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„Gründer, rekrutiert endlich nicht mehr nur in eurem eigenen Netzwerk“

von Jessica Braun
In Schweden wird viel für Gleichberechtigung getan, auch in der Tech-Branche. Warum haben es Frauen dort aber trotzdem immer noch schwerer als Männer? Ist Tech vielleicht einfach männlich? Quatsch, sagt Alice Marshall im WIRED-Interview. Die Gender-Expertin hat andere Antworten.

Stockholm gilt als das Silicon Valley Europas. Die schwedische Hauptstadt hat schon einige milliardenschwere Unternehmen hervorgebracht: Skype, Spotify, King (der Anbieter von Spielen wie CandyCrush), den Payment-Provider Klarna und die Minecraft-Entwickler von Mojang. Sie sind die größten von rund 22.000 Tech-Unternehmen, die zusammen mehr 200.000 Menschen beschäftigen. Jeder fünfte Stockholmer arbeitet in einer solchen Firma. Programmierer ist laut einer von Google mitfinanzierten Studie der in der schwedischen Hauptstadt am weitesten verbreitete Männerberuf. Aber wie sieht es bei den Frauen aus?

Schweden gilt als Vorzeigeland in Sachen Gleichberechtigung. 2014 betrug der durchschnittliche Gehaltsunterschied zwischen den arbeitenden Männern und Frauen nur 4,6 Prozentpunkte. Im Rest Europas sind es durchschnittlich über zehn Prozent. Eltern – auch gleichgeschlechtliche – teilen sich in Schweden bis zu 16 Monate bezahlte Elternzeit. Eigentlich sollten diese Bedingungen auch einen höheren Frauenanteil in Tech-Unternehmen begünstigen.

Alice Marshall weiß jedoch, dass es längst nicht so einfach ist. Die US-Amerikanerin lebt in Stockholm und berät Firmen in Gender-Fragen. Mit ihrem Kollegen Serge Lachapelle bloggt sie zum Thema. WIRED hat sie gefragt: Woran hakt es?

WIRED: Frau Marshall, in nur wenigen Ländern ist die Arbeitswelt so gleichberechtigt wie in Schweden. Gilt das auch für die Tech-Branche?
Alice Marshall: Ja und nein. Der schwedische Staat investiert seit 20 Jahren Millionen in die Gleichstellung von Mann und Frau. Firmen wie IBM engagieren sich ebenfalls mit eigenen Initiativen. Hier wird vieles richtig gemacht. Aber der Frauenanteil im Tech-Sektor liegt trotzdem nur bei 34 Prozent. Unter den Programmierern sind sogar nur 20 Prozent Frauen. Es gibt also auch in Schweden durchaus Verbesserungsbedarf.

Wenn man wartet, bis man 200 Angestellte hat, wird es viel schwieriger, den Laden noch mal umzukrempeln

WIRED: Das gilt auch für die Gehälter. Schaut man sich die Tech-Branche an, ist die Lohndifferenz verglichen mit anderen Sparten relativ hoch. Was wird dagegen getan?
Marshall: Eine Maßnahme ist die Lohn-Evaluation. Dafür werden die Gehälter aller Mitarbeiter ausgewertet. Gibt es Ausreißer nach oben oder unten wird geprüft, ob die Differenz wirklich gerechtfertigt ist. Mindestens einer ist eigentlich immer dabei, bei dem der Lohn angepasst werden muss. Eigentlich ist jedes Unternehmen, das einen Mann und eine Frau mit der gleichen Berufsbezeichnung beschäftigt, in Schweden gesetzlich verpflichtet, alle drei Jahre eine solche Erhebung durchzuführen. Leider halten sich aber nicht alle daran.

WIRED: Immerhin entscheiden sich 41,7 Prozent der Frauen für einen MINT-Studiengang, also den Bereich Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. Damit liegen die Schwedinnen über dem Europäischen Durchschnitt. Woran liegt das?
Marshall: Der Glaube an Gleichberechtigung ist sehr stark in der Gesellschaft verankert. Eltern sehen für ihre Töchter eine Zukunft in diesem Bereich. Und es gibt spezielle Angebote wie Pepp, um Schülerinnen an diese Themen heranzuführen. Das Projekt wurde von Frauen ins Leben gerufen, die sich für eine Karriere im Tech-Bereich entschieden haben, obwohl sie als Mädchen nicht mit Themen wie Coding oder Computertechnik in Berührung gekommen sind. Als Mentorinnen vermitteln sie Schülerinnen mit ähnlichem Hintergrund einen Einblick in ihre Berufswelt, um ihnen so bei der Studienwahl zu helfen. Natürlich wollen dann nicht alle automatisch Programmierer werden. Aber die Entscheidung dafür oder dagegen ist zumindest eine bewusste.

WIRED: Sie sind Beraterin, unterstützen Firmen wie Spotify oder HP dabei, gerechtere Bedingungen am Arbeitsplatz zu schaffen. Wie gehen Sie vor?
Marshall: Ich setze mich mit dem CEO zusammen und analysiere die Zahlen. Wie viele Frauen gibt es im Management? Werden zu ähnlichen Teilen Frauen und Männer eingestellt und werden die dann ähnlich häufig befördert? Es kann ja auch sein, dass die Männer benachteiligt werden. Zu wissen, dass es so ein Ungleichgewicht gibt, ist der erste Schritt, wenn man die Bedingungen verbessern will.

