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Bilderflut und Kaufrausch: Pinterest-Gründer Evan Sharp über sein Imperium der Dinge

von Anja Rützel
Pinterest-Gründer Evan Sharp hat die größte Wunschmaschine des Internets gebaut — und verändert unseren Blick auf die Welt: Welche Sachen müssen wir noch kaufen, wenn wir sie auch digital speichern können?

Er mag Eier bevorzugt pochiert. Liebt Architektur, sammelt Fotos von berühmten Menschen in Schräglage, möchte gerne einmal die Plitvicer Seen in Kroatien besuchen, wo sie seinerzeit Winnetou drehten. Ein mit Kugelschreiber gemaltes Porträt eines Schnabeltiers würde er sich durchaus an die Wand hängen, er wandert gerne im Zion-Nationalpark in Utah und hegt Sympathien für das Krümelmonster. Um derart viel persönliches Wissen über Evan Sharp aus ihm herauszupressen, müsste man schon eine qualvoll lange Zugfahrt mit dem Co-Gründer und Chief Creative Officer von Pinterest unternehmen.
Oder man wirft einfach einen kurzen Blick auf seine Pinterest-Boards.
Pinterest, das visuelle Sammelwerkzeug, ein Online-Album für alle möglichen Arten von Bildern, kann man darum interessant finden, weil das Unternehmen schöne Wachstumskurven fabriziert und vor wenigen Wochen mit elf Milliarden Dollar bewertet wurde. Das wäre jedoch die langweilige Variante von interessant.

Etwas Größeres hat Pinterest nämlich bereits geschafft: Mit seiner versetzten Kartenoptik, dem dynamic grid, hat die Webseite einen neuen Layoutstandard gesetzt. Ausgedacht hat sich diese damals neue Webseiten-Fassade Evan Sharp, passenderweise studierter Architekt: Er ist mit schuld am allgegenwärtigen Kachelwesen im Netz. Mit seinem Pinterest-Design hat er nicht nur in optischer Hinsicht verändert, wie und was wir speichern, sammeln, arrangieren: Seine Bilderfliesen können auch dabei helfen, die eigene Welt neu zu ordnen, Dinge anders zu verstehen. Und vielleicht sogar, eine neue Art von Besitz zu entdecken: Wer sagt schließlich, dass man nur seine Musik, Filme und Bücher in der Cloud verstauen kann? Warum nicht auch Vasen, Sofas, kaninchenförmige Pillendosen?

„Ich glaube, es gibt zu viele Dinge auf der Welt“, sagt Evan Sharp. Ein überraschender Satz für jemanden, der eine riesige kollektive Pinnwand gebaut hat, die derzeit mit 50 Milliarden Bildern gespickt ist — so viele Pins wurden seit dem Start der Webseite im März 2010 auf eine Milliarde Boards verteilt. Durchsuchbare Bilder von Dingen, Orten, Ideen, von den Pinterest-Benutzern irgendwo im Netz entdeckt und in die eigene kleine Digital-Höhle geschleppt: Rezepte und Reiseziele, Tapeten, die man ins neue Wohnzimmer kleben könnte, Tattoos, die man sich niemals trauen wird. Bastelideen, Speaker, die man gerne auf einer Konferenz hören würde (oder bitte niemals wieder), den wunderschönen Anzug, das unvernünftige Paar Schuhe, die man sich kaufen würde, wenn der Kontostand anders aussähe.
 

