstständig Bestellungen zusammensuchen und kommissionieren. Er weiß, in welchem Regal die Paletten mit dem vierten Band von Harry Potter liegen und wo das Einzelexemplar der Doktorarbeit über Unterzungenakupunktur. Nebenbei schafft Toru den Menschen ab. Er macht ihn jedenfalls überflüssig, wenn er Lagerarbeiter von Beruf ist. Magazino-Gründer Frederik Brantner sagt: „Unser Roboter ist einzigartig. Wir bringen ihm keine deterministischen Prozesse bei, sondern Verhalten.“ Toru ist ein wahrnehmungsgesteuerter Roboter.

Um die Einzigartigkeit des Roboters zu unterstreichen, muss der 32-jährige Brantner etwas ausholen. In Industriehallen, drüben bei BMW etwa, würden Roboter Tausende Male am Tag den gleichen monotonen Bewegungsablauf ausführen: Sie schweißen, löten, montieren, stapeln, palettieren, fräsen und sägen. Das sei vergleichsweise einfach zu programmieren. Die Prozesse in der Logistik hingegen sind komplizierter als die in der Produktion. Das Lager sieht jeden Tag anders aus, die Tennisbälle liegen mal neben den Haferflocken, mal neben dem Stabmixer. Die Roboter müssen in Echtzeit auf ihre Umgebung reagieren. Sie müssen eine Vielzahl von Objekten erkennen, die in Form, Farbe und Gewicht höchst verschieden sind. Bisher war es effektiver, einen Menschen Bestellungen einsammeln und verpacken zu lassen.

Work is for machines, life is for people, sagt Brantner. Dann muss er los. Die Revolution hat nicht ewig Zeit

Toru soll das ändern. Er kann sehen, Objekte im Regal identifizieren und lokalisieren, sie sicher greifen, in seinem Bauch verstauen und präzise an ihrem Bestimmungsort ablegen – ganz ohne menschliches Zutun. Noch kann er zwar nur mit quaderförmigen Objekten umgehen: Schuhkartons, Bücher, Schachteln. „Vom typischen Gemischtwarenhandel eines Online-Händlers können wir 30 bis 40 Prozent der Objekte handeln“, sagt Brantner. Seine Entwickler arbeiten bereits daran, dass Toru bald auch Tüten greifen kann.

Rund 240 Milliarden Euro Umsatz wurden in Deutschland im Jahr 2015 mit der Lagerung und dem Transport von Gütern und der Steuerung von Waren- und Informationsflüssen erwirtschaftet. Durch den Einsatz von Robotern locken hohe Produktivitätssteigerungen, das Interesse ist daher groß. Bei Fiege Logistik sortiert Toru bereits Schuhkartons, bei Sigloch Distribution Bücher, bei DHL ist gerade ein Test erfolgreich abgelaufen. Eine strategische Partnerschaft mit Siemens soll Magazino helfen, zum „Weltmarktführer bei Logistikrobotern“ zu werden.

„Andere Roboter können nur ganze Ladungsträger identifizieren und herbeiholen, Magazino-Roboter hingegen holen das Einzelteil“, sagt Brantner. Toru arbeitet Seite an Seite mit Menschen, man muss ihn weder einzäunen noch das Lager umrüsten. Er ist mit Lasersensoren und 2D- und 3D-Kameras ausgestattet. Befehle empfängt er über WLAN, er stellt sich automatisch eine To-do-Lis-te zusammen. Er kann sich gar mit anderen Torus austauschen: „Hey, der glitzernde Schuhkarton ist tricky!“

Doch was passiert nun mit all den Lagerarbeitern? „In Deutschland hat die Automatisierung in der Produktion nicht zu menschenleeren Fabriken geführt“, sagt Brantner. Obendrein hätten Logistikunternehmen durch den demografischen Wandel schon Probleme, Leute für ihre Lager zu finden. Roboter könnten besonders lästige, schwere, unergonomische Tätigkeiten übernehmen.
„Work is for machines, life is for people“, sagt Brantner. Dann muss er los. Die Revolution hat nicht ewig Zeit.

