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Schrumpfende Einhörner: Geht der Silicon-Valley-Boom zu Ende? — UPDATE

von Karsten Lemm
Die Einhörner schwächeln: Plötzlich häufen sich Fälle, in denen hochgejubelte Tech-Startups, die Milliarden wert sein sollten, bei Anlegern abblitzen. Jüngstes Beispiel ist der Bezahldienst Square, der am Donnerstag sein Debüt an der Wall Street feierte — mit einem Ausgabepreis, der weit unter den Erwartungen blieb. Geht dem Silicon-Valley-Boom die Luft aus?

(Dieser Artikel wurde aktualisiert. Bitte das Update am Ende des Textes beachten.)

Es ist nicht leicht, mit Geld ordentlich Geld zu verdienen. Square versucht es seit Jahren, aber das Kunststück will nicht recht gelingen: Als Konkurrent zu Kreditkartenfirmen 2009 gestartet, hat es die Jungfirma aus San Francisco zwar schnell geschafft, Fans zu finden — mehr als zwei Millionen Händler, die Square als moderne Registrierkasse schätzen, weil sie mit dem Bezahlsystem der Firma ein Tablet oder Smartphone zum Kreditkartenleser machen können. Die Gebühren, die dabei anfallen, sind deutlich niedriger als bei Visa oder Mastercard. Doch bei aller Popularität hat Square in sechs Jahren nicht einen Dollar Gewinn gemacht. Im Gegenteil: Für die ersten neun Monate dieses Jahres meldet das Unternehmen gut 130 Millionen Dollar Miese.

Privatinvestoren sahen darin kein Problem. Im Herbst 2014 drückten sie dem Startup — gegründet von Twitter-Chef Jack Dorsey – noch mal 150 Millionen Dollar in die Hand. Die Bewertung damals: sechs Milliarden Dollar. Die Bewertung heute: drei Milliarden, gerade noch die Hälfte. Denn der lang erwartete Börsengang ist zur Enttäuschung geworden. Weil die Wall Street nur mäßiges Interesse zeigte, musste Square seine Ansprüche mehrfach herunterfahren. Die ersten Aktien, die am 19. November gehandelt werden, kosten lediglich neun Dollar. Ein Schnäppchen im Vergleich zu den 15,46 Dollar, die im vorigen Jahr noch die Privatinvestoren zahlten.

Square ist nicht das einzige Startup, das von der Technikszene begeistert zum Milliardenunternehmen aufgeblasen wurde, um dann bei der Begegnung mit öffentlichen Anlegern ganz schnell wieder zu schrumpfen. Der Cloud-Dienst Box.com etwa verlor seit seinem Wall-Street-Debüt im Frühjahr fast 50 Prozent an Wert, die Maker-Plattform Etsy sogar zwei Drittel; und der Dating-Service Match Group, Mutter von Tinder, blieb bei seinem Börsengang am Mittwoch ebenfalls weit hinter den Hoffnungen von Gründern und Geldgebern zurück.

Die Blase ist bereits geplatzt.

Albert Wenger, Union Square Ventures

Dazu kommen Fälle wie Snapchat: Als der Investmendfonds Fidelity im Mai bei dem hochgejubelten Chat-Dienst einstieg, war das Startup den Risikokapitalgebern noch 16 Milliarden Dollar wert — obwohl Snapchat im vorigen Jahr bei drei Millionen Dollar Umsatz fast 130 Millionen Dollar Verlust gemacht hatte. Selbst schnelles Wachstum hilft da nicht immer, um den unbekümmerten Optimismus der Investoren am Leben zu halten: Vor kurzem stufte Fidelity den Wert seiner Snapchat-Aktien um ein Viertel herunter.

Viele Beobachter sehen in dieser Häufung schlechter Nachrichten unverkennbare Zeichen dafür, dass der jüngste Boom im Silicon Valley ein Ende nimmt. „Die Blase ist bereits geplatzt“, sagt Albert Wenger, Partner bei der Risikokapitalfirma Union Square Ventures in New York. Er sitzt am Dienstag in einem ehemaligen Stummfilmkino in Berlin auf der Bühne, um Nachwuchsunternehmern zu erklären, worauf man achten sollte, wenn man Erfolg haben will. Und natürlich kommt die Frage nach den irren Bewertungen für die Lieblinge der Investmentgemeinde: die mehr als 50 Milliarden Dollar für Uber, die 25 Milliarden für Airbnb und weitere Milliarden für zahlreiche andere Startups, bei denen die Erwartungen auf eine glorreiche Zukunft um vieles größer sind als die aktuellen Geschäftserfolge. 128 Jungfirmen — sogenannte „Einhörner“ — gibt es derzeit, deren Wert von den eigenen Geldgebern auf mehr als eine Milliarde Dollar geschätzt wird.

