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Wie findet Spotify heraus, welche Musik uns gefällt?

von Karsten Lemm
Mit jedem Song, den wir hören, immer wieder hören oder schnell überspringen, hinterlassen wir Tonspuren – Datenberge, die Streamingdienste wie Spotify auswerten, um darin unser musikalisches Ich zu finden. Denn ihr großes Versprechen lautet Personalisierung: das ganz persönliche Programm für Millionen Hörer, perfekt abgestimmt auf den Geschmack eines jeden Einzelnen. Klingt gut. Aber wie geht das? Ein Selbstversuch.

Vielleicht sind zwei Jahre einfach nicht genug, um sich kennenzulernen. Vor allem, wenn man nur online Zeit miteinander verbringt, und der eine versucht, dem anderen alle Wünsche von Klicks und Plays abzulesen. Oder wie kommen die Elektro-Oldies von Schiller da ganz oben auf meine Liste von Spotify-Favoriten – als Band, die mir musikalisch näher stehen soll als jede andere? Ambient-Klänge mag ich ja für gewisse Mußestunden. Aber deshalb gleich höchste Affinität, ein „Affinity Score“ von 398,8? Irgendwo muss es ein Missverständnis geben.

Ajay Kalia nickt versonnen. „Wie, glaubst du, sind wir dann darauf gekommen?“ Gute Frage. Genau deshalb sitzen wir hier, in der Firmenzentrale in Stockholm, um Antworten zu finden: Woher stammen die Musikvorschläge in mei­nem Spotify-Stream? Wie lesen die Schweden aus meinen Daten heraus, was mir als Nächstes gefallen könn­te? So schön es ist, dass ich alles, was früher in meinem CD-Regal stand, jetzt per Knopfdruck einfach abspielen kann – das wahre Versprechen so einer Jukebox in der Cloud ist ja: Es gibt da noch viel mehr, das mir gefallen könnte, künftige Lieblingslieder, von denen ich bisher gar nichts ahne. 

30 Millionen Songs hält Spotify bereit, eine große Auswahl. Und zugleich ein großes Rätsel: Wie, um Himmels willen, soll ich hier finden, was mich begeistern könnte? Spotify setzt auf Datendetektive wie Ajay, um Antworten zu finden: Bei jeder Musikstunde, die ich in der Welt von Spotify verbringe, hinterlasse ich Spuren; gebe ich Ajay und seinen Kollegen Hinweise darauf, ob ich Rock mag, wann ich in Dance-Laune bin, was ich in Bürostunden am liebsten höre. 

Diese Spuren richtig zu deuten, um meinen Geschmack genau zu treffen, wird zunehmend zu einem entscheiden­den Argument im Kampf der Strea­ming-Dienste: Ob Apple, Deezer, Rdio oder Pandora – alle protzen mit unfassbar großen Klang-Kollektionen, alle versprechen beste Soundqualität auf Schritt und Tritt, alle lassen mich jede musikalische Entdeckung mit Freunden teilen. 
Doch wem gelingt es, mich am besten zu verstehen? Welches der Portale, deren Angebote am Ende doch so ähnlich sind, kann aus all den wirren Hördaten das Optimale herausholen? Schließlich geht es hier um Vorlieben und Lebensgewohnheiten von Nutzern, um Infos, aus denen man einerseits die direkte Verbesserung des Angebots ableiten kann, also Kundenbindung – die andererseits aber auch die wertvollste Währung darstellen, die es derzeit im Netz gibt. Komplexes Herrschaftswissen über konsumfreudige Menschen.