München // Mitte Oktober 2016

Fahren ist auch for people. Das wird trotz der autonomer werdenden Gefährte noch eine Weile so bleiben, glaubt man drüben bei BMW. Edgar Heinrich arbeitet dort an und in der Zukunft des Fahrens – er arbeitet der Gegenwart sozusagen fünf Jahre voraus. „Was heute auf der Straße fährt oder auf den Messen steht, ist für uns alter Kram“, sagt der Chefdesigner von BMW Motorrad (hier im ausführlichen Interview). Zum hundertsten Geburtstag seines Arbeitgebers reichten selbst diese fünf Jahre Vorausblick nicht mehr aus. Heinrich sollte noch weiter nach vorne schauen, BMW wollte von ihm wissen: Wo geht die Entwicklung in den nächsten hundert Jahren hin? Oder zumindest mal: Wie sehen Motorräder 2030 aus?

Die Fragen sind Teil der Vision Next 100. Mit ihr will BMW seine Kunden und Konkurrenten von der Innovationskraft BMWs überzeugen. Und wohl auch sich selbst. Neben dem Motorrad der Zukunft stellte das Unternehmen neue Autokonzepte der Kernmarke BMW vor, von Rolls-Royce und von Mini. Es ist hohe Zeit für die Zukunft, der Druck wächst.

Das Manager Magazin zitiert den BMW-Finanzvorstand Friedrich Eichiner mit den Worten: „Nichts wäre schlimmer, als eine zentrale Entwicklung zu verschlafen und auf Jahrzehnte hinterherzurennen.“ Und aus dem Umfeld von Vorstandschef Harald Krüger heißt es: Wenn die neuen Autoplattformen nicht bis 2023 fertig würden und die BMW-Verkäufer „keine wettbewerbsfähigen und profitablen Autos anbieten, sind wir tot“.

Mercedes wächst schneller als BMW, und auf dem Markt für elektrische Fahrzeuge drohen die Münchner abgehängt zu werden – Krüger hat zuletzt für 2017 das Ziel ausgegeben, BMW solle in dem Jahr seinen Absatz von „elektrifizierten Autos“, also auch von solchen mit Hybridmotor, von aktuell 60.000 auf 100.000 Stück steigern. Aus den USA drängt die Konkurrenz mit neuen Elektromobilen in die untere Mittelklasse. Der Bolt von GM kommt als Opel Ampera-e im Frühjahr 2017 raus, Tesla rückt auch nach Europa vor, will hier eine Gigafactory bauen und mit dem Know-how des zugekauften deutschen Maschinenbauers Grohmann seine Fertigung auf Massenniveau heben. Und dann drohen ja noch Googles self-driving cars und Apples automobile Ambitionen.

Das Auto ist ein weiteres Smart Device, der Fahrer längst User

Dieter May, Senior VP of Digital Services & Business Models BMW

„Man muss sich vorstellen, dass ein iOS- oder ein Android-Betriebssystem auf einmal in einem BMW läuft, dann verlieren wir die digitale Kundenschnittstelle im Fahrzeug“, sagt Dieter May, Senior Vice President of Digital Services & Business Models. May ist einer der Verantwortlichen für den digitalen Wandel bei der BMW Group und zuständig für das hauseigene digitale Konzept, die BMW-ConnectedDrive-Plattform. „Das Auto ist ein weiteres Smart Device“, sagt May, der Fahrer sei längst User.

Beim neuen 5er etwa werden mit BMW Connected personalisierte Informationen angezeigt, die vom Smartphone nahtlos ins Auto übertragen werden. Sobald der User sich reinsetzt, erkennt ihn sein Fahrzeug. Es schlägt ihm die besten Routen vor, zeigt seinen Kalender an, integriert auch bald den Autopiloten. „Wir managen Mobilität neu“, sagt May. Bis Ende das Jahres soll das System weltweit ausgerollt werden. Und mit dem iNext soll der nächste große Schritt gemacht werden, 2023 soll er fertig sein, ab 2025 auch mit Brennstoffzellen fahren. Connected wird fester Bestandteil des Fahrzeugs sein. „Es gibt eine eigene BMW-Soul“, sagt May, und diese Seele will sich das Unternehmen nicht von anderen stehlen lassen – selbst wenn die Seele im Betriebssystem steckt.

