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Der Second-Life-Gründer will mit Virtual Reality das Internet neu erfinden

von Rowland Manthorpe
Philip Rosedale hat Second Life erfunden, doch das war nur der Anfang. Nun ist der Gründer der 3D-Online-Welt zurück und will in die Virtual Reality eintauchen. In seinem neuen Projekt High Fidelity kann jeder eine unendlich große Welt erschaffen und sie mit anderen teilen. Das ist die Zukunft der VR, sagt Rosedale – und die des Internets.

Eines Tages, irgendwann um Thanksgiving 2011 herum, hatte Philip Rosedale eine Vision von einer virtuellen Welt. Er saß in San Francisco im Büro von Coffee and Power, dem Startup für Stellenanzeigen, das er 2010 gegründet hatte, und spielte mit einer Computerplatine herum, die mit einem Gyroskop verbunden war. Sensoren wie dieser sind ein integraler Bestandteil von Virtual-Reality-Headsets. Indem sie die Kopfbewegung erfassen, geben sie dem Nutzer das Gefühl, sich in der Umgebung zu befinden, die der Computer generiert hat.

Rosedale hatte schon sein ganzes Leben lang von der Virtual Reality (VR) geträumt. Er wusste, dass ein gutes Gyroskop eine möglichst geringe Verzögerung zwischen Bewegung und Reaktion haben sollte, damit sich die Erfahrung natürlich anfühlt.

Rosedale hielt den winzigen Schaltkreis in der Hand und wiegte ihn hin und her, während er die Reaktion auf seinem MacBook verfolgte. Es war beinahe keine Verzögerung vorhanden. Als VR zum letzten Mal Aufmerksamkeit erregt hatte, Ende der 80er Jahre, hatten Headsets zwar schon Tracker eingebaut, doch die waren unzuverlässig und teuer. Der moderne, nur 15 Dollar teure Sensor, den er nun in der Hand hielt, erfasste seine Bewegungen hingegen schneller und genauer als das bloße Auge.

Rosedales Traum von einer ganz speziellen VR war schlagartig wieder da: eine virtuelle Welt, bestehend aus Millionen miteinander vernetzter Orte – wie eine 3D-Version des Internets. Eine Welt, die er bauen würde.

Für Rosedale war das keine bloße Überlegung. 2003 launchte sein Unternehmen Linden Lab Second Life, eine Online-Welt, die von ihren Bewohnern so verändert werden konnte, wie sie es wollten. Er glaubte, er baue das nächste Internet – und als sich in Second Life eine Million Avatare drängten, die alles von Jazz-Lounges bis zu ganzen Städten errichteten, sah es so aus, als habe er recht. Ford, Sony und Dell kauften Immobilien in der virtuellen Welt. Die Nachrichtenagentur Reuters ernannte einen Second-Life-Korrespondenten. Auf dem Höhepunkt lag das Bruttoinlandsprodukt der Site über dem vieler kleiner Staaten. Die Bewohner bezahlten in Linden Dollars, der vielleicht ersten virtuellen Währung überhaupt.

Doch im Jahr 2006 hörte Second Life auf zu wachsen. Egal, wie viele neue Nutzer sich registrierten, die Userzahlen verharrten bei etwa einer Million. 2008 trat Rosedale als CEO von Linden Lab zurück. Im Jahr darauf verließ er die Firma endgültig.

Wir stehen kurz davor, die reale Welt hinter uns zu lassen

Philip Rosedale, Erfinder von Second Life und High Fidelity

Nun, im Jahr 2011, als er den Output des Gyroskops betrachtete, bekamen die Hoffnungen, die er in Second Life gesetzt hatte, neue Nahrung. Er rief die sieben Mitarbeiter von Coffee and Power zu sich. Das Startup hatte Rodesdale als „Dehnungsübung“ gegründet, um die Enttäuschung mit Linden Lab hinter sich zu lassen. Das Team sah sich die Output-Kurve auf dem Bildschirm an. Rosedale sagte: „Wir müssen die Firma dichtmachen und zurück in die VR gehen.“

Neun Monate später, am 1. August 2012, postete ein 19-Jähriger namens Palmer Luckey ein VR-Headset auf Kickstarter, das das gleiche Gyroskop verwendete, das Rosedale getestet hatte. Oculus VR sammelte 2,4 Millionen Dollar ein, im März 2014 kaufte Facebook das Unternehmen für zwei Milliarden Dollar. Die Virtual-Reality-Revolution konnte losgehen.

