Hinweis zu Affiliate-Links: Alle Produkte werden von der Redaktion unabhängig ausgewählt. Im Falle eines Kaufs des Produkts nach Klick auf den Link erhalten wir ggf. eine Provision.

Googles Android-Chef spricht über Sicherheitsbedenken und die Ermittlungen der EU

von GQ
Googles Betriebssystem Android steht ein harter Kampf bevor – nicht nur gegen das iPhone: Die EU hat Ermittlungen gegen Google eingeleitet. Das ärgert vor allem Android-Chef Hiroshi Lockheimer.

75 Prozent aller Smartphones und Tablets liefen 2015 mit Android, das sind mehr als 1,3 Milliarden Geräte. Uhren, Fernseher und Autos, die inzwischen ebenfalls das Google-Betriebssystem nutzen, nicht mit eingerechnet. Androids Wachstum ist anscheinend nicht aufzuhalten: Laut dem US-Marktforschungsunternehmen Gartner liefen schon 2012 fast 45 Prozent aller weltweit verkauften smarten Geräte mit dem System. Doch die Überlegenheit der 2008 eingeführten Google-Software ruft jetzt die Wettbewerbshüter auf den Plan.

Im April bestätigte die Europäische Kommission, Ermittlungen gegen Google eingeleitet zu haben. Der Grund: mutmaßliches wettbewerbsfeindliches Verhalten. Sollte sich der Vorwurf bestätigen, muss Google mit einer Strafe in Millionenhöhe rechnen. Schlimmer noch: Das Unternehmen könnte gezwungen werden, massive Änderungen an Android vorzunehmen.

Die Kommission wirft Google vor allem vor, mit seiner totalen Kontrolle über ein Betriebssystem, das eigentlich Open Source ist, den Wettbewerb zu unterdrücken und sein Monopol bei der Online-Suche weiter auszubauen. Ein Vorwurf, den Hiroshi Lockheimer, Android-Chef bei Google, nicht nachvollziehen kann.

„Das hier ist keine Google-kontrolliert-alles-Geschichte“, sagt Lockheimer, der auch die Abteilungen Chrome OS und Google Play leitet. „Niemand hat mir je gesagt: ,Bitte entwickle ein Betriebssystem, das Google stärkt‘ oder ,Bitte entwickle ein Betriebssystem, das die Online-Suche begünstigt‘. Das war nie meine Mission.“

Um mit der Android-Bahn mitfahren zu dürfen, müssen sie unserem Schienenmaß zustimmen

Hiroshi Lockheimer, Android-Chef bei Google

Lockheimer, ein herzlicher 41-Jähriger aus San Francisco, arbeitet seit mehr als zehn Jahren bei Google. Die Einstellung der Europäischen Kommission scheint ihn ernsthaft zu verwirren: „Wir entwickeln Android, es ist öffentlich erhältlich, es ist Open Source, es ist kostenlos, keiner bezahlt uns dafür“, sagt er.

Googles Kontrolle über Android vergleicht er mit der Standardisierung von Bahnschienen: „Alle Züge sollten mit ein und dem selben Schienenmaß kompatibel sein. Aber wenn ein Dienst kostenfrei ist, muss es eine Art Tauschhandel geben. Für uns heißt das zum Beispiel, dass Nutzer uns im Gegenzug für ein kostenloses Betriebssystem ihre Daten zur Verfügung stellen, die wir für Googles Werbegeschäft nutzen. Bei Samsung und HTC, zwei der erfolgreichsten Android-Hersteller, besteht der Tauschhandel darin, dass sie einige Google-Apps auf neuen Geräten vorinstallieren. Um mit der Android-Bahn mitfahren zu dürfen, müssen sie sozusagen unserem Schienenmaß zustimmen.“

„Handy-Nutzer haben eine Grundvorstellung davon, was Smartphones können sollen“, sagt Lockheimer. „Dazu gehört, dass man Apps herunterladen kann, aber auch die Möglichkeit, auf eine Wegbeschreibungs zuzugreifen oder Katzenvideos zu schauen.“ Apple begegnet diesen Grundanforderungen mit der Strategie, iOS ausschließlich auf Apple-Geräten wie iPhones und iPads anzubieten. Google dagegen macht Android für Gerätehersteller und Nutzer verfügbar, dafür aber mit Einschränkungen.

Den Weg nachschauen? Machen die meisten wohl mit Google Maps. Katzenvideo suchen? Läuft meistens über die Google-Tochter YouTube. Laut Margrethe Vestager, bei der Europäischen Kommission für die Wettbewerbsrichtlinien verantwortlich, „verweigert dieses Vorgehen Nutzern eine breitere Auswahl an mobilen Apps und Diensten und steht durch den Verstoß gegen EU-Kartellrechte den Innovationen anderer Player im Wege.“

Ein Vorwurf, den Lockheimer nicht anerkennt. „Es gibt viele Android- und Smartphone-Dienste von Google, die von anderen Unternehmen in ähnlicher Form zum Teil viel erfolgreicher angeboten werden“, sagt Lockheimer. Als Beispiel nennt er Google+, das gescheiterte Social Network, das es nie mit Facebook aufnehmen konnte. „Wir sind überzeugt, dass es eine Wahlfreiheit gibt“, führt er fort. Warum es die Kommission dann anders sieht? „Ich bin mir nicht sicher“, sagt er achselzuckend. „Ich habe es so nie wirklich betrachtet.“

