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DNA-Hacker retten die Welt: Der Bio-Hype im Silicon Valley

von Joachim Hentschel
Hefekulturen legen Eier, Bakterienspinnen Wolle, DNA-Hacker retten die Welt:  Wie die Biotechnologie im Silicon Valley zum neuen Hype wird.

Irgendetwas musste erheblich schiefgegangen sein, denn als John Schloendorn am Montagmorgen zurück ins Labor kam, stand der Bioreaktor still.
Eigentlich hatte Schloendorn – Gründer des Biotechnik-Start-ups Gene And Cell Technologies, einquartiert in Vallejo, Kalifornien – übers Wochenende zytokine Proteine züchten wollen. Botenstoffe des menschlichen Immunsystems, hauseigenes Material für die regenerative Medizin, das Geschäftsmodell seiner kleinen Firma. Wie auch immer, während seiner Abwesenheit war ein kleiner Unfall passiert. Kurz nach dem Start, so sah es aus, hatte sich irgendwo ein Stück Plastik gelöst, ein Röhrchen verstopft, die Reaktor­reaktion versaut. Zwei Tage vergeudet.

Heute programmieren wir Software. Morgen programmieren wir Materie

Ryan Bethencourt

Schloendorn, sauer, hatte den Fremdkörper bereits in den Müll geworfen. Bis er doch noch ein zweites Mal hinschaute. Das war kein Plastik. Es war Gewebe. So etwas wie menschliches Nierengewebe, im Glas gewachsen, dick wie ein Ohr, schweinerosa. Ein sonderbares, wabbeliges Nebenprodukt aus dem Bioreaktor-Ansatz. Wofür die In-vitro-Kunstfleischforschung seit Jahren allergrößten Aufwand treibt – ihm war es einfach so gelungen. Aus Versehen.

„Was soll ich jetzt damit machen?“, fragte Schloendorn am Telefon seinen Freund und Berater Ryan. „Vielleicht essen? Sehen, wie es schmeckt?“ „Nein!“, schrie Ryan. „Das ist eklig! Das wäre ... Kannibalismus!“ „Aber es ist doch nur Protein“, antwortete Schloendorn. „Protein!“ Und so ging es weiter. Schloendorn fand die Ursache für den gloriosen Lapsus (ein Fehler beim Aufbau des Reaktors, ein paar falsch laufende Fluidleitungen), rekonstruierte den Zufall. Mittlerweile, im Frühjahr 2015, hat er die Entdeckung an eine börsennotierte Nahrungsmittelfirma lizenziert, deren Namen er nicht sagen will. Man erinnert sich: Der schlagzeilenheiße Labor-Hamburger von 2013, bezahlt von Google-Mann Sergey Brin, in London serviert, hatte in der Herstellung über 300.000 Dollar gekostet. Schloendorns Zufallsviertelpfünder, 2015: gerade mal zehn Dollar.

Vielleicht interessieren uns solche Sachen im Moment ja doch am meisten. Mehr als die Frage, wer den unendlichen Smartwatch-Akku bauen wird und ob man eine Fahrt in Elon Musks Hyperloop-Transportröhre ohne Kotzen übersteht. Das ganze lebensnahe, atmungsaktive Zeug: Wollen wir unser Fleisch nicht lieber aus dem sauberen Bioreaktor als aus der muffigen Schlachterbude? Wie viel cleane Energie lässt sich aus Material gewinnen, das als Abfall gilt? Fragen, denen man instinktiv mehr nachhaltige Bedeutung zurechnet als anderen Tech-Debatten. Auch mehr dystopisches Potenzial.

Ist es wirklich Kannibalismus, wenn wir Kunstfleisch essen? Können wir Tiere aus industriellen Abläufen heraushalten, Chemie durch biologische Reaktionen ersetzen? Neue Kreisläufe stiften, wo es bisher nur stumpf auslaufende Verwertungsketten gab? Und, ganz besonders: Werden wir bald alle unzerstörbare Unterwäsche aus Spinnenseide tragen? Ja, solche Fragen.
Beim Begriff Biotechnologie denkt ja jeder spontan an etwas anderes. An Dolly, das Klonschaf von 1996, oder die Bierbrauer im Mittelalter. An Craig Venter und sein 2001 sequenziertes Menschen-Genom, an alte Pappenheimer wie Monsanto und Nestlé oder an irgendeine längst pleite gegangene Lieblingsfirma aus dem Boom der Jahrtausendwende. Woran eben fast noch keiner denkt: an kleine, schlagkräftige, konsumentenorientierte Firmen. Mit Produkten. An Start-ups, wie wir sie aus der Silicon-Valley-Mischpoke zu kennen glauben. Nur halt biologischer.