Viele Fragen rund um VR sind allerdings bis heute unbeantwortet. Was ist der beste Anwendungsfall? Wie erschafft man beeindruckende Inhalte? Kurz gesagt: Wofür ist VR gut? „Es ist unmöglich, die Demo eines modernen Highend-VR-Systems zu erleben und danach nicht zu glauben, dass das ein Teil der Zukunft ist“, sagt Bendedict Evans, Partner beim Venture-Capital-Geber Andreessen Horowitz (der 2013 75 Millionen Dollar in Oculus VR investiert hat). „Die Frage ist nur, wie sehr: Wird es eine sehr spezielle Zielgruppe betreffen, wie zum Beispiel die Nutzer von Spielekonsolen, oder ein viel breiteres Publikum?“

Rosedale glaubt, VR sollte sich so breit wie möglich aufstellen. Seine neue Online-Welt High Fidelity, die seit April in einer Open Beta-Test getestet werden kann, ist wie Second Life, nur viel realistischer und größer: „So groß wie die Erde und darüber hinaus“, prophezeit Rosedale. „Wir stehen kurz davor, die reale Welt hinter uns zu lassen.“

Doch High Fidelity hat Rivalen in der VR. Allen voran Linden Lab, die Firma, die Rosedale selbst 1999 gründete (und von der er immer noch viele Anteile besitzt) und sie bis heute Second Life betreibt. Unter dem neuen CEO Ebbe Altberg baut Linden Lab eine VR-Welt namens Sansar. Wo High Fidelity radikal offen ist, auch was den Code angeht, ist Sansar ein Closed-Source-System.

Offen gegen geschlossen. Kreativität gegen Kontrolle. So sieht die Debatte über die Zukunft der VR, die mit Second Life begann, heute aus.

Der Vorführraum in Rosedales Büro im trendigen South-Market-Bezirk von San Francisco ist groß und offen. Er ist für das VR-Headset HTC Vive eingerichtet, Bewegungssensoren stehen in jeder Ecke, pistolenförmige Controller liegen auf dem Tisch. Rosedale startet High Fidelity, in einem Raum für Spiele zeigt uns Produktchef Chris Collins seine Basketballfähigkeiten. „Schaut mal, ich passe den Ball hinter dem Rücken“, freut er sich.

Wenn Collins spricht, kommt seine Stimme von dort, wo er in der VR steht, und wird von Oberflächen zurückgeworfen, wie sie es in der echten Welt tun würde. Sein Avatar – ein gut aussehender junger Mann namens Matthew – bewegt die Lippen passend zu den Worten. Er winkt mir zu. Unsere Blicke treffen sich. Kontakt.

Dieses Gefühl, wirklich „da“ zu sein, nennt man in der virtuellen Realität presence. Sie setzt sich aus tausenden winziger Details zusammen – wie ein Basketball springt, wie Blätter im Wind rascheln, wie Haut im Licht glänzt – und jedes von ihnen wird mit einem anderen technischen Trick erzeugt. Haut wird zum Beispiel mit einem sogenannten subsurface scattering effect simuliert. Und die Bewegung von Gesichtern berechnet ein Algorithmus, der mit tausenden Videos von Schauspielern trainiert wurde, die in die Kamera sprechen.

Eines Tages werden VR-Headsets voller Sensoren sein, die Gesichtsausdrücke direkt erfassen. Bis dahin müssen uns die Berechnungen des Algorithmus reichen. Doch die Sache mit presence ist, dass man sie erkennt, wenn man sie sieht. High Fidelity hat presence. Es wirkt nicht wirklich lebensecht – aber es it nicht weit davon entfernt.