Man kann das, was nun kommen wird, optimistisch sehen, so wie Wenger, der sagt: „Da ist ein Loch in der Blase, und die Luft entweicht jetzt ganz langsam.“ Oder man kann fürchten, dass diese Blase platzt und die damit verbundene Schockwelle viel Schaden in der Startup-Welt anrichten wird. Der Risikoinvestor Michael Moritz, einer der angesehensten seiner Zunft, verglich den Boom der milliardenschweren Tech-Jünglinge unlängst mit dem amerikanischen Häusermarkt kurz vor dem Kollaps 2008: „Eine Handvoll dieser Firmen wird zu großen, langlebigen Unternehmen von morgen werden“, schrieb Moritz in einem Kommentar in der Financial Times. „Aber viele wirken wie Bauwerke, die höchst zerbrechlich sind.“

Tatsächlich waren amerikanische Risikokapitalgeber (englisch: Venture Capitalists, kurz: VCs) seit dem Dotcom-Boom um die Jahrtausendwende nicht mehr so spendabel wie heute. Im vorigen Jahr pumpten sie fast 50 Milliarden Dollar in Firmengründungen, so viel wie seit 1999 nicht mehr. Die Hälfte davon ging an Startups in San Francisco und das umliegende Silicon Valley, die so genannte Bay Area. Uber und Airbnb haben hier ihr Zuhause, aber auch Pinterest, Square, Dropbox und diverse andere. „Viel Geld fließt in Startups, ohne dass die Investoren besonders genau hinschauen“, sagt Tracey Grose, Vizepräsidentin beim Bay Area Council Economic Institute. Billiges Geld durch niedrige Zinsen und der Wunsch, das nächste Facebook nicht zu verpassen, hätten viele Anleger unvorsichtig gemacht. „Ich hoffe, dass all diese Dinge die Investmentgemeinde wachrütteln“, sagt Grose mit Blick auf die jüngsten Negativschlagzeilen rund um Tech-Startups. „Es wäre schlecht, wenn alles einfach nur so weiterginge.“

Im Wunsch nach dem Größten und Höchsten spiegeln sich übermäßiges Selbstvertrauen und Überheblichkeit.

Vikram Mansharamani, Universität Yale

San Francisco, die Stadt im Zentrum des Booms, ächzt schon lange unter den Folgen des eigenen Erfolgs: Die Mieten haben New York überholt, ein Zweizimmer-Apartment kostet im Durchschnitt 3500 Dollar. Immer mehr Menschen, die nicht 150.000 Dollar im Jahr verdienen, wie so viele Programmierer, Web-Designer und Anwälte, werden aus der Stadt vertrieben. Die alternde Infrastruktur ist nahe dem Infarkt. Die U-Bahn muss 55 Prozent mehr Fahrgäste verkraften als 1998, ohne dass neue Wagen angeschafft würden, und auf vielen Straßen herrscht Dauer-Stau.

„Viele Nachwuchs-Talente aus der Technikbranche möchten gern in der City leben“, sagt Grose, Mitautorin einer aktuellen Studie über die Herausforderungen der Stadt am Golden Gate. Deshalb machen mehr und mehr Silicon-Valley-Unternehmen wie Google, Facebook und IBM neue Büros in San Francisco auf. Salesforce baut eine gigantische neue Firmenzentrale, die sich über mehrere Straßenzüge im Herzen der Stadt erstreckt. Für den Yale-Forscher Vikram Mansharamani, der sich mit Boom-Zyklen beschäftigt, sind solche gigantischen Projekte typische Warnzeichen für Übermut kurz vor dem Fall. „In dem Wunsch, das Größte oder Höchste in einer bestimmten Region zu besitzen, spiegeln sich übermäßiges Selbstvertrauen und Überheblichkeit“, erklärte er dem Radiosender NPR. Der Salesforce Tower soll eines der höchsten Gebäude westlich des Mississippi werden.

Was können Jungunternehmer tun, die sich vor den Folgen der nächsten finanziellen Dürreperiode schützen wollen? Die Risikokapitalgeber von Union Square Ventures haben bei ihrem Besuch in Berlin einen Tipp für ihr Publikum: Gar nicht erst so viel Geld einsammeln. „Es fühlt sich vielleicht wie ein Erfolg an, wenn man auf einer vollen Kriegskasse sitzt“, sagt Brad Burnham, ebenfalls Partner bei der VC-Firma aus New York. „Aber die Wahrheit ist: Man drängt sich selbst in die Enge.“ Je mehr Millionen ein Startup von Investoren bekommt, so seine Logik, um so stärker werde der Druck, schnell zu wachsen, Mitarbeiter einzustellen, Marktanteile zu erobern. Und die Not, frisches Kapital aufzutreiben, weil das alte rapide schwindet. Stattdessen, rät Burnham, sei es besser, bescheiden zu bleiben und sich nur so viel zu holen, wie man tatsächlich brauche. „Dann bleibst du schlank“, erklärt er, „und bestimmst dein Schicksal weiter selbst — egal, was draußen an der Börse passiert.“

UPDATE 20.11.2015: Anleger sahen die Square-Aktie beim Börsenstart offenbar wirklich als Schnäppchen und griffen zu: Am Ende des ersten Handelstags stand die Aktie bei 13,07 Dollar – ein Plus, das Square einen Marktwert von gut vier Milliarden Dollar einbrachte. Das ist allerdings immer noch deutlich unter den sechs Milliarden der letzten privaten Finanzierungsrunde. Auch die Match Group, mit einem niedrigen Aktienpreis in den ersten Börsentag gestartet, schloss höher als von vielen erwartet: Die Anteile stiegen von 12 auf 14,74 Dollar je Aktie. Damit lag der Preis etwa auf dem Niveau, das sich die Risikokapitalgeber von Anfang an gewünscht hatten. 

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