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Jetzt übernehmen Physiker das Silicon Valley – und hängen die Coder ab

von Cade Metz
Ingenieure und Coder sind längst nicht mehr die gefragtesten Mitarbeiter im Silicon Valley. Mehr und mehr übernehmen Physiker in allen wichtigen Positionen die Führung. Für den wichtigsten Trend der Tech-Branche besitzen sie die perfekte Ausbildung.

Es sei gerade gerade keine gute Zeit für Physiker, sagt Oscar Boykin. Er hat Physik am Georgia Institute of Technology studiert und 2002 seine Promotion abgeschlossen. Vor vier Jahren entdeckten Forscher  mit dem Large Hadron Collider in der Schweiz das so genannte Higgs-Boson, ein subatomares Partikel, der zum ersten Mal bereits in den 1960er Jahren in der wissenschaftlichen Literatur auftauchte – und deswegen weder die theoretischen Modelle des Universums durcheinanderbrachte, noch den Physikern neue Forschung möglich machte.

„Physiker werden dann aufgeregt, wenn etwas schiefläuft und wir sind gerade in einer Situation, in der nicht viel schiefläuft,“ sagt Boykin aus diesem Grund. Und das sei deprimierend für Physiker, vor allem weil die Gehälter nicht besonders toll seien. Deshalb ist Boykin auch kein Physiker mehr. Er ist jetzt Software-Ingenieur im Silicon Valley. Und dafür ist gerade durchaus die perfekte Zeit.

Boykin arbeitet bei Stripe, einem neun Milliarden-Dollar-Startup, das Unternehmen bei der Annahme von Online-Zahlungen unterstützt. Sein Job ist der Aufbau von Softwaresystemen, die Daten von Unternehmen sammeln, um zukünftige Finanzdienstleistungen vorhersagen zu können. Also auch wann, wo und wie betrügerische Transaktionen auftreten werden.

Als Physiker ist Boykin perfekt für diese Aufgabe geeignet, die sowohl besondere Fähigkeiten in höherer Mathematik als auch abstraktes Denken erfordert. Und anders als viele Physiker arbeitet er gerade in einem Bereich, der unzählige Herausforderungen und Möglichkeiten bietet. Außerdem ist das Gehalt super.

Wir sind nicht in den Physiker-Kindergarten gegangen und haben einen Korb voll Kinder gestohlen

John Collison, Mitgründer von Stripe

Wären die Physik und die Softwareentwicklung subatomare Teilchen, dann wäre das Silicon Valley der Ort, an dem sie aufeinanderprallen. Bei Stripe arbeitet Boykin mit drei weiteren Physikern zusammen. Als General Electric im Dezember 2016 das Machine-Learning-Startup Wise.io kaufte, prahlte CEO Jeff Immelt damit, dass er sich gerade ein Unternehmen voll mit Physikern geschnappt habe, insbesondere UC-Berkeley-Astrophysiker Joshua Bloom. Die Open-Source-Machine-Learning-Software H20, die von 70.000 Datenwissenschaftlern weltweit genutzt wird, wurde vom schweizer Physiker Arno Candel mitentwickelt, der vorher am SLAC National Accelerator Laboratory angestellt war. Und Microsofts Head of Data Science, der Astrophysiker Vijay Narayanan, beschäftigt zahlreiche weitere Physiker als Mitarbeiter. 

Das war nicht unbedingt so geplant. „Wir sind nicht in den Physiker-Kindergarten gegangen und haben einen Korb voll Kinder gestohlen,“ sagt Stripe-Präsident und Mitbegründer John Collison. „Es ist einfach passiert.“ Und es passiert gerade im ganzen Silicon Valley. Das liegt daran, dass die Bedürfnisse von Internetunternehmen und die Kompetenzen der Physiker immer besser zusammenpassen. 

Sicherlich haben Physiker in der Computertechnik schon immer eine Rolle gespielt, genauso wie sie in so vielen anderen Bereichen eine Rolle spielen. John Mauchly war Physiker. Er hat den ENIAC, einen der frühesten Computer mitentwickelt. Dennis Ritchie, der Vater der Programmiersprache C, war auch einer.

Aber gerade ist ein idealer Moment für Physiker in der Computertechnik. Grund dafür ist der Aufstieg des Machine Learnings, bei der die Analyse von gewaltigen Datenmengen den Computern dabei hilft, neue Aufgaben zu erlernen. Dieser neue Trend von Datascience und KI passt einfach perfekt zu ihnen.

Die Branche hat sich neuronalen Netzwerken verschrieben: Software also, die das menschliche Gehirn imitiert. Eigentlich bestehen diese neuronalen Netzwerke aber nur aus Mathematik. Am wichtigsten sind lineare Algebra und Wahrscheinlichkeitsrechnung. Computerwissenschaftler sind nicht zwangsläufig in diesen Bereichen ausgebildet, Physiker hingegen schon. „Das Einzige, was wirklich neu ist für Physiker, ist wie man diese neuronalen Netzwerke optimiert und trainiert. Aber das ist relativ einfach,“ sagt Boykin. „Eine Möglichkeit dafür ist die Newton-Methode. Newton, der Physiker, nicht irgendein anderer Newton.“

Machine Learning ist für einen Physiker natürlicher als für einen Computerwissenschaftler