Als Second Life aufhörte zu wachsen, konnte Rosedale in den Statistiken sehen, was die Nutzer, die noch blieben, gemeinsam hatten: „Eine Riesenmenge Zeit.“ Second Life war ein Rückzugsort für Eskapisten, ein Ventil für aufgestaute Kreativität, ein Platz „für schlaue Menschen auf dem Land, Menschen mit Behinderung, Menschen auf der Suche nach Gemeinschaft“, wie Rosedale es einmal ausdrückte. Doch für weniger motivierte Besucher mit begrenzter Zeit war es schwierig, verwirrend und befremdlich.

Rosedale betritt High Fidelity in der gleichen Matthew-Hülle wie Collins. Mein Avatar sieht hingegen aus wie eine geisterartiges Alien. Wir gehen nach draußen in einen Garten, um Tetherball zu spielen. Die Bewegungen des Spiels gehen schnell von der Hand, vielleicht ein wenig schwerfällig. „Eines der coolen Dinge an unserem System ist die Physik, die es uns erlaubt, natürlich zu interagieren“, sagt Rosedale.

Dass VR einfach zu benutzen ist, sei wahrscheinlich das wichtigste, erklärt er: „Ein Großteil unserer Arbeit zielt darauf, es möglich zu machen, dass Leute alles bauen können.“ Für Second Life hatte Rosedale das gleiche Ziel – doch dort brauchten die User schon mal 40 oder 50 Stunden, um sich mit der komplizierten Tastatur- und Maussteuerung vertraut zu machen. Dabei sollte man in der virtuellen Welt mehr oder weniger das gleiche tun können wie in der echten.

Für Rosedale ein fundamentaler Unterschied: „Das ist der einzige Grund, warum Second Life heute eine Million User hat und nicht eine Milliarde.

Trotzdem ist die Erfahrung noch lange nicht perfekt. In High Fidelity hat man zwar Hände, es ist jedoch noch weit davon entfernt, die Bewegung oder das Gefühl einzelner Finger zu simulieren. Um ein Objekt aufzuheben, erfasst man es mit einem Laserstrahl und zieht es an sich heran, wo es dann schwerelos über der Handfläche schwebt, als wäre es aus Gas.

Wenn ein Computer eine ganze Welt enthalten kann, dann kann er auch eine erschaffen

Für Rosedale ist das ein Problem. Wie sollen Menschen Objekte bauen, wenn es keine wirkliche Fingerfertigkeit gibt? High Fidelity hat 26 Mitarbeiter in Vollzeit und eine Finanzierung von 15 Millionen Dollar, aber das Unternehmen kann nicht alles leisten und ist gezwungen, ganz entscheidende Details anderen zu überlassen.

Trotzdem glaubt Rosedale, dass man eine Lösung finden wird. „Jemand wird schon herausfinden, wie man hier drin schnell etwas bauen kann. Wenn es soweit ist, ist nur noch der Himmel die Grenze“. Sein Glaube an virtuelle Welten ist absolut. Er sah sie, in einer Vision, und seitdem glaubt er an sie.

Schon als Kind träumte Rosedale von virtuellen Welten. Er wurde 1968 in San Diego, Kalifornien, als Sohn einer Englischlehrerin und eines Navy-Piloten geboren und zog sechs Mal um, bevor er 13 war. Als sich seine Eltern 1981 trennten, ging er zurück nach San Diego. Als schüchterner, technologiebesessener Teenager baute er maßgeschneiderte Prä-Internet-Netzwerke und verkaufte sie an Autohäuser. Er stellte sich vor, er schwebe im virtuellen Raum, einen Werkzeugkasten am Gürtel, und erschaffe neue Strukturen mit nichts weiter als einer Handbewegung.