WIRED: Eigentlich hätten gerade Startups doch die Möglichkeit, von Grund auf neue und bessere Strukturen zu schaffen. Warum gibt es dort oft die gleichen gläsernen Decken wie in Traditionsunternehmen?
Marshall: Gründer rekrutieren ihre Mitarbeiter gern aus ihrem eigenen Netzwerk. Die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Männer erst mal lauter Männer einstellen, ist dadurch höher. Dazu kommt, dass Startups sehr schnell wachsen müssen und die Gründer Entscheidungen über die Arbeitskultur erstmal zurückstellen. Das Problem: Wenn man damit wartet, bis man 200 Angestellte hat, wird es viel schwieriger, den Laden noch mal umzukrempeln.

WIRED: Was spricht trotz Zeit- und Geldmangel dafür, die Arbeitsbedingungen ganz oben auf die Agenda zu setzen?
Marshall: Einiges. In gemischten Teams gibt es zum Beispiel ein größeres Innovationspotenzial. Unternehmen wie Apple oder Microsoft stellen jedes Jahr unzählige Patentanträge. Eine US-Studie hat gezeigt, dass Patente, die von gemischten Teams entwickelt wurden, eine 26 bis 42 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit haben, auch wirklich genutzt zu werden. Gemischte Teams sind mehreren Studien zufolge auch besser darin, Probleme zu lösen – und ausgewogenere Teams steigern die Zufriedenheit der Mitarbeiter. Außerdem performen Firmen besser, die Frauen im oberen Management sitzen haben. Laut McKinsey&Company erhöht sich das operative Ergebnis um bis zu 56 Prozent, wenn es in der Führungsetage mindestens eine Frau gibt. Und wenn das alles noch nicht überzeugt: Gleichberechtigung im Unternehmen lässt sich auch sehr gut nach außen kommunizieren.

Wenn im Profil 20 Punkte aufgezählt werden, in denen Bewerber auf jeden Fall herausragend sein sollen, schreckt das Frauen eher ab

WIRED: Was raten Sie einem Unternehmen, das die Zahl seiner weiblichen Bewerber erhöhen will?
Marshall: Von Anfang an möglichst viele verschiedene Kanäle zu nutzen, um nicht nur im eigenen Teich zu fischen. Wie die Ausschreibung formuliert ist, spielt auch eine wichtige Rolle. Wenn im Anforderungsprofil 20 Punkte aufgezählt werden, in denen Bewerber auf jeden Fall herausragend sein sollen, schreckt das Frauen eher ab. Je realistischer die Beschreibung des Jobs ist, desto größer die Chance, dass sie Frauen wie Männer anspricht. Bestenfalls sichtet ein Team aus sehr unterschiedlichen Mitarbeitern die eingehenden Bewerbungen und trifft die Kandidaten. Die Bewerbungsgespräche sollten dagegen möglichst einheitlich sein: identische Fragen für alle Bewerber.

WIRED: Wenn ein Unternehmen gute Mitarbeiterinnen gefunden hat: Wie hält man sie? Frauen, die aus der Tech-Branche ausgestiegen sind, nennen oft Sexismus als Grund. Wie wird mit diesem Problem in Schweden umgegangen?
Marshall: Jedes Unternehmen mit mindestens 25 Mitarbeitern muss eigentlich einen Aktionsplan haben, der festlegt, was zu tun ist, wenn jemand belästigt wird. Mit Namen von extra für solche Fälle ausgebildeten Vertrauenspersonen, bestenfalls zwei Männer und zwei Frauen, an die sich Betroffene wenden können. Und mit Beispielen, die ersichtlich machen, was als Belästigung oder Diskriminierung gilt.

WIRED: Haben alle Unternehmen so einen Plan?
Marshall: Leider nein. Ich schätze, dass 50 Prozent diese Vorgabe umsetzen. Die, die sich nicht darum kümmern, schaden sich selbst. Wenn Angestellte die Firma verlassen, ist das Geld futsch, das für ihre Suche und Einarbeitung investiert wurde.

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WIRED: Was bringen Veranstaltungen wie die Stockholmer Konferenz Women in Tech? Lösen sie Probleme oder treffen da nicht ohnehin nur Gleichgesinnte aufeinander?
Marshall: Sie schaffen ein Bewusstsein dafür, wie viele Frauen der Branche arbeiten. Im vergangenen Jahr gab es 8000 Bewerbungen um die 1000 Teilnehmerplätze. Das ist schon beachtlich. Und sie können motivieren. Ich erinnere mich an den Vortrag einer Programmiererin, die bei King arbeitet, dem Candy-Crush-Anbieter. Was sie erzählte, war so mitreißend, dass ich sofort coden lernen wollte.

WIRED: Wann wird der erste weibliche Mark Zuckerberg oder Steve Jobs auf so einer Konferenz sprechen?
Marshall: Erst, wenn sich die Einstellung der Venture-Kapitalgeber ändert. Von Frauen, die ein Tech-Unternehmen gründen, erhalten nur 7 Prozent Funding. Das ist nicht mal die Hälfte. Die anderen 93 Prozent des Geldes gingen an Männer. Die schwedische Regierung plant, Fonds in Kooperation mit Venture-Kapitalgebern aufzulegen. Spätestens, wenn öffentliche Gelder ins Spiel kommen, muss Chancengleichheit herrschen. Dann sehen wir vielleicht auch einen weiblichen Zuckerberg.

WIRED: Aus Ihrer Sicht als in Schweden lebende Amerikanerin: Wird diese Frau eher aus Stockholm kommen oder aus dem Silicon Valley?
Marshall: In den USA gibt es mittlerweile einige Business Angels, die gezielt weibliche Gründer unterstützen. Aber in Schweden ist Gleichberechtigung stärker in der Gesellschaft verankert. Ich tippe deshalb auf Stockholm. 

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