„Da in der Mitte wird’s bei dir ziemlich verschwommen“, sagt Ajay zu mir. Sein Laptop füttert den Flachbildschirm vor der Wand mit Tabellen, die zeigen, welche Musik ich wie oft gehört habe und was die Algo­rithmen davon halten. Offenbar bin ich ein schwieriger Fall. „Es gibt viele Künstler, bei denen du nur ein paarmal reinhörst“, sagt Ajay. „Du überspringst viel, das Bild ist nicht sehr klar.“

Ajay ist ein jugendlich-sportlicher Amerikaner, 32 Jahre alt, der Jeans und Poloshirt trägt und in Boston arbeitet. Dort hat Spotify im März 2014 das Start-up Echo Nest gekauft, das sich auf automatische Musikanalyse spezialisiert hat und diverse Musiklabels und Streaming-Dienste mit Analyse-Tools bediente. Mit Echo-Nest- Technologie bekommt jeder Song ein Profil, wird danach bewertet, welche Stimmung er vermittelt, wie rhythmisch er ist, welchem Genre er angehört (Pop, Metal, Jazz?) – ja selbst, wie hot, wie angesagt, der Interpret gerade ist. Kombiniert man dieses Wissen mit Beobachtungen zum Nutzerverhalten, ergibt das die perfekte Grundlage für treffsichere Musiktipps.

Hofft Spotify. „Wir schauen uns an, was du dir anhörst, und alles, was du bei Spotify machst, um daraus dein musikalisches Ich zu errechnen“, erklärt Ajay. „Dieses Geschmacksprofil ist unser Versuch, so gut wie möglich zu verstehen, welche Art von Musik dir gefällt.“

Links von ihm, an einem langen, schwarzen Konferenztisch, sitzt sein Kollege Matt Ogle aus New York. Die beiden sind in Stockholm, um sich mit anderen Teams zu koordinieren. Matt leitet ein wichtiges Projekt: Mit Discover Week­ly, einer neuen Funktion, die seine Informatiker entwickelt haben, will Spotify das musikalische Ich von 75 Millio­nen Nutzern begeistern – jede Woche neu mit einer ganz persönlich zusammengestellten Playlist.

Es ist der erste Versuch, die Echo-Nest-­Intelligenz im großen Stil für individuelle Musikvorschläge zu nutzen. Normalerweise sind Playlisten für alle gleich und werden von Menschen erstellt: Mitarbeitern, die hier um die Ecke in einem Großraumbüro sitzen und Songs nach Themen, Stimmungen oder Genres ordnen, oder von Nutzern selbst.

Ein Mixtape für 75 Millionen, abgestimmt auf den persönlichen Geschmack

Discover Weekly soll an frühere Zeiten erinnern, als Freunde sich noch analog mit Musik versorgten und wussten, was dem anderen gefallen könnte. „Wir wollten etwas schaffen, das sich menschlich anfühlt, aber auch bei der Größe von Spotify funktioniert“, sagt Matt. „Und dabei haben wir an das Mix­tape gedacht.“ Jeder Montag wird damit zu einem Test für die Teams von Matt und Ajay. Zum Glück machen nicht alle Menschen es den Spotify-Algorithmen so schwer wie ich. Viele haben Lieblingsbands, deren Alben sie vom ersten bis zum letzten Song hören, mögen so ziemlich alles in einem bestimmten Genre und wenden sich, je nach Laune, Playlisten zu, die ihre Bestimmung schon im Namen tragen („Anti-Morgenmuffel“, „Hot Rock“, „Feelin’ Good“).

Für einen ersten Eindruck davon, was Nutzern gefällt, sortiert Spoti­fy hinter den Kulissen alle abgerufenen Lieder nach Kategorien. Das reicht von allgemein – die Arctic Monkeys spielen „Indie Rock“ – bis hochspeziell: „Gauze Pop“, „Intelligent Dance Music“, „Chillwave“. Viele dieser Begriffe sind mir neu, doch offenbar bin ich ein Fan solcher Klänge: 83 Prozent aller Musik, die ich bisher bei Spotify gehört habe, stammt aus demselben gro­ßen „­tas­te cluster“, einer Art Insel aus verwandten Künstlern und Kategorien, die sich bei mir aus „Indietronica“, „Shimmer Pop“ und „Indie Rock“ zusammensetzt.