Als er 16 war, nahm seine Vision konkretere Formen an. Rosedale saß mit einem Freund vor dem Windows-Computer seiner Tante und öffnete das Bild einer Mandelbrot-Menge, einer verschachtelten Struktur, die durch bestimmte mathematische Regeln entsteht. Er zoomte so nah an die Schnörkel heran, dass die Auflösung zu gering wurde, um etwas zu erkennen. Der Bildschirm, von dem aus er gestartet war, hätte nun die Größe der Erdoberfläche, berechnete er. Ihm kam ein Gedanke: Wenn ein Computer eine ganze Welt enthalten kann, dann kann er auch eine erschaffen. „Das war es, was mich antrieb“, sagt Rosedale heute. „Diese Besessenheit. Ich musste diesen Ort sehen.“

1994 wurde Rosedale klar, wie er seine Welt erschaffen würde. Nach seinem Physik- und Informatikstudium an der University of California in San Diego zog er nach San Francisco und entdeckte das Internet. Dessen Potenzial erkannte er sofort, nicht bloß zur Kommunikation, sondern auch für einen gewaltigen zusammenhängenden Raum, der mit der Rechenpower von Millionen vernetzten Computern erschaffen wird. Doch dieser Ort müsste dreidimensional sein, was Computer damals noch nicht konnten. Also gründete Rosedale ein Startup für Videokompression, das er 1996 an das Streaming-Unternehmen RealNetworks verkaufte (damals noch Progressive Networks). „Er bekam Geld und Aktien – und die stellten sich als ziemlich wertvoll heraus“, erinnert sich Rob Glaser, CEO von RealNetworks.

Mit 28 war Rosedale Millionär, 1998 wurde er Chief Technology Officer (CTO) bei RealNetworks. Doch die Verlockungen der Virtual Reality waren immer präsent. „Philip sprach über die Idee, als ich ihn zum ersten Mal traf“, sagt Glaser. 1999 ging Rosedale mit Freunden ins Kino und sah sich The Matrix an. Anschließend, während seine Begleiter ihrer Begeisterung über den Film freien Lauf ließen, saß er deprimiert in der Ecke. „Das war mein Traum“, sagte Rosedale. „Das wollte ich bauen.“ Ein paar Monate später nahm er eine Million Dollar in die Hand und gründete Second Life.

Rosedales Besessenheit strömt förmlich aus jeder Pore von High Fidelity – vor allem sein Ehrgeiz ist nicht zu übersehen. Während Second Life auf Servern von Linden Lab lief, funktioniert High Fidelity Peer-to-Peer (P2P). Jeder, der die Sandbox-Software herunterlädt, kann auf seinem Computer eine eigene VR-Domain hosten. Unternehmen will Gebühren auf Domain-Registrierungen erheben und damit so etwas wie „ein GoDaddy für VR“ werden, wie es Rosedale ausdrückt.

High Fidelity ist das Internet. High Fidelity ist keine Firma oder ein Ding. High Fidelity ist das Netz.

Philip Rosedale, Erfinder von Second Life und High Fidelity

Vor allem aber gibt das P2P-Prinzip High Fidelity Zugriff auf enorm viel Rechenleistung – genug, damit alle Internetnutzer der Erde sich gleichzeitig in der virtuellen Welt aufhalten können, behauptet Rosedale. High Fidelity ist nicht nur die nächste coole VR-Anwendung, es ist ein vernetztes Serversystem, das auf riesige digitale Welten ausgelegt ist. Oder wie Rosedale es ausdrückt: „High Fidelity ist das Internet. High Fidelity ist keine Firma oder ein Ding. High Fidelity ist das Netz.“

Seine Struktur soll dabei zwei Kernprobleme von Second Life lösen: Umfang und Latenz. Weil Second Life auf den Servern von Linden Lab lief, gab es oft Verzögerungen zwischen Aktion und Reaktion. Außerdem konnten nicht mehr als 40 Avatare zur gleichen Zeit am gleichen Ort sein. Doch Second Life stammt aus der Zeit vor dem Cloud Computing. Warum nutzt High Fidelity also nicht die Google Cloud oder Amazon Web Services? Weil selbst die gigantischen Serverfarmen dieser Unternehmen zu klein sind für das, was Rosedale vorhat. „Innerhalb der nächsten zehn Jahre wird das Internet zur VR werden“, sagt er.