Zwei Drittel davon verweisen auf irgendeine Art von Unternehmen, ein wichtiger Punkt, wenn man mit dem Bilder­album einmal Geld verdienen will. Auch abgesehen von dem wirtschaftlichen Potenzial ist es mehr als eine wirrdigitale Schnipselsammlung: „Pinterest ist ein Archiv. Nicht nur ein persönliches, sondern wahrscheinlich die umfangreichste Sammlung von Dingen, die je zusammengetragen wurde“, sagt Sharp. Ein Archiv für die Welt. Anders als etwa bei Amazon sind hier nicht nur Sachen gesammelt, die man kaufen kann — „Pinterest archiviert all den Stuff, für den sich Menschen genug interessieren, um ihn aufheben zu wollen.“

Nun ist das Internet an sich ja schon eine nimmersatte Sammelmaschine. Ein riesiger Staubsauger mit unendlich großem Sammelbeutel, in dem all die Informationsflusen und Datenmäuse gesichert sind. Pinterest sammelt anders, sagt Sharp, weil der Blick hier in eine andere Richtung gehe: „Mit Facebook konservieren Menschen ihre Vergangenheit: Wo sie waren, was sie erlebt haben. Auf Twitter erzählen sie von der Gegenwart, was gerade passiert. Mit Pinterest schauen sie in die Zukunft: Was sie gerne kaufen oder erleben möchten.“ „A database of intentions“ also, wie das Magazin The Atlantic Pinterest nannte. Und Sharps Vergleiche mit Facebook und Twitter zielen nicht zu hoch: Im vergangenen Jahr schob sich Pinterest auf Platz zwei der größten Traffic­Lieferanten — unter den Social-Media-Seiten schaufelt nur Facebook mehr Besucher auf andere Webangebote. Nach einer Untersuchung der E-Commerce-Firma RichRelevance geben die Pinterest-Benutzer mehr Geld als die anderen aus, wenn sie auf einen gepinnten Gegenstand klicken und ihn zu seiner Verkaufsquelle verfolgen: Wenn dort dann der Kauf zustande kommt, lassen die Pinnerfreunde demnach im Schnitt 140 bis 180 Dollar liegen, Facebook-Traffic 80 Dollar und von Twitter weitergeleitete Besucher 60 Dollar.
Dann also doch rasch ein paar Zahlen. Im Februar 2015 nutzten nach Pinte­rest-Angaben fast 80 Millionen Besucher das visuelle Sammelwerkzeug — 50 Prozent mehr als im Vorjahr.

Dabei laufen 80 Prozent des Traffics inzwischen über die Pinterest-App auf mobilen Geräten. Im März hat Pinterest von seinen Investoren 367 Millionen Dollar frisches Kapital eingesammelt (zu den 764 Millionen Dollar aus früheren Runden). Toby Coppel, Partner bei Mosaic Ventures, hat früh in Pinterest investiert: „Eines der Details, die Pinterest besonders machen: Es war nie eines dieser Silicon-Valley-Social-Media-gehypten Startups“, sagt er. „Ein Großteil ihrer User saß anfangs in Orten wie Oklahoma und Nebraska, mitten in Amerika. Das sind einfach Menschen, die Pinterest als unglaublich praktisches Werkzeug sahen, Dinge und Themen zu sammeln und zu ordnen.“ Auf diese Weise sei das Unternehmen ganz organisch gewachsen und habe eine natürliche
Lücke geschlossen: „Facebook promotete damals seinen Like-Button — aber niemand dachte daran, Dinge nicht nur positiv zu bewerten, sondern sie auch zu speichern und so in Besitz zu nehmen.“ Auch heute speise sich die Userschaft nicht vorrangig aus Silicon-Valley-Tech-Menschen, sagt Coppel: „Neulich habe ich die Nutzerdaten für einige afrikanische Länder gesehen. Das Wachstum dort ist großartig. Pinterest ist wirklich ein globales Phänomen.“  

Ein Archiv für die Welt — in dem nur Dinge landen, für die sich Menschen interessieren


Mit dem neuen Investorengeld wollen Evan Sharp und sein Mitgründer Ben Silbermann das internationale Geschäft weiter ausbauen. Die Zahl der internationalen Nutzer stieg 2014 um mehr als 135 Prozent — genaue Nutzerzahlen nennt Pinterest nicht. Noch passieren 60 Prozent der Pinnereien in den USA. Länderbüros in Tokio, London, Paris, Berlin und São Paulo sollen das internationale Interesse ankurbeln und nicht nur User, sondern auch Firmenkunden gewinnen. Das ist Punkt zwei der Agenda: Geld verdienen. Im vergangenen Sommer hat das Unternehmen in den USA „promoted pins“ eingeführt, Firmen können dafür bezahlen, dass ihre Produkte als Pins im Empfehlungsstream der Benutzer angezeigt werden. Für Unternehmen könnte das eine interessante Werbeform sein, weil sie so nicht nur ihre Marke, sondern einzelne Produkte gezielt bewerben können — mit exakt messbarem Feedback.