„Der Blick auf taste cluster zeigt uns, wo du in der Musikwelt zu Hause bist“, erklärt Ajay Kalia. „Wir sehen, wie sich dein Geschmacksbild zusammensetzt, aber auch, wie die Künstler untereinander verbunden sind und wo sie kulturell verankert sind.“ Viele Menschen, so erfahre ich, besitzen eine Reihe ähn­lich großer Geschmacksinseln – hier ein bisschen HipHop vielleicht, da ein bisschen Rock, gern auch etwas Dance und Pop. Bei anderen beschränken sich die Vorlieben auf einige wenige Cluster, und der Geschmack verästelt sich in der Tiefe. „Ich zum Beispiel“, sagt Ajay, „tauche bei Indie Rock ganz tief ein. Wenn ich Empfehlungen bekomme, dann erwarte ich echte Insider-Tipps.“

Wie Bands heißen, die mir angeblich gefallen, kann ich oft gar nicht sagen – sie rauschen einfach vorbei

Mir soll es einfach nur gefallen. Wie Bands heißen, kann ich oft gar nicht sagen. Saint Motel, The Little Ones, Youngblood Hawke – viele Namen, die in Ajays Tabellen über das Display huschen, kommen mir nur vage bekannt vor, obwohl die Listen behaupten, dass ich die Bands Dutzende Male gehört habe. Kann Musik, die auf Knopfdruck einfach aus dem Kopfhörer sprudelt, überhaupt so bedeutsam werden wie Alben, die ich mir früher vom Taschengeld absparen musste? „Macht nichts“, sagt Ajay. „Du musst auch gar nicht wissen, wer Youngblood Hawke sind – es reicht ja, dass wir es wissen.“ Die Macht der Daten liegt darin, dass sie Zusammenhänge aufzeigen können: auch zwischen Millionen Nutzern und den Klängen, die sie aktiv beschäftigen. Songs, die sie in Playlisten einsortiert haben. 

„Für Discover Weekly“, erläutert Matt, „nehmen wir alles, was Ajay und sein Team über dich gelernt haben, und kombinieren es mit dem, was wir allgemein über Musik bei Spotify wissen.“ Lieder, die mir gefallen, tauchen wahrscheinlich auch in den Geschmacksprofilen anderer Nutzer auf. „Stark vereinfacht gesagt, schauen wir uns an, was du gern hörst, und suchen dann in Millionen von Playlisten nach Songs, die rund um deine Lieblingslieder herum vor­kom­men – die du aber noch nicht kennst.“

Damit das klappt, müsste sich das System erst einmal sicher sein, welche Eigenschaften dafür verantwortlich sind, dass mir bestimmte Lieder gefallen und andere nicht. Knifflig, denn woher soll Spotify wissen, dass ich ein paar Songs der Band White Faces vor allem deshalb mag, weil die Bassgitarre angenehm nach New Order klingt – während die Fistelstimme des Sängers schnell anfängt, mich zu nerven? Geht nicht. Fürs Erste bleibt nur der grobe Hinweis: wisch und weg. „Was bei dir besonders auffällt“, sagt Ajay: „Die Zahl der Songs, die du nach kurzer Hörzeit weggeklickt hast, ist weit größer als alles, was du tatsächlich angehört hast. Das sagt uns, nun ja …“ Wie kann man das diplomatisch formulieren? Matt lacht, während Ajay nach Worten sucht: „…dass es sich bei dir um einen sehr wählerischen Menschen handelt.“

Klick und weg. Das Gute an meinen Abwehrreaktionen: Ich gebe aktiv Hinweise

Immerhin gebe ich mit meinen Abwehrreaktionen aktiv Feedback, ähnlich wie in Fällen, in denen ich begeistert Lieder in meine Sammlung aufnehme oder beim Spotify-­Radio „Daumen hoch“ drücke. Solche Handlungen signalisieren bewusstes Zuhören. Im Normalfall können die Algorithmen nur raten: Lasse ich die Musik im Hin­tergrund spielen? Bin ich aus dem Zimmer gegangen? Läuft ein Lied, das ungewöhnlich für mich ist, weil es meiner Frau gefällt? Meistens gibt es nur eine Gewissheit: „Wir wissen, dass ein Play allein nicht viel aussagt“, erklärt Ajay. 