Die Investoren mögen seinen Anspruch. „Hin und wieder gibt es eine dieser längerfristigen, riskanten, aber auch visionären Ideen, die ein Milliarden-Dollar-Potenzial haben – und High Fidelity ist ganz eindeutig eine davon“, sagt Steve Hall von Vulcan Capital, einem der wichtigsten Geldgeber von Rosedales Unternehmen.

So sehen es auch die hunderten Beta-Tester. Bei einem virtuellen öffentlichen Treffen im Juni sprachen sie über ihre Hoffnungen für die Plattform. „Mein Problem mit Second Life war, dass es ein Vermögen kostete, etwas großes zu bauen“, sagte ein Mann, dessen Avatar große dunkle Hasenohren aus dem Kopf wuchsen. Michelle, eine frühere Second-Life-Spielerin mit brünettem Avatar, fasste die Stimmung zusammen: „Wir haben gesehen, was wir tun konnten, und wir wollen mehr.“

Zwischen all dem gewollten Chaos zeigen sich Anzeichen echter Unordnung

Doch die Offenheit hat ihren Preis. Das Treffen in High Fidelity fand an der sogenannten Playa statt, einer Hommage an das Burning-Man-Festival, die mit alten Schiffscontainern und Neonschildern übersät ist. Sie ist kunstvoll gestaltet, aber zwischen all dem gewollten Chaos zeigten sich an diesem Tag Anzeichen echter Unordnung. Ein User ließ ein Script laufen, das Geister beschwor, die über dem Sand schwebten. Ein anderer hatte eine Herde Kühe auf den Strand gesetzt. Wie schon Second Life vor ihm gibt sich High Fidelity bewusst merkwürdig.

Das physische Zuhause von Second Life ist ein großes holzgetäfeltes Büro nahe dem alten Hafen von San Francisco. Ich treffe Ebbe Altberg, den CEO von Linden Lab, vor dem VR-Vorführraum. Drinnen sind die Wände gepflastert mit Zeitungsberichten aus den glorreichen Tagen von Second Life: Philip Rosedale in der Washington Post, Philip Rosedale in Newsweek, Philip Rosedale auf dem Cover von Inc. Altberg ist müde, er kommt gerade von einer Geschäftsreise nach New York, doch er wird schnell munter. Vorhin hat er schon versprochen: „Ich will nicht unhöflich klingen oder so, aber ihr habt das Beste noch gar nicht gesehen.“

Als Altberg Anfang 2014 zu Linden Lab kam, war das Projekt Sansar nicht mehr als „drei oder vier Leute die mit Low-Level-Kram herumalberten, weil sie von Second Life frustriert waren“, wie er sagt. Das Spiel hat immer noch eine ansehnliche Community und ein Bruttoinlandsprodukt von „einer halben Milliarde“. Mit den Einnahmen aus dieser „Gelddruckmaschine“ investierte Altberg im großen Stil und stockte das Sansar-Team auf 75 Mitarbeiter auf, mehr als ein Drittel der Belegschaft von Linden Lab. Und als er hörte, dass Facebook Oculus kauft, verschrieb er sich ganz der Virtual Reality. „Wir dachten sofort: Sansar in VR wäre der Hammer!“, sagt Altberg. „Uns war klar, dass die Leute Content in rauhen Mengen produzieren wollen würden – was bislang noch viel zu schwer war.“

Ich ziehe eine Oculus Rift auf und Sansar startet mit einer Landschaft, die aus dem Film The Martian stammen könnte. Bjorn Laurin, Produktchef von Linden Lab, wartet auf mich, sein Avatar ist ein knuffiger grüner Dinosaurier mit dem Gesicht einer Frau. „Wie du siehst, bewegen sich die Lippen synchron zu unseren Stimmen“, sagt er hörbar stolz. Ich schaue nach unten, statt Händen schweben dort die Oculus-Controller in der Luft. „An Händen arbeiten wir noch“, sagt Altberg. Realismus, so scheint es, ist hier weniger wichtig als in High Fidelity.