Chris Bishop, Leiter des Cambridge Forschungslabors von Microsoft

Chris Bishop leitet heute das Cambridge-Forschungslabor von Microsoft und fühlte sich vor 30 Jahren genauso wie Boykin. Damals hatte die akademische Welt zum ersten Mal die Möglichkeiten neuronaler Netzwerke für sich entdeckt. Das brachte Bishop von der Physik zum Machine Learning. „Der Wechsel zum Machine Learning ist etwas sehr Natürliches für Physiker,“ sagt er. „Natürlicher als für einem Computerwissenschaftler.“

Vor zehn Jahren, sagt Boykin, seien viele seiner alten Physiker-Freunde in die Finanzwelt gewechselt. Dieselbe Art von Mathematik sei auch an der Wall Street extrem hilfreich für Vorhersagen über die Marktentwicklung. Eine Schlüsselmethode war das Black-Scholes-Modell, mit dem man den Wert von Finanzderivaten ermitteln kann. Es trug aber auch zum großen Crash 2008 bei. Mitunter ein Grund, warum Boykin und andere Physiker sich jetzt mehr für  Data Science und andere Bereiche der Computertechnologie interessieren.

Anfang des Jahrzehnts sind Physiker in die großen Tech-Unternehmen gewechselt, um sie bei dem Aufbau von Big Data zu unterstützen. Also Systeme, die ihre Daten über hunderte oder sogar tausende Maschinen hinweg jonglieren. Am Bau eines solchen Systems namens Cloudant hat Boykin bei Twitter mitgearbeitet. Physiker wissen, wie man mit Daten umgeht – am MIT arbeiteten die Gründer von Cloudant mit riesigen Datenmengen des Large Hadron Collider. Um diese enorm komplexen Systeme zu bauen, erfordert es eine besondere Art des abstrakten Denkens. Waren sie erstmal gebaut, haben viele Physiker auch bei der Verwaltung der Daten geholfen. 

Die Gehälter im Tech-Bereich sind absurd

Oscar Boykin, Physiker bei Stripe

Eine Schlüsselfigur in der Anfangszeit von Google war Yonatan Zunger, der einen PhD im Bereich der Stringtheorie von Stanford hat. Und als Kevin Scott das Anzeigenteam von Google übernahm, stellte er unzählige Physiker ein, die ihm halfen vorherzusagen, welche Werbeanzeigen voraussichtlich die meisten Klicks erhalten würden. Anders als viele Computerwissenschaftler waren Physiker für die experimentelle Natur von Machine Learning bestens geeignet. „Es war fast wie Laborwissenschaft,“ sagt Kevin Scott, jetzt Chief Technology Officer bei LinkedIn.

Big Data ist alltäglich geworden – Stripe benutzt etwa eine Open Source Version jener Software, die Boykin bei Twitter mitentwickelt hat. Sie hilft Machine-Learning-Algorithmen vieler Firmen bei ihren Entscheidungen. Dadurch steht Physikern die Tür ins Silicon Valley noch weiter offen. Bei Stripe arbeitet Boykin mit Roban Kramer (PhD in Physik an der Columbia University), Christian Anderson (Physik-Master in Harvard) und Teamleiter Kelley Rivoire (Physik-Bachelor am MIT) zusammen. Sie sind dort, weil ihnen die Arbeit liegt. Und wegen des Geldes. Boykin sagt: „Die Gehälter im Tech-Bereich sind absurd.“ Aber die Physiker sind nicht nur deshalb hier, sondern auch, weil es so viele schwierige Probleme zu lösen gibt.

Christian Anderson verließ Harvard, bevor er seinen PhD abgeschlossen hatte, weil sich sein Blick auf die Wissenschaft verändert hatte – sie war zu einer intellektuellen Jagd mit sinkenden Erträgen geworden. Beim Internet ist das etwas anderes. „Der Begriff des Internets impliziert seinen Umfang, seine Reichweite,“ sagt Anderson. „Es gibt größere Möglichkeiten, aber auch einen größeren Raum für Herausforderungen, den Problemraum. Er bietet intellektuelles Potential.“

Bald muss jeder Ingenieur denken wie ein Physiker

Heute wechseln Physiker ins Silicon Valley. Aber in den nächsten Jahren das Phänomen viel größere Kreise ziehen. Machine Learning wird nicht nur die Analyse von Daten weltweit verändern, sondern auch die Art, wie Software gebaut wird. Neuronale Netzwerke sind schon jetzt mit der Neuerfindung von Bild- und Spracherkennung, automatischer Übersetzung und Software-Interfaces beschäftigt.

Chris Bishop von Microsoft sagt, dass die Softwareentwicklung sich von handgefertigtem und auf Logik basierendem Code hin zu Algorithmen bewegt, die auf Wahrscheinlichkeit beruhen. Firmen wie Google oder Facebook beginnen damit, ihre Ingenieure auf diese neue Art des Denkens umzuschulen. Irgendwann wird auch der Rest der Computerwelt nachziehen.

Mit anderen Worten sind Physiker, die in den Bereich eines Silicon-Valley-Ingenieurs vordringen, Vorboten einer viel größeren, bevorstehenden Veränderung. Denn bald muss jeder Silicon-Valley-Ingenieur denken wie ein Physiker.

WIRED.com

Dieser Artikel erschien zuerst bei WIRED.com
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