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Die Einkaufswelten verschmelzen – wer gewinnt den Kunden?

von Karsten Lemm
Minipreise, maxi Auswahl – so ist E-Commerce groß geworden. Nun suchen Kunden Shopping-Erlebnisse auf allen Kanälen. Einkaufswelten verschmelzen, und Online-­Händler öffnen eigene Läden, während traditionelle Geschäfte ums Überleben kämpfen. Wer gewinnt?

Mit 94 Jahren wird es noch mal Zeit für etwas Neues. 1923 gegründet, ringt Conrad Electronic mit einem scheinbar übermächtigen Gegner: dem Internet. Festplatten, Modellbaukästen, Messgeräte – all das, was der bayeri­sche Mittelständler im Sortiment führt, lässt sich auch online finden. Die Filialen allerdings, strategisch über die Republik verteilt, besitzt sonst niemand. Sie wurden nur, glaubt die Firma, bisher nicht richtig genutzt. Höchste Zeit, das zu ändern.

„Händler haben zu lange gewartet, sich aus der Versorgerrolle zu lösen“, sagt Aleš Drábek, der ehemalige Digitalchef der Metro-Gruppe. „Man geht an ein Regal, wählt ein Produkt, muss an der Kasse warten“ – kein Wunder, dass viele Menschen lieber online kaufen: Klick und weg.

Als Chief Disruption Officer ist Drábek, ein Tscheche, nun bei Conrad dafür zuständig, den eigenen Laden aufzumischen. Aus den Filialen will er kleine Erlebnisparks für Technikfreun­de machen, mehr Beratung und Unterhaltung bieten, das Anfassen und Ausprobieren betonen. An­dernfalls, sagt Drábek, „haben die Läden für unsere Kunden keinen Wert mehr“.

Dass stationäre Händler sich nicht länger darauf beschränken können, Ware ins Regal zu stellen, mag nicht jeder akzeptieren – immer noch nicht. „Eine Aufholjagd hat begonnen, allerdings sehr zögerlich“, sagt Benedikt Schmaus, Retail-Experte bei der Unternehmensberatung PwC. „Manche Unternehmen sind sehr innovativ, andere investieren nur das Nötigste.“

Wer Kunden vor allem über den Preis lockt und mit minimalen Gewinnspannen arbeitet, rutscht dabei schnell ins Minus. Wegen der hohen Kosten für Miete, Personal und Lagerhaltung seien viele Filialen bereits „de facto nicht mehr profitabel“, sagt Schmaus. Abseits von Prachtstraßen ist das deutlich zu sehen: Wie Zahnlücken in einem einst strahlenden Lächeln klaffen immer neue Löcher in den Ladenzeilen, wenn Geschäfte dichtmachen müssen.

Von einer „Retail-Apokalypse“, wie sie in den USA bereits beschworen wird, will Stephan Tromp dennoch nichts wissen. „,Online macht alle platt‘, das ist zu kurz gedacht“, sagt der stellvertretende Geschäftsführer des Branchenverbands HDE. E-Commerce sei schlicht „eine neue Konkurrenz, die alte Strategien in Zweifel stellt. Letztlich muss sich der gesamte Handel digitalisieren.“ Das hält Immobilien-Spekulanten nicht davon ab, weiterhin Shopping-Center wie gewohnt in die Landschaft zu stellen. „Wir werden einen Bereinigungsprozess sehen“, sagt Tromp vorher, „weil wir zu viele Verkaufsflächen haben.“

Der große Gewinner heißt Amazon. Jeder fünfte Euro, den Deutsche im Internet ausgeben, landet in der Kasse von Jeff Bezos. Über 20 Jahre hinweg hat sich der Online-Pionier eine dominante Marktposition erkämpft. Grenzenlose Auswahl, schnelle Lieferung, problemloser Umtausch, dazu noch Musik- und Video­streaming ohne weitere Kosten, wenn Kunden ein Prime-­Abo abschließen – so entsteht ein Rundum-­sorglos-Paket, das es Rivalen schwermacht mitzuhalten und Amazon zugleich vom Zwang befreit, jederzeit der Billigste zu sein.

„Amazon hat es sehr geschickt verstanden, Kunden zu binden und sich aus dem Preisvergleich zu lösen“, sagt Christoph Langenberg, E-Commerce-Spezialist beim EHI Retail Institute in Köln. „Es ist ein richtiger Kosmos, und wenn man es sich darin einmal bequem gemacht hat, sehen die meisten kaum einen Grund, ihn wieder zu verlassen.“ Verfolger bemühen sich vor allem, beweglicher zu sein als der Koloss aus Amerika, der im vorigen Jahr 136 Milliarden Dollar einnahm – eine Summe, größer als die gesamte Wirtschaftsleistung von Ungarn. „Wir experimentieren viel und wagen auch viel“, sagt Paul Jozefak, der bei der Hamburger Otto Group das haus­interne Innovationslabor leitet. „Wir fragen immer: Wo haben wir eigene Stärken, wo gibt es noch Lücken? Und wenn wir scheitern, probieren wir schnell etwas Neues.“

About You gilt in der Branche als Vorzeigebeispiel für den Erfolg der Otto-Strategie: Inspiriert von Instagram und Spotify, wendet sich der Modeversender vor allem an Fashion-Fans, die keinen Trend verpassen wollen. „Man kann sehen, was Stars gern tragen und sich davon inspirieren lassen“, lobt EHI-Analyst Langenberg. „About You greift das Instagram-Feeling auf und ist zugleich sehr datengetrieben.“

2014 gestartet, hat es die Firma bereits unter die Top 50 der deutschen E-Commerce-Anbieter geschafft und ist zu einem Herausforderer von Zalando geworden. Die Berliner wiederum versuchen, sich eilig neu zu erfinden: Groß geworden mit Gratisversand und dem Versprechen auf unbegrenzte Retouren, will der Modehändler künftig auch Kosmetik anbieten und nicht mehr alle Ware selbst verkaufen. Lieber möchte Zalando ein virtueller Marktplatz sein, auf dem sich Hersteller von ihrer besten Seite zeigen können.