Wir bewegen uns durch eine Reihe kleiner Szenen, die Linden Lab kreiert hat: eine ägyptische Grabkammer, ein 3D-Surf-Video, eine Wohnung voller Ikea-Attrappen. Alle sehen schön aus, sind perfekt produziert – und ziemlich leer. Während die Second-Life-Spieler schon wirld spekulieren, hält Linden Lab Sansar bis zum Release 2017 strikt unter der Decke.

Altberg ist ein kräftiger, offenherziger Schwede, der in seiner Jugend Ski-Slalom-Champion war und seine Karriere in den 90ern bei Microsoft begann. Dort arbeitete er an Word: Word 2.0, Word 6.0, Word 95, Word 97. „Als ich Microsoft verließ, beherrschten wird die Erde“, sagt er. Im Jahr 200 ging Altberg zu einem Startup, das einen Marktplatz für Telefondienste anbot, bevor 2008 bei Yahoo in der Abteilung für Media Engineering landete. Er mache Produkte, die die Kunden mögen, sagt er, im Gegensatz zu Rosedales „geekigem“ Stil: „Philips Herangehensweise ist eine technische, keine kundenorientierte. Das war auch schon bei Second Life so.“

Wie in High Fidelity sollen die Nutzer auch in Sansar eigene VR-Inhalte erschaffen. Dabei werden die einzelnen Szenen allerdings repliziert und nicht miteinander verbunden sein. Ein Schulklasse, die das ägyptische Grab besucht, soll nicht auf die andere treffen – beide werden sich in getrennten, aber identischen Räumen aufhalten. Diese sollen nach Altbergs Vorstellung vor allem von großen Unternehmen betrieben werden, wenn sie online gehen. „Es wird Facebooks und Amazons geben und all diese Dinge“, sagt er.

Für Rosedale ist Sansar wegen dieser Segmentierung keine wirkliche virtuelle Welt. „Linden bietet immer noch kuratierte, gehostete Erfahrungen an“, sagt er. „Deswegen wird Sansar immer noch eine Art Spielwelt sein.“ Und diese werde sich künstlich anfühlen, nicht in der Interaktion, sondern hinsichtlich des Ausmaßes ihrer Unberechenbarkeit.

Anders als in High Fidelity wird das Editieren bei Sansar nicht in der virtuellen Welt selbst stattfinden, Spieler müssen dafür in einen separaten Modus wechseln. Auf diese Weise könne man den Speicherbedarf senken, sagt Altberg, wodurch sich Sansar ohne komplizierte Serverstruktur leicht skalieren lasse. Ohnehin würden nur professionelle User Inhalte editieren wollen, glaubt er. „Die meisten Menschen sind nur Konsumenten von Erfahrungen und keine Schöpfer. Da ist VR nicht anders als jedes andere Medium, wenn man qualitativ hochwertige Inhalte schaffen will.“

Die meisten Menschen sind nur Konsumenten von Erfahrungen und keine Schöpfer

Ebbe Altberg, CEO von Linden Lab

Der größte Unterschied zwischen den Rivalen liegt im Grad der Offenheit. High Fidelity ist radikal offen, von der Code-Basis bis zur Serverstruktur. Sansar ist es nicht, und Altberg ist es egal, was die Leute sagen. „Es gibt immer die Freedom People, die Anarchisten, die sagen: Ich will 100 Prozent Kontrolle und alles soll offen sein“, sagt er. „Und es gibt immer die große Mehrheit der Nutzer, denen das offensichtlich scheißegal ist – ich meine, wie viele Millionen von denen sind täglich auf Facebook?“

Second Life hat jahrelang etwas betrieben, was ich organisatorische Anarchie nennen würde“, fügt Altberg hinzu. „Philip sagt immer nur: Open Source, alle einbeziehen. Die Idee war, dass jeder von überall an dieser Sache mitarbeiten kann. Aber ich habe gesehen, dass man auch mit einem kleinen Team Milliarden erreichen kann – wenn man es richtig macht.“

Rosedale und Altberg treffen sich regelmäßig und diskutieren über ihre Projekte. „Wir sind frenemies“, sagt Altberg. „Wir haben eine Art freundschaftlichen Wettbewerb vereinbart“, sagt Rosedale – der nach eigenen Angaben immer noch „eine Menge Aktien“ von Linden Lab besitzt, was ihn neben Google Ventures, Kapor Capital und True Ventures zu einem „kleinen Investor“ in der 2,4-Millionen-Dollar-Seed-Runde des Unternehmens macht.