Deshalb errechnet Spotify aus vielen Beob­ach­tungen des Nutzerverhaltens den Wert der Affinität (siehe Seite 43). Der kann weit von den Plays abweichen. Bei mir kommt Morcheeba bei 93 Streams auf 123 Punkte Affinität, während die In­die­tronica-­Band St. Lucia trotz 118 Plays nur 55 Punkte erreicht. Das kann ich mir erklären. Aber Schiller? Diese 398,8 Punkte bei lediglich 69 Plays? „Wir sehen in all diesen Zahlen keine absoluten Si­cher­heiten“, meint Ajay. „Es ist immer nur eine Annäherung. Manch­mal liegen wir daneben.“ 

Auf Smartphones kann Spotify noch besser unser Verhalten analysieren. Das führt bereits zu Ärger

Mit der Zeit aber, so darf ich hoffen, kann alles nur besser werden. Die Algorithmen werden schlauer, die Datenberge wachsen, und je mehr die Musik auf Smartphones spielt, umso genauer kann Spotify einschätzen, was Nutzer gerade tun, wenn sie via Mobil-App hören. Plötzlich verraten zum Beispiel Bewegungsdaten, ob Zuhörer zu Hause sind oder zu Fuß gehen, im Auto sitzen oder Zug fahren. Denn: Auch solche Daten sammelt Spotify.Vorsorglich änderte der Musikdienst bereits seine Nutzungs­bestimmungen, um sich auch den Zugriff auf Adressbücher und die Handykamera erlauben zu lassen.  Als es Kritik hagelte, beteuerte Spotify-Chef Daniel Ek, es sei doch alles nur gut gemeint. Nutzer könnten frei entscheiden, welche Daten  sie preisgeben, um „ihr Spotify-Erlebnis persönlicher zu machen“.

Ein Beispiel für Personalisierung, das Matt und Ajay gern anführen, ist die Running-­Funktion, bei der die Spotify-App versucht, beim Joggen Musik zu spielen, die genau im Takt mitläuft. „Das war die perfekte Anwendung für die Echo-Nest-Audioanalyse“, erzählt Matt. Im Juni kaufte Spoti­fy gleich den nächsten Musikdatenanalysten, Seed Scientific – der bis dahin auch Apples Beats Music beliefert hatte. Der Konkurrent aus Kalifornien wird andere Wege finden, in den Vorlieben seiner Nutzer zu lesen. Aber für den Augenblick hoffen die Schweden, sich einen Vorteil erkämpft zu haben. 

„Hier geht es um Analysen, die für uns bisher nicht möglich waren“, berichtet Ajay über erste Kontakte zu Seed Scientific. Die Neuen bringen Werkzeuge mit, um Informationen feiner zu filtern, damit am Ende nicht mehr nur ein Musik­erlebnis für männliche Rockliebhaber zwischen 18 und 34 steht, sondern das ultimativ persönliche. „Wir müssen uns längst nicht mehr begnügen mit: ,Weil du dieses Album gehört hast, probier mal dieses andere.‘ Wir können einfach sagen: ,Hier ist Musik für dich!‘“

Vielleicht gilt das am Ende sogar für einen so schwierigen Fall wie mich. Bei Discover Weekly zumindest passiert es neuerdings öfter, dass ich fröhlich mit dem Fuß wippe, Songs aufhebe und denke: „Spotify, jetzt verstehen wir uns.“ 

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