Klingt so, als sei Pinterest nicht mehr als ein besonders gut designter Katalog. Tatsächlich gilt für das Sammel-Tool, was für alle guten Webangebote, Seiten, TV-Serien gilt: Es ist immer so clever und so interessant wie sein Benutzer oder seine Benutzerin. Aus jedem Zimmer kann man eine Rumpel- oder eine Wunderkammer machen. Wer die Seite oder die App nur benutzen will, um Bilder und Rezepte besonders gelungener Cupcake-Zuckerhaubenbürzel zu sammeln — kein Problem. Genauso gut funktioniert die Seite als endlos ausziehbarer Hochzeitstisch, auf dem Brautpaare ihre Wunschgeschenke präsentieren oder semipathologisch-penibel Dekorationsdetails festhalten. Allerdings würde man das — auch kulturelle — Potenzial von Pinterest verkennen, würde man dieses visuelle Archiv darauf reduzieren, ein Briefmarkenalbum des Konsums zu sein. „Ein Motor für das Gute“ könnte Pinterest werden, sagt Evan Sharp, ein eigentlich des Esoterischen und der Dampfplauderei unverdächtiger Mensch. Wie das gehen soll? Indem Pinterest unsere Sicht auf die Dinge grundlegend verändert.

Bei allem subjektiv gefühlten Stress: Nie hatten Menschen mehr Zeit als heute, um mit Sachen zu spielen, Neues auszuprobieren, etwas anderes zu machen. Weil die Technologie sich immer mehr um all die schnöden Alltagslasten kümmert. „Es ist viel leichter geworden, seine Steuer­erklärung zu machen, ein Taxi zu rufen, an Nahrungsmittel zu kommen“, sagt Sharp. „Seit 200 Jahren müssen wir immer weniger Zeit dafür aufwenden, als Mensch am Leben zu bleiben. Und haben viel mehr Zeit, kreativ zu sein.“ Das heißt nicht zwingend, dass man jeden Abend nach Dienstschluss noch eine Statue meißeln soll: „Mit Kreativsein meine ich: sich wirklich mit den Dingen beschäftigen, die einen interessieren, die man sich wünscht. Und dabei soll Pinterest helfen.“

Am besten funktioniert das natürlich mit gepinnten Aktivitäten und Projekten – schließlich sammelt Pinterest nicht nur stoffliche Dinge, sondern auch Koch- und Bastelideen, Ausflugsziele, Reisepläne und Museen, die man besuchen will. Wer in Onlineshops gefundene Produkte erst einmal auf Pinterest zwischenparkt, befasst sich länger mit ihnen als der Sofort-Käufer. Und wer sich durch die Pinterest-Boards beliebiger Menschen klickt, erfährt viel darüber, was Menschen im Jahr 2015 diese Extrabeschäftigung wert ist — wie eine informelle, geschmackszentrierte Studie: was sie essen oder lesen möchten, welche Hosen und welche Hobbys sie gut finden, ob sie Dinge selber machen oder lieber fertig kaufen. Und welches Haustier sie gerne hätten.

Matt etwa pikste Pins in weiche Hundeschlappohren. Spießte flauschige Pfoten auf und Stummelschwänzchen, Zottelbären und Borstenschnauzen. So lange füllte Matt Crystal, Head of International bei Pinterest, sein Board mit Bildern von Tierheim-Hunden, die über die Seite petfinder.com vermittelt werden sollen, bis seine in Tierbelangen durchaus wählerische Frau beim Scrollen durch seine vielfelligen Pins hängen blieb.