Was gleich auch noch wirtschaftliche Fragen aufwirft. Gibt es — wenn die Unis und großen Konzerne nicht mitmachen, wenn es auch nicht gerade um Medikamentenstudien oder genmanipuliertes US-Saatgut geht — genug Risikokapitalgeber, die den Spaß finanzieren wollen, der aus den Hackerlaboren kommt? Wie lange dauert es, bis aus einem Crowdfunding-Jokus eine skalierbare, marktfähige Company wächst? Ganz am Ende geht es um eine neue Kultur. Eine Welt, in der wir selbstverständlich In-vitro-Burger essen, Baumwolle aus dem Labor tragen und Bauziegel anpflanzen, wäre eine andere.  
„Das Potenzial der digitalisierten, automatisierten Biologie wird bald alles in den Schatten stellen, was wir derzeit noch in der Tech-Branche beobachten“, sagt Ryan Bethencourt, Mitte 30, Biotech-Mäzen aus San Francisco — der Ryan, der eben schon vorkam, als er dem Burger-Züchter am Telefon kluge Ratschläge gab. „Heute programmieren wir Software. Morgen programmieren wir Materie.“ Genau: Eine ethische Debatte gibt es auch noch dazu.

Ryan Bethencourt, früher Cambridge-Student mit Master in Biotechnologie, danach Biohacker, dann Betreiber eines Hackerlabors im kalifornischen Berkeley, ist seit Anfang 2015 Teilhaber und Programmdirektor eines neuen Biotech-Accelerators im Silicon Valley, also einer Crashkurs-Schule für die ganz jungen Firmengründer, die außer einer womöglich rasanten Idee noch keinerlei Ahnung vom Geschäft haben.

Indie Bio heißt das Probierlabor, und wer es besuchen will, muss erst mal raus aus der Downtown-Brut von San Francisco. Durch die Tech-Bezirke Soma und Mission Bay im Osten hindurch, Richtung Wasser. Die Dogpatch Neighbourhood war noch in den 80er-Jahren ein Hafenarbeiterbezirk, ist zumindest westlich vom mitten durchs Viertel rasenden Interstate Highway 280 weiterhin eine richtig miese Wohngegend.

Man muss nur über die Brücke, auf die andere Highway-Seite, um ins gentrifizierte Traumland zu kommen. Links und rechts frisch sanierte Wohn- und Büroblöcke, Biocafé, Yoga, die polierte Straßenbahn. Wenn hier alle geplanten Projekte fertig sind, das hat der San Francisco Chronicle errechnet, wird sich die alte Bevölkerungsdichte von Dogpatch verdreifacht haben.

Indie Bio, der Accelerator, das kalifornische Landschulheim der synthetischen Biologie: Auf einer Industrieetage haben sie drei Labors, ein Großraumbüro, ein Konferenzzimmer eingerichtet – für elf Start-ups im absoluten Embryostadium, ausgewählt aus rund 100 Bewerbern (darunter waren auch ein paar deutsche). 30 Leute, junge Kanadier, US-Amerikaner, Inder, Chinesen, nur zehn davon mit Doktortitel. Jedes Team bekommt 50 000 Dollar, darf drei Monate lang gratis alle Räume und Geräte nutzen, kriegt Zugang zum großen Mentorennetzwerk der Ausrichter.

Dafür bekommt SOSVentures — die irische Investmentfirma, die hinter der Start-up-Schule steht und in Cork schon eine ähnliche Veranstaltung gelauncht hat — später mal acht Prozent Anteil an jedem Unternehmen, das tatsächlich Investoren findet, es auf eigene Füße schafft. Wie vielen das im Durchschnitt gelingt, kann noch keiner sagen. Frühjahr/Sommer 2015 ist der erste Durchgang, die erste Klasse in San Francisco.

„Das Leitmotiv ist altbekannt“, sagt Ron Shigeta beim Rundgang – promovierter Chemiker und Biophysiker, jetzt neben Ryan Bethencourt und Gründer Arvind Gupta der Dritte im Leitungstrio des Start-up-Internats. „Je beliebter und zugänglicher eine neue Kulturtechnik für die breite Masse wird, desto mehr Macht entwickelt sie.“

So gesehen ist das hier die große Punk-Ära der Biotechnologie. Endlich. Die Labors haben sie mit gebrauchten Thermocyclern (mit denen man DNA vervielfältigen kann), Zentrifugen und Magnetrührern bestückt, das reicht voll und ganz, aber kostet nur den Bruchteil einer Industrie-Einrichtung. Gleich hinterm Eingang steht der abenteuerliche Biodrucker der exzellent gelaunten Jungs von Arcturus Biocloud, den bald jedes Schulkind übers Netz ansteuern können soll. Die Stammzellen-Leute links hinten haben eine Klebebandgrenze am Boden angebracht, damit keiner Keime einschleppt, im Kühlschrank sieht es aus wie im Eisfach einer Studen­ten-WG: Die Bakterienkulturen in der Tupperschüssel gehören Ranomics, in den markierten Gläschen hat das Clara-Foods-Team seine Hefe. Den Wassermantel-Inkubator im Nachbarraum rüht keiner an. „E.Coli“ steht auf dem Post-it. Darmbakterien.