Billig, billig ist tabu, damit Premiummarken sich wohlfühlen können, und die Abwicklung der Bestellung übernimmt auf Wunsch Zalando. Kunden wiederum sollen das Gefühl bekommen, in dem Händler einen Freund zu haben, der ihre Vorlieben kennt und sie fachkundig berät.

„Wir wollen ein Betriebssystem für die Fashion­welt bauen“, sagt Strategie­chef Nicolas Borg. Ein Team aus 90 KI-Forschern und Datenanalysten versucht, aus Milliarden von Informationsshäppchen, hilfreiche Einsichten zu gewinnen. So lässt sich etwa aus der Kombination von Größe, Passform und Zahl der Rücksendungen für jeden Schuh berechnen, wie weit er vom Mittelwert abweicht – und ob Menschen, die sonst Größe 37 bestellen würden, lieber Größe 38 wählen sollten.

Solche Zahlenakrobatik soll zugleich die Retourenquote senken: Etwa die Hälfte der bestellten Produkte kommt zu Zalando zurück. Das belas­tet die Umwelt ebenso wie die Finanzen. Oft wäre es ohnehin praktischer, Dinge, die nicht passen, in einer nahen Filiale zurückzugeben. „Wir arbeiten daran“, sagt Felix Krey­er, Digitalchef der Modekette Marc O’Polo.

Denn nicht nur Kunden wünschen sich die engere Verzahnung von Online und Offline – im Fachjargon „Omnichannel“ genannt. Auch Händler haben ein Interesse daran, den fliegenden Wechsel zwischen E-Commerce und herkömmlichem Einkauf leichter zu machen. Jeder, der online bestellt und das Produkt in einer Filiale abholt, lässt sich vielleicht noch zu Impulskäufen inspirieren. Und Retouren per Post, sagt Kreyer, seien „eigentlich verschenkte Kundenkontakte. Im Laden kann man fragen: ,Warum möchten Sie es gern zurückgeben?‘“

Allerdings: „Die Verbreitung entsprechender Services ist noch ernüchternd“, stellte das EHI im März in einer Studie fest. Nur 169 von 1000 untersuchten Shops boten zu diesem Zeitpunkt die Abholung in einer Filiale an, und lediglich 59 konnten Ware im Geschäft zurücknehmen.

Probleme bereiten Datenbanken, die nicht zusammenpassen, aber auch der Mangel an Echtzeitinformationen über Produkte im Laden. „Es gibt oft keine einheitlichen Prozesse“, sagt HDE-Manager Tromp. „Die sind aber zwingend nötig, um Kunden in unterschiedlichen Kanälen zu bedienen. Das ist die größte Herausforderung für die meisten Händler.“ Shoppern sind solche Schwierigkeiten in der Regel egal. Sie wollen einfach einkaufen, wie es ihr Herz begehrt, und das Beste aus beiden Welten kombinieren.

Daher suchen auch Online-Händler zunehmend die Nähe ihrer Kunden, indem sie eigene Läden eröffnen – sogenannte „Showrooms“, in denen Produkte begutachtet und betastet werden können, ohne dass sie vorrätig sein müssen: Geliefert wird wie gewohnt per Post oder Kurier. „Es gibt kaum einen großen Online-­Händler, der nicht mit Showrooming experimentiert“, sagt PwC-Analyst Schmaus. Die Präsenz in den Straßen führe beinahe automatisch zu höheren Umsätzen auch im Netz. „Wann immer ein Geschäft aufgemacht wird, steigen in der Region auch die Onlineverkäufe.“

Kein Wunder, dass Amazon in den USA seit Langem mit „Pop-up Stores“ in Einkaufszentren experimentiert und vor Kurzem sogar die Supermarktkette Whole Foods übernahm. Nun besitzt Jeff Bezos daheim fast 500 Filialen, um Bio-Milch und Gemüse frei Haus zu liefern, kann in den Läden aber auch Pakete lagern oder Rücksendungen entgegennehmen. Einen ähnlichen Deal wie in den USA könnte er sich auch in Deutschland vorstellen, erklärt der hiesige Amazon-Vorstand Ralf Kleber: „Es ist keine Frage des ,Ob‘, sondern eine Frage des ,Wann‘.“

Anderen mag da künftig nur noch die Flucht in die Nische bleiben. Als Kleber beim Jahrestreffen der Amazon-­Partner über seine Omnichannel-Visio­nen sprach, saß neben ihm André Maeder, Chef der auf Edelkaufhäuser spezialisierten KaDeWe Group. „Sie wachen nicht morgens auf und denken: ,Ich brauche schwarze Socken vom KaDeWe“, erzählte Maeder. „Zu uns kommt man, um ein Erlebnis zu haben.“ In der Aura des Luxus baden, lecker essen, eine Massage genießen – all das bieten Maeders Läden. Im Internet verkaufen sie bisher: nichts.

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