Die aktuelle Untersuchung ist nicht die erste ihrer Art. Im Januar 2009 ermittelte die Europäische Kommission gegen Microsoft, nachdem es Beschwerden gegeben hatte, das Unternehmen nutze die Überlegenheit des Windows-Betriebssystems aus, um Nutzer den Internet Explorer schmackhaft zu machen. Das Ergebnis? Europa zwang Microsoft, ein Popup einzuführen, das Windows-Nutzer nach ihrem bevorzugten Browser fragt. Im Januar 2010, kurz nach der Klage, lag der Anteil des Internet Explorer am Browser-Markt bei 55 Prozent. Heute sind es nur noch 21 Prozent.

Am meisten profitierte von dieser Entscheidung: Google. Dessen Browser Chrome ist von einem Martkanteil von sechs Prozent im Frühjahr 2010 zum aktuellen Stand von über 54 Prozent gestiegen. Während Google parallel noch in einem anderen Kartellrechtsstreit mit der EU steckt, bei dem es um die Bewerbung seiner Online-Shopping-Dienste geht, hat die Microsoft-Geschichte gezeigt, was auf dem Spiel steht.

So viele Geräte upzudaten, ist nichts, was man an Tag eins machen kann

Hiroshi Lockheimer, Android-Chef bei Google

Dabei sind die europäischen Ermittlungen nicht das einzige Problem von Android. Beim Wort „Fragmentierung“ zuckt Lockheimer zusammen: Derzeit laufen auf Smartphones und Tablets zwölf verschiedene Versionen von Android, wobei nur zehn Prozent der Geräte die aktuellste Version Android 6.0 Marshmallow nutzen. Geräte mit veralteten Android-Versionen können wegen ungepatchter Bugs leicht gehackt werden und die Besitzer können ihre Apps irgendwann nicht mehr updaten.

„Wir fänden es toll, wenn am Erscheinungstag eines neuen Betriebssystems alle Geräte automatisch aktualisiert würden“, sagt Lockheimer. „Aber das ist nicht wirklich realistisch. Wir sprechen hier über eine riesige Größenordnung und so viele Geräte upzudaten, ist nichts, was man an Tag eins machen kann.”

Mit Apple als Konkurrent, der viel größere Kontrolle über sein Betriebssystem iOS hat, bereitet die Fragmentierung von Android Lockheimer und seinen Kollegen dauerhafte Kopfschmerzen. „Eine ständige Überprüfung ist sehr, sehr wichtig, vielleicht sogar wichtiger als die neusten Programmierschnittstellen“, erklärt er. „Aber die heterogene Natur von Android hat aus Sicherheitsperspektive auch Vorteile. Wenn jedes Android-Gerät gleich wäre, würde ein Angriff alle 1,4 Milliarden Geräte betreffen. Aber die Tatsache, dass sie unterschiedlich funktionieren, ist hilfreich.”

Google arbeitet neuerdings enger mit Herstellern und Netzwerken zusammen, um so schnell wie möglich Sicherheitsupdates anzubieten. Sicherheits-Patches werden monatlich produziert und alle Android-Versionen werden mindestens drei Jahre lang unterstützt.

+++ Mehr von WIRED regelmäßig ins Postfach? Hier für den Newsletter anmelden +++

„Wir stecken da gerade viel Arbeit rein“, sagt Lockheimer. Als einer von Androids Dienstältesten weiß er auch, was als nächstes kommt. „Wir haben viel in Künstliche Intelligenz und Machine Learning investiert. Besonders die Spracherkennung hat davon profitiert.“ Diese Investitionen könnten Android schon bald sehr stark verändern.

Google Home, die Antwort auf Amazons intelligenten Lautsprecher Echo, kommt im Laufe des Jahres auf den Markt. Laut Lockheimer hat die Industrie beim Versuch, Spracherkennung im Alltag anwendbar zu machen, vor Kurzem „einen Abgrund überwunden“. Auch das Smartphone-Interface könnte sich dadurch verändern. „Fortschritte in den Bereichen Machine Learning, Künstliche Intelligenz und Spracherkennung könnten neue Formfaktoren hervorbringen, die bisher nicht so praktikabel waren.“

Aber erst einmal muss sich Google dem Konflikt mit der EU stellen. Beide Gerichtsverfahren werden sich wohl noch mehrere Jahre hinziehen und Google zu massiven Veränderungen zwingen, das Unternehmen Milliarden kosten – oder beides. Doch wenn Google Android für so offen hält, warum ist Europa dann anderer Meinung? „Ich weiß nicht, ob sie der Meinung sind, dass Android nicht offen ist“, sagt Lockheimer. Ist das denn nicht der Grund für die Ermittlungen? „Ist das so?” Ist es. „Ich weiß es nicht“, sagt Lockheimer.

Das ist wohl eine Frage, die man nicht googeln kann.

Dieser Artikel erschien zuerst bei WIRED UK.

GQ Empfiehlt
Wen sollten autonome Autos opfern?

Wen sollten autonome Autos opfern?

von Chris Köver