Hört man den Designer Edgar Heinrich hingebungsvoll über sein Motorradkonzept sprechen, glaubt man auch zu erkennen, wie sich da jemand gegen den Verlust des analogen Erlebnisses wehrt. „Motorradfahren ist, als ob man ein Pferd reitet“, sagt Heinrich, „es muss schnaufen und keuchen.“ Mit diesem Gedanken entwickelte seine Abteilung ein Konzeptmotorrad, das den Fahrer zumindest glauben lässt, er steuere immer noch selbst – und werde nicht gesteuert.

Der Trick liegt im Design, in Wahrheit greift der Computer durchaus ein: Pneumatische Muskeln lösen künstliche Fahrgelenke ab, ein Gyroskop verhindert jedes Umkippen, intelligente Assistenten kümmern sich um die Sicherheit, regulieren die Kurvenlage, achten aufs Tempo. „Das Bike ist immer noch Teil des Verkehrssystems, meldet sich aber nur im Notfall“, sagt Heinrich. „Ich brauche dann keine komische Klamotte mehr, keine Ritterrüstung, wie sie heute viele tragen“, sagt Heinrich. „Ich werde so fahren können wie früher Franz Josef Strauß mit seinem Käppi.“ Der Designer ist überzeugt: Gerade durch die Digitalisierung könnte sich ein Paradoxon entwickeln. Das analoge Fahrerlebnis wird wieder in den Vordergrund rücken – und da mache kein Tech-Startup aus dem Silicon Valley BMW etwas vor.

Doch was, wenn sich nicht nur für Startups, sondern auch für Konzerne das ändert, was man so Geschäftsmodell nennt? Was ist dann ihr Pivot – wie ändern sie ihre Fahrtrichtung?

Sunnyvale, Kalifornien // Anfang Juli 2016

Die Verbindung zwischen Deutschland und Silicon Valley steht, die rund 10.000 Kilometer Luftlinie sind für eine Airline kein Problem. Zur Feier ihres ersten Direktfluges zwischen Frankfurt und San José hat die Lufthansa einen Tross Journalisten mitgenommen, um ihnen die Aktivitäten der Airline im Valley zu zeigen. Das Unternehmen will sich selbst und andere überzeugen: Hier verwandelt sich gerade ein Luftfahrtkonzern in einen Mobilitätsdienstleister.

Doch nun hocken die deutschen Besucher schon seit einer halben Stunde in einem fast leeren Konferenzsaal in Sunnyvale. Der abgestandene Filterkaffee aus der Pumpkanne, der angelaufene Teppichboden: Das alles riecht nicht wirklich nach Zukunft. Die Flure und Bürozellen des Super-Accelerators Plug and Play sind verlassen. Ausgerechnet den Fourth of July hat sich die Lufthansa ausgesucht, um Gründer-Luft zu schnuppern. Die Gründer sind ausgeflogen, sie sind im amerikanischsten aller Feiertage, dem Unabhängigkeitstag.

Im Foyer von Plug and Play sieht man an der Wand die Logos all der deutschen Konzerne, die unter anderem hier Anschluss suchen an die digitale Welt: Bosch, Deutsche Bank, Volkswagen, HDI, Münchener Rück, Henkel, Axel Springer und eben auch Lufthansa. Sie reihen sich ein in die Riege internationaler Unternehmen, die Sorge, die Zukunft zu verpassen, ist ja kein exklusiv deutsches Phänomen. Unter anderem auch Ford, Mazda, Nissan, Sharp, Renault, Anheuser-Busch, Philips, Santander, Panasonic und Exxon Mobil sind Partner von Plug and Play. Angst schweißt zusammen, könnte man meinen. Oder umgekehrt: die Aussicht auf künftige Gewinne.