Es riecht nach nichts bei Indie Bio. Noch nicht, sagen Jenny und Alex von Bioloop, dem Textil-Start-up. In ihren Schalen wächst Baumwolle, gezüchtet aus bakterieller Cellulose, bei genauem Hinriechen mit zartem Natriumhydroxid-Aroma. Wenn der Prozess steht, kann ihr Produkt Millionen Liter Wasser und Tausende von Pestizidfässern einsparen, die der konventionelle Baumwollanbau frisst. Man muss sich hier viele Namen merken: Pembient stellt Nashornmehl her, aus 3D-gedrucktem Keratin – das Pulver wird sich vom Original nicht unterscheiden, könnte aber den Bedarf in Asien billig decken und einen grässlichen Schwarzmarkt niederreißen. Clara Foods programmiert Hefekulturen so, dass sie Proteine produzieren, aus denen Eiweiß gemixt werden kann. Kein Imitat, nicht genmanipuliert. Bloß ohne Zwischenschaltung von Hühnern. Fast-Food-Ketten, die Wagenladungen davon brauchen, wären ausgesprochen blöd, weiterhin die riskante, derzeit empfindlich teure Ware der Intensivfarmer zu kaufen.

„Who the fuck are your customers?“, hat ein lustiger Biologe in Orange auf eines der Whiteboards im Büro geschrieben. Fast pflichtschuldig, hier soll doch Silicon-Valley-Pitch-Atmosphäre herrschen. Aber die sonst oft so heikle Start-up-Frage, wer den Krempel eigentlich braucht — sie beantwortet sich hier ausnahmsweise von selbst. Bloß die Mikroben müssen mitspielen.

„Früher war es so: vier Jahre Uni, dann Promotion, Postdoc. Dann konnte man langsam mal anfangen, über eigene Projekte nachzudenken.“ Ryan Bethencourt, der Sonnyboy und Chef-Ideologe, sitzt im Glaskasten, macht am Laptop ein bisschen Social Media. „Wir sagen: Man braucht eine Idee, die wissenschaftlichen Wert hat. Dann: Ausprobieren! Schauen, ob sie funktioniert.“ Aber sind echte Wissenschaftler dabei im Zweifel nicht schneller und effektiver? „Vielleicht, aber denen fehlt oft der Enthusiasmus der Quereinsteiger, der Biss. Die Fähigkeit, Dinge ganz anders zu sehen. Ich hab’s erlebt.“

Bethencourt, in Kuba geboren, in England aufgewachsen, war schon mittendrin in der Promotion zum Stammzellendoktor, als ihm alles zu langwierig und technokratisch wurde. Er stieg ins Biobusiness ein, entdeckte die Hobbyforscher- und Hackerszene im Silicon Valley, gründete 2014 mit dem heutigen Accele­rator-Partner Ron Shigeta das offene Labor Berkeley Biolabs. Abends treffen sich hier Leute, bauen Algenbatterien, verwandeln Giftwasser in Biotreibstoff, füttern Bakterien mit Zucker, damit sie Papier produzieren. Bethencourts fast schmerzhafte Begeisterungsfähigkeit wurde weiter angefacht.

Dass die synthetische Biotechnologie derzeit so im Aufschwung ist, hat auch sachliche Gründe. Alles, was mit DNA zu tun hat, ist in den letzten Jahren spektakulär billiger geworden: Hardware, Dienstleistungen. Noch 2007 hat das Auslesen des menschliches Genoms rund eine Million Dollar gekostet, heute sind es unter 1000. Ein Secondhand-Thermocycler, für die letzte Generation eine ruinöse Anschaffung, ist im Netz für wenige Hunderter zu bekommen, Cloud-Computing spart die Kapazitäten ganzer Uni-Rechenzentren, digital modifizierte DNA-Stränge kann man sich relativ billig von Spezialfirmen herstellen und zuschicken lassen.

Die Eintrittsbarrieren, die kürzlich noch galten, die Schlüssel zum professionellen Labor, die Messenger Bag voll Risiko-Cash: Sie sind egal geworden, zumindest in der frühen Alpha-Phase. „Jeder, der WLAN und eine Kreditkarte hat, kann mit den Experimenten loslegen“, sagte D. J. Kleinbaum, CEO von Emerald Therapeutics, dem Wall Street Journal. Emerald erledigt die digital durchgegebenen Laborarbeiten seiner Kunden, für Gebühren zwischen einem und 100 Dollar.

Es ist genau das, was die wilden Augen der Visionäre derzeit sehen: So ging damals auch die zweite Netz-Gründerwelle los, der das Valley heute Ruhm und Börsenmilliarden verdankt. Eine fixe Bio-Idee auch ohne viel Mäzenatengeld halbwegs marktreif zu kriegen: Früher war es völlig undenkbar. Nun schon. Eine Wasserscheide. Jetzt programmieren wir Materie. Verdienen Geld. Und machen die Welt besser.

„Für Investoren war Biotech bislang ja immer ein Katastrophengebiet“, sagt Indie-Bio-Gründer Arvind Gupta, selbst eine bizarre Mischung aus studiertem Bioingenieur, langjährigem Optionshändler und Business Angel. „Ob das die nächste Blase wird? Nein. Der Fortschritt, der diese Geschäfts­ideen so realistisch macht, ist ja noch nicht mal abgeschlossen. Und alle hier wissen: Wenn es mit dem Start-up doch nicht klappt, haben sie morgen einen neuen Job.“
Aber für echte Präzedenzfälle steht die Sonne hier noch nicht hoch genug. Von den 116 Start-ups, die die Risikokapitalfirma Y Combinator 2015 ins Programm nahm, sind zehn aus der Biotechbranche, auch der bekannte Investor Peter Thiel hat zuletzt mehrere junge Laborgründer mit Millionen unterstützt, die DNA-Drucker von Cambrian Genomics, die Tumortherapeuten Stem Cent­RX. Ein Run ist das noch nicht.

Dazu kommt die Frage, die am Anfang noch gefehlt hat: Wie werden die so oft zitierten Konsumenten die Ernte annehmen? Dass es Biotech-Kritik nur in Europa gibt, ist ein Irrtum. Die US-Crowdfunding-Plattform Kickstarter hat 2013 – nach einer seltsamen Affäre um Samen für Leuchtpflanzen – auch legale genmanipulierte Organismen aus ihren Projekten ausgeschlossen, der Genanalyse-Dienstleister 23andMe streitet seit anderthalb Jahren mit der Arzneimittel­zulassung um seine Gesundheitstests. Das vegane Eiweiß, das Nashornmehl, die Milch aus den Indie-Laboren sind zwar selbst nicht manipuliert – gleichzeitig wäre es maßlos naiv, hier kein schwieriges Potenzial zu sehen. Der Einfallsreichtum, die radikale Lösungsorientierung der Biotechies macht sicher nicht an unseren Geschmacksgrenzen Halt, so kuschelweich die Weltverbesserungsfantasie auch klingt.

Die zum Beispiel: eine riesige Datenbank mit allen denkbaren Mutationen, die ein bestimmtes Krankheitsgen haben kann, alle an Modellorganismen getestet. Was den Effekt hätte, dass der Arzt dem Patienten nach dem DNA-Test sicher sagen könnte, wie hoch seine Risiken denn nun sind. Die Idee hatte Cathy Tie bei einem Schulprojekt. Tie, 18, mittlerweile Studentin in Toronto, sitzt im dünnen schwarzen Trenchcoat im Innenhof in der Sonne, sie ist die Jüngste in der ersten Indie-Bio-Klasse. Coden hat sie sich in den letzten Sommerferien beigebracht, aus Langeweile. Experten halten ihre Firma Ranomics für eine der wertvollsten des Programms.

Ja, klar sei das alles aufregend, sagt Cathy Tie, aber eben auch wie Schule, nur mit vernünftigem thematischem Fokus. „Die Gesetze der Bio-Industrie, die Grenzen des menschlichen Wissens, Molekularkinetik. Ich glaube, das macht mir Spaß.“

Denn wenn es mit der Biotechnologie heute ein Problem gäbe, sagt Tie, so fix dahingenuschelt, dass es nicht mal altklug klingt: dann sei es die Vermittlung des komplexen, oft einschüchternden akademischen Käses an die Öffentlichkeit. „Die Leute verstehen ja nur die Hälfte. Weil ihnen keiner was erklärt.“
Vor 20 Jahren konnte ja auch kein Mensch ein Betriebssystem installieren. Wer weiß, vielleicht werden wir im Jahr 2030 ja alle kleine Biologen sein. 

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