Kurz darauf zog der Hund auf dem Bild bei den Crystals ein: Charly, ein Beagle-Cocker-Mix. Ein idealer Verlauf, denn neben dem Entdecken pinnenswerter Dinge will Pinterest auch dabei helfen, die gepinnten Vorhaben in die Tat umzusetzen. „We want to get you offline“, sagt Evan Sharp.

Ein Onlineservice, der nach „draußen“ verweist, sich selbst den Stecker ziehen will, das klingt kurios. „Wir wollen die Linie zwischen Träumen und Realität verwischen“, sagt Sharp, und das ist schon wieder ein ziemlich esoterischer Satz für einen klaren, direkten Menschen wie ihn.

„Natürlich können wir niemandem das extrem teure Produkt kaufen, das er sich wünscht, aber wir können jedem so viele Informationen wie möglich geben, damit er versteht, worum es eigentlich geht, was der Kern des Produkts ist.“ Was Pinterest tatsächlich gelungen ist: Die Dinge werden unmittelbarer. Mit zu adop­tierenden Hunden klappt das natürlich noch einfacher als mit neuen Badewannen­vorlegern oder Saftpressen, aber das Prinzip ist dasselbe: Schauen sie einen auf einem Board direkt an, sind sie keine Positionen mehr auf einer Webseite, kein Hyper­link, sondern ein eigenständiges Ding – mit einem Link dahinter.

Manche von ihnen führen auf Pinterest ein Eigenleben, das diese Nabelschnur zur ursprünglichen Mutterseite nicht mehr benötigt. Wenn, zum Beispiel, die ve­getarischen Foodblogger Yannic Schon und Susann Probst (kraut-kopf.de) auf Pinterest nach Inspirationen suchen, genügen ihnen die Fotos, die sie bei der
Suche nach einem bestimmten Gericht angezeigt bekommen. Die Lektüre der eigentlichen Rezepte ist meist gar nicht mehr notwendig — stattdessen verschaffen sie sich anhand der Bilder einen rein visuellen Überblick davon, wie andere Köche das Gericht bereits interpretierten, um sich schließlich zu einer ganz neuen Variante inspirieren zu lassen. Und auch in ihrem Beruf als Hochzeitsfotografen sehen Susann und Yannic oft, wie Pins als Ideeninfusion genutzt werden. Viele ideenarme Weddingplaner sind am Ende ja sogar froh, wenn sie sich den einen oder anderen Last-Minute-Tipp von Pinterest herunterklauen können: Strauß, Tischdeko, womöglich gar die Brautfrisur.
Abgelöste Pins, offline in einen anderen, eigenen Kontext gestellt. Man kann die Dinge auf seinen Pinterest-Kacheln aber auch auf der Seite zwischen den eigenen Boards herumschieben wie Möbel in einem Zimmer. Und man kann neue Verknüpfungen sehen, wenn man den Pinnwänden hinterherklickt, auf denen andere sie ebenfalls gespeichert haben. Ganz schnell gelangt man etwa bei der Sesselsuche über den Barcelona Chair von Mies van der Rohe auf den von ihm eingerichteten Barcelona-Pavillon, von da zu einem Board mit Barcelona-Reisetipps, weiter zu einer Pinnwand voller Tapas-Fotos und dann vielleicht schließlich auf ein Board zu glutenfreier Ernährung.

Man entdeckt unterwegs nicht nur neue Dinge, sondern erlebt auch eine Warenwelt im Konjunktiv. Für alle Sales-verwandten Berufe dürfte Pinnwandhopping unerschöpfliche Inspiration liefern, an welchen Sehnsuchtsstellen die Menschen am besten zu packen seien — alle anderen linsen einfach nur so in die ideal gedachten Leben der anderen: Wie und wer wollen wir sein im Jahr 2015? Pinterest ist auch ein großes Wenn-wir-könnten-wie-wir-wollen-Spiel, eine Präsentation des bestmöglichen Selbst, des theoretisch guten Geschmacks, ohne störende Einschränkungen durch zu kleine Wohnungen, zu magere Konten und zu großen Appetit auf Pizza. Hier finden sie ein Zuhause, die schönen Dinge, die „Trost-Objekte“ und „Sehnsuchtsfloskeln“ des Designs, wie der Kunsthistoriker Walter Grasskamp sagt. „Die Leute kaufen Design-Objekte als Flagge, um zu demonstrieren, welchem sozialen Stamm sie angehören“, sagte Designer Philippe Starck. Auf Pinterest können sie ihre Flagge hissen, ohne sie tatsächlich kaufen zu müssen.