Sie reihen sich ein in die Riege internationaler Unternehmen, die Sorge, die Zukunft zu verpassen, ist ja kein exklusiv deutsches Phänomen

Die verspricht der junge Israeli Asaf Gendler, und er arbeitet auch am amerikanischen Unabhängigkeitstag. Gendler präsentiert nun seine herrlich einfache und kluge Geschäftsidee mit eindrucksvollen Zahlen: „Die zwölf weltgrößten Airlines können über 20 Prozent ihrer Sitze nicht verkaufen“, ein Verlustgeschäft von 120 Milliarden Dollar. Sein Startup Bidflyer werde es den Unternehmen ermöglichen, die Plätze zu füllen. Bidflyer will die Resttickets versteigern, mit einer „Real Time Auctions“-Plattform.

Ihr Algorithmus ermittelt die durchschnittliche Auslastung von Flugzeugen und identifiziert leere Sitze im System; den Airlines garantiert Bidflyer eine Mindesteinnahme, den Fluggästen einen optimalen Preis. „Mehrere Hundert zusätzliche Tickets kann eine Airline so am Tag verkaufen“, sagt Gendler. Die Lufthansa hat im Sommer ja auch schon mal bei Airbnb Flüge angeboten, gewitzt als „Gemeinsames Zimmer“, halt eines mit Fernblick über den Wolken.

„Wir nehmen uns Ideen aus dem Valley zum Vorbild und versuchen, es genauso zu machen“, sagt Sebastian Herzog, der zu Hause in Berlin den vor zwei Jahren gegründeten Lufthansa Innovation Hub leitet. Herzog war zuvor Assistent des Vorstandsvorsitzenden Carsten Spohr, der die Digitalisierung der Lufthansa vorantreibt, mit einer halben Milliarde Euro Einsatz allein bis 2020. Dabei scheint die Luftfahrt doch ein kaum durch die typische äußere disruption des Valley bedrohtes Business zu sein. Der Angriff auf die Etablierten geschieht seit Langem aus dem System selbst, durch Billigflieger. Die machen ja im Prinzip nichts anderes als die anderen auch, sie fliegen – sie machen es nur billiger. Kosten drücken, Effizienz steigern, ein total stumpfes Geschäftsmodell.

Für Herzog ist die Lufthansa mehr als eine Flotte von Flugzeugen, die Menschen von A nach B bringen. Sie ist eine offene Plattform für Daten. Dafür wandelt Herzog – jung, gut getrimmter Bart, lockere „gets things done“-Selbstbeschreibung im Linked-In-Profil – zwischen Startup-Welt und Big Corporate. Herzogs Hub hat unter anderem bereits die App Airline-Checkins gelauncht, die einen überall eincheckt, egal, mit welcher Linie man fliegt. So muss man nicht mehr all die lästigen einzelnen Airline-Apps auf dem Smartphone haben, die man eh kaum benutzt.

In Berlin hat der Lufthansa-Hub zudem mit dem Start-up Ally schon die App Time2Gate getestet, die einem verschiedene Alternativen für eine unkompliziertere An- und Abreise zum und vom Flughafen weg lieferte: Lieber Taxi oder Carsharing? Mittlerweile ist die App abgeschaltet. Die learnings würden nun geprüft, sagt Herzog, konkrete Pläne für einen vollständigen rollout gebe es derzeit nicht. Was wohl heißt: Überwältigend war dieser Test nicht.

Letztlich, so scheint es, ist Herzogs Aufgabe derzeit, bei der Lufthansa nach innen wie außen Innovationen anzustoßen, die den Kern des Konzerns nicht grundsätzlich infrage stellen: Menschen von A nach B bringen. Vielleicht kann man das Fliegen ja nicht neu erfinden. Oder noch nicht.

Die nächste Etappe der WIRED-Deutschlandtour beginnt in Karslruhe und führt über Reutlingen zurück nach Berlin. Alle Teile lest ihr in der neuen Ausgabe des WIRED-Magazins.

Teil 1

Teil 2

Teil 3

Teil 4

Teil 5

GQ Empfiehlt