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Das Handy als Scanner oder Prothese: Was sich derzeit auf dem Mobile-Health-Markt tut

von Max Biederbeck
Fitnesarmbänder, Trainingsapps und Schrittzähler sind für viele Startups kein Thema mehr. Junge Gründer und Forscher denken jetzt größer: Sie wollen aus dem Smartphone ein Multifunktions-Werkzeug der Medizin machen. Damit erschaffen sie sich selbst einen Markt, auf dem es ganz schön viel zu holen und zu tun gibt.

Für seinen Angriff hat Henrik Matthies ein weiß glänzendes Sakko und ein paar Vintage-Jeans angezogen. Er will schick aussehen, aber nicht bieder wirken. Ein Geschäftsmann, kein Anzugträger — eben einer von der neuen Generation. Auch das Produkt, das Matthies vorstellt, soll zur neuen Generation gehören, im März bringt sein Unternehmen es auf den Markt. Der Plan: das Business mit Gesundheitstechnik aufzumischen.

Lässig spaziert der 32-Jährige an diesem Februartag auf einer kleinen Bühne auf und ab. Aufgebaut hat sie die Factory Berlin — das deutsche Epizentrum für alle, die eine gute Geschäftsidee zu haben glauben. Matthies Unternehmen Mimi ist heute der zweite Wettbewerber beim Startup Europe Summit. Auf einem anderen Podium der Veranstaltung diskutieren Politiker wie Günther Oettinger oder Andrus Ansip gerade über die Gründer-Freundlichkeit Europas. Und hier beim Wettbewerb kämpfen die Entrepreneure selbst um die Gunst der Investoren.

Nur einer von vier Schwerhörigen in Deutschland hat ein Hörgerät.

Dementsprechend sagt Matthies auf der Bühne Sätze wie: „Nur einer von vier Schwerhörigen in Deutschland hat ein Hörgerät“ und „Unser Ansatz wird den Markt revolutionieren, die gesamte Hörakkustiker-Branche hat dringend Innovationen nötig.“ Keine kleinen Worte, aber das Produkt, das der gebürtige Kölner da präsentiert, klingt vielversprechend: Mimi will iPhones in Hörgeräte verwandeln. Für rund fünfeinhalb Millionen Schwerhörige in Deutschland könnte das bedeuten, dass sie sich die Besuche beim Akustiker in Zukunft sparen können. Rund 300 Millionen Schwerhörige gibt es auf der ganzen Welt, nur ein Bruchteil von ihnen hat Zugang zu Hörgeräten. Vor allem aber fehlt häufig der Zugang zu Experten, die diese richtig einstellen. Handys gibt es dagegen mittlerweile sogar in den entlegensten Gebieten. Wenn das Smartphone aufwändige Hörgeräte überflüssig machen könnte, wäre das eine kleine medizinische Revolution. Das glaubt zumindest Matthies mit seinem weißen Sakko. Aber er ist eben auch Business Man, für ihn ist das Ganze vor allem ein Geschäft.

Denn Produkte wie Mimi sind Teil eines schnell wachsenden Marktes: Mobile Health (Mhealth). Während die Verbraucher gerade erst smarte Fitnessbänder und Datentracker für sich entdecken, gehen junge Unternehmen und Forscher schon einen Schritt weiter. Ihnen geht es nicht mehr nur um Produkte, mit denen User ihre tägliche Gesundheit überwachen können.

Sie entwickeln konkrete Anwendungsszenarien für mobiles Hightech in der Medizin: Die Minicomputer in unserer Hosentasche werden darin zu Scannern, Diagnostikern oder Prothesen. Da ist zum Beispiel das Unternehmen Peek, das mit seiner App mobile Augentests anbietet. Die App verwandelt das Smartphone in einem Retinascanner. Den können zum Beispiel Ärzte in Gegenden benutzen, in denen es zu wenige Augenkliniken gibt, um die Bevölkerung flächendeckend zu versorgen. Andere Tools sollen als künstlicher Pankreas für Diabetiker dienen oder per Smartphone-Aufsatz Lungenkrebs erschnüffeln – wie das Sniffphone aus Israel. Dessen Macher haben gerade sechs Millionen Euro an Investitionen eingestrichen, um das Projekt zur Marktreife zu bringen.

Mimi ist da schon einen Schritt weiter. Schon jetzt bietet das Startup von Henrik Matthies eine App an, mit der Nutzer einen kostenlosen Hörtest machen können. Der, so behauptet das Unternehmen, wird bereits von der Berliner Charité getestet. Ab März soll dann der Prozessor im iPhone benutzt werden, um per Kopfhörer ein virtuelles Hörgerät zu erschaffen. Das Apple-Smartphone biete derzeit noch eine sehr viel schnellere Soundverarbeitung als seine Android-Pendants, sagt Mimi.

Die App soll in Zukunft vor allem mit Bluetooth-In-Ear-Devices wie The Dash funktionieren, kann aber auch zur Steuerung klassischer Hörgeräte benutzt werden. Der User kann die App in sechs verschiedenen Stufen an die jeweilige Situation anpassen und spart sich damit den aufwändigen Gang zum Hörakustiker. „Die Krankenkassen, mit denen wir gesprochen haben, sind begeistert von der Idee“, sagt Matthies. „Wir brauchen aber noch eine offizielle Genehmigung, um unser Produkt als Hörgerät bezeichnen zu dürfen.“ Das Ganze soll dann auch in einem Premium-Abo angeboten werden. Wieder hören können mit allen Zusatzfunktionen wird bei Mimi fünf Euro im Monat kosten.

Beim Wettbewerb in der Factory zeigt Matthies Vorbewerber eine fünfminütige Präsentation des eigenen Business-Modells. Der Pitch hat eigentlich mit einem Thema zu tun, das auf den ersten Blick viele Investoren anziehen müsste: smarte Systeme für das Auto. Doch die Reaktionen sind durchwachsen. „Das Produkt braucht doch niemand“, murmelt jemand im Publikum. Ein anderer sagt: „Ein total übersättigter Markt.“ Matthies dagegen wird wohlwollend beklatscht und landet auf dem Siegertreppchen. Von seinem Markt sagt keiner der Investoren, dass er übersättigt sei.

Das Gesundheitswesen wird sich in den nächsten fünf Jahren tiefgreifender verändern als in den letzten fünfzig.

„Der deutsche Gesundheitsmarkt hat derzeit ein Gesamtvolumen von 350 Milliarden Euro und wächst stetig, auch aufgrund der Entwicklungen in unserer Demographie“, sagt Ulli Jendrik Koop. Er ist Geschäftsführer von XLHEALTH, einem Investor, der sich auf Digital Health spezialisiert hat. Das Gesundheitswesen, so ist er sicher, wird sich dabei in den nächsten fünf Jahren tiefgreifender verändern als in den letzten fünfzig. „Ich gehe davon aus, dass unausweichlich die vollständige Integration von Digital-Health-Anwendungen in bestehende Strukturen und IT-Lösungen im Gesundheitssystem bevorsteht“, sagt Koop.

Mimi ist einer der Vorreiter dieser Entwicklung. Sie befähigt Menschen einerseits, sich selbst zu behandeln und verbessert andererseits bestehende Therapieformen, indem Patient und Arzt besser miteinander vernetzt werden. Plattformen wie Klara oder SmartPatient sind dafür schon jetzt gute Beispiele.

Die jungen Firmen helfen sich selbst, aber auch anderen, indem sie einen neuen medizinischen Markt schaffen. Ein Beispiel, dass das nicht nur für Deutschland gilt, zeigt das gut: „Ein Indonesier hat uns geschrieben“, erzählt Matthies. Das Land hat rund 240 Millionen Einwohner. Hörakustiker, die sich um Hörgeräte kümmern, gebe es nur um die 100. Der Mann, der sich meldete, wollte Mimi deshalb in seinem Land zum Einsatz bringen. Ein Beweis dafür, dass es einen Bedarf an Produkten wie Mimi gibt. Und das ist gute Werbung für den selbstsicheren Gründer mit dem weißen Glanz-Sakko. 

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