Für Evan Sharp ist Pinterest deshalb auch ein Instrument, um den eigenen Geschmack kennenzulernen. „Wenn man zu jemandem nach Hause kommt und seine Bücher, Möbel, die Bilder an den Wänden anschaut, sagen diese Dinge nicht nur etwas über den Geschmack, sondern auch über Werte aus“, sagt er. „Es zeigt, wer sie sind und wie sie die Welt sehen.“

So könne Pinterest Menschen dabei helfen, ihren eigenen Stil zu finden, indem die Milliarden verfügbaren Pins ihnen überhaupt erst zeigen, was alles möglich ist, sie immer wieder und feiner auswählen lässt — die gesamte Kulturgeschichte zum Anstecken. Nicht jede Selbsterkenntnis muss dabei wahnsinnig tiefgehend sein — vielleicht erfährt man auch nur über sich, dass man überraschenderweise wohl ein Faible für Sichtbeton hat. Aber allein die Erkenntnis, dass die Möglichkeiten der eigenen Lebensgestaltung potenziell tatsächlich unerschöpflich sind, kann durchaus befreiend wirken — zu merken, dass man nicht in dem Habituskäfig gefangen ist, den der Soziologe Pierre Bourdieu in seinem Buch Die feinen Unterschiede aufbaute: Nach seinen Ideen waren Geschmack und Stil nichts, wofür man sich frei entscheiden könnte, sondern durch Erziehung, gesellschaftliche Position und Beruf bestimmt. Eine gruselige Vorstellung. Denn der Geschmack bestimmt mehr als die Form der Stühle, die man sich ins Esszimmer stellt. „Welche Art von Hochzeit man feiern möchte, wie man seine Kinder erziehen will, mit welcher Kunst man sich am liebsten umgibt — das sind nicht nur Stil-, sondern Wertefragen“, sagt Sharp. Schließlich entscheidet man sich nicht nur für eine Möglichkeit, sondern auch gegen eine Vielzahl von anderen.

Pinterest als Räuberleiter, die einen Dinge hinter der Mauer entdecken lässt –auch Investor Toby Coppel glaubt an diese Kraft. „Google versucht, Dinge mithilfe von Suchalgorithmen für dich zu finden, Facebook sucht mithilfe seines sozialen Graphen. Pinterest basiert dagegen auf einem Interesse-Graphen. Das Ganze ist extrem kuratiert“, sagt er. „Es geht darum, Dinge zu entdecken. Nicht wie bei Google, das man benutzt, wenn man genau weiß, wonach man sucht.“

Die Frage „Welches Sofa soll ich kaufen?“ kann kein Computer beantworten. „Aber wir können aus den Millionen erhältlicher Sofas die Modelle heraussuchen, von denen wir glauben, sie könnten zu dir passen“, sagt Sharp. Dann liegt es an jedem, zu bestimmen, was wichtig ist. Und sich zu nehmen, was einem gefällt, um durch das Board, an das man das Sofa pinnt, neue Bezüge zu schaffen. „Unser Datensystem funktioniert so: Wenn Menschen einen Pin speichern, sagen sie uns gleichzeitig, warum sie das tun: mit dem Titel des Boards“, sagt Sharp. Die Etikettierung der Welt – einen Ehrgeiz, den schon der Warenphilosoph Jean Baudrillard hatte: Mit seinem Buch Das System der Dinge plante er, „die unendliche Welt der Gegenstände genauso in Familien und Klassen einzuteilen wie das Pflanzen- und Tierreich“. In diesem sorgfältig sortierten Archiv lassen sich freilich auch Dinge finden, die einem fremd sind oder einen befremden. „Ungefähr so, wie auch eine Bücherei ein gefährlicher Ort sein kann“, sagt Sharp, „aufregend und gefährlich, aber auf eine kraftvolle Art und Weise. Intellektuell gefährlich, das ist gut.“