Die beiden Firmen können koexistieren. „Ich glaube nicht, dass es nur eine einzige VR-Plattform geben wird, aber sicherlich einen Marktführer“, sagt Jason Jerald, Autos von The VR Book. „Apples iOS gegen Googles Android ist hier das Modell“, fügt Jamais Cascio hinzu, ein Futurist aus San Francisco, der viel über virtuelle Welten geschrieben hat. „Android ist offener, flexibler und erweiterbarer – aber auch weniger konsistent, unzuverlässiger und unsicherer wegen des Mischmaschs aus miteinander kollidierenden offenen und geschlossenen Aspekten.“

Möglicherweise wird keiner dieser Unterschiede von Bedeutung sein. Letztendlich ist es alles andere als sicher, dass VR jemals den Massenmarkt erreicht. (Bis heute wurden nach Angaben von Forrester Research rund eine Million Headsets verkauft, entweder ein Zeichen für mangelndes Interesse oder aufkeimende Begeisterung, je nach Perspektive.)

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„Sowohl Sansar als auch High Fidelity operieren unter sehr heiklen Voraussetzungen“, sagt Wagner James Au, Autor von The Making of Second Life. „Sie setzen die Zukunft ihrer gesamten Unternehmen aufs Spiel, basierend auf der Annahme, dass es einmal einen riesigen Markt mit zig Millionen VR-Nutzern geben wird.“

Im Büro von High Fidelity vergisst man leicht den Ehrgeiz hinter dem Projekt und den Druck, der auf ihm lastet. In dem Raum mit grauem Teppichboden und zugezogenen Vorhängen, die die Sommersonne abhalten sollen, herrscht Stille. Entwickler arbeiten leise an kabelübersähten Schreibtischen, ab und zu zieht einer ein Headset an und fuchtelt in der VR herum, um etwas auszuprobieren. Während meines Besuchs spielen vier oder fünf von ihnen in der Mittagspause Overwatch.

Als Beobachter von außen ist es manchmal schwer zu beurteilen, in welche Richtung sich das Projekt entwickelt. Es herrscht ein Gefühl von Lockerheit, von Ausprobieren um seiner selbst willen. Einer der Entwickler – ein blasser Mann, der jeden Tag mit einem T-Shirt mit dem Slogan Slytherin Quidditch Team Captain ins Büro kommt – baut in High Fidelity gerade ein Modell der Tardis aus Doctor Who. Ein anderer hat eine realistische Kopie seiner Wohnung erschaffen. „Alle von uns in der VR-Community fummeln gerade noch herum“, sagt Rosedales Co-Gründer Ryan Downe Karpf. „Es ist wie in den frühen Tagen des Webs. Es ist schwer, überhaupt zu wissen, was wir... was mal aus uns wird.“

Gegen Ende meines Besuchs frage ich Rosedale, was mit High Fidelity schiefgehen könnte. Er antwortet letztlich mit einer Gegenfrage. „Etwas, das ich immer über Second Life gesagt habe, ist, dass der Name gut gewählt war. Insofern, dass es wirklich fundamental mit dem echten Leben konkurrierte“, sagt er. „Selbst wenn im echten Leben alles gut für dich läuft, warum solltest du das nicht genießen können?“

Eine gute Frage, doch für Rosedale ist sie nur eine flüchtige Überlegung. Hier, im abgedunkelten Büro, erfordern andere Aufgaben seine Aufmerksamkeit. Und da draußen, im Land hinter dem Horizont, sind virtuelle Welten, die nur darauf warten, gebaut zu werden.

Dieser Artikel erschien zuerst bei WIRED UK.

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