Und vielleicht kann Pinterest so auch dabei helfen, eine andere Idee davon zu bekommen, Dinge zu besitzen — wie mit den zur quasi stofflosen Cloud verpufften DVDs und CDs. Und wie mit der klassischen Briefmarkensammlung, deren Album man auch nur manchmal hervorholt, in der Gewissheit, dass es sicher verwahrt im Schrank liegt, jederzeit aufblätterbar. Vielleicht lassen sich auch Dinge in ihrer digitalen Variante verwahren. Und man müsste seinen Schrank nicht mit 30 alten Band-Merchandise-Shirts verstopfen, von denen man sich unmöglich trennen kann und die man doch niemals mehr trägt – stattdessen könnte man einfach ein Foto von ihnen ablegen und die stofflichen Shirts entsorgen. Und gleichzeitig ein persönliches Archiv aufbauen, das die Entwicklung des eigenen Geschmacks zeigt.


Eine raum- und ressourcensparende Variante des Besitzes, wie Pinterest längst bis zu einem gewissen Grad auch eine Geld sparende Alternative zum Onlineshopping darstellt. „Fauxumerism“ eben, das Beladen virtueller Einkaufskörbe oder das Bepinnen von Shoppingboards, ohne diese Dinge dann tatsächlich zu kaufen.

Zumindest einen Bruchteil der süßrauschigen Kaufbefriedigung erlebt man dabei trotzdem. Falls Pinterest irgendwann doch den gerüchteweise kolportierten Buy-Button einführen würde — die Möglichkeit also, die Dinge direkt von den eigenen Boards aus auf den zugehörigen Onlineshops einkaufen zu können, ohne deren Seiten zu besuchen — würde das diese spielerische Will-könnte-wollte-Welt deutlich entzaubern.


Noch gibt es diese Pläne nicht, sagt Sharp. Und dann den sehr überraschenden Satz für einen Menschen, der täglich am größten Sachen-Archiv baut: „Ich glaube, es gibt zu viele Dinge in der Welt. Und es wird immer schlimmer. Das ist definitiv nicht gut für die Welt, es zerstört sie, ganz buchstäblich.“ Eine Vision, die er da­rum für Pinterest hat: diese Unmenge von Kram zumindest etwas zu schrumpfen. „Indem wir Leuten helfen, den Wert von Qualität zu verstehen, wie viel mehr Spaß es macht, sich mit Dingen zu umgeben, zu denen man wirklich eine Beziehung hat. Von denen man weiß, warum es sie gibt, wie sie hergestellt wurden. Und dass es bereichernder sein kann, weniger zu haben als einen Haufen billigen Plunder.“

Im idealen Fall, dem bestmöglichen Effekt, den Pinterest erzielen kann, könnte die Seite dann tatsächlich eine „durchaus moralische Kraft für das Gute in der Welt“ sein: „Wenn wir Menschen dabei helfen, Dinge zu entdecken, auf die sie sonst nie gestoßen wären.“ Ein Portal der Möglichkeiten — welche man anpiksen möchte, kann jeder selbst entscheiden.

Yannic und Susann sind Hochzeitsfotografen. „Es gibt unter unseren Kunden kaum eine Braut, die kein Hochzeitsboard hat“, sagt Susann. Das hilft beim Kennenlernen: „Wir begleiten die Paare den ganzen Tag, da muss es auch menschlich passen. Es ist toll, schon vorher zu sehen, was ihnen gefällt.“ Für ihren Foodblog (kraut-kopf.de) sammeln sie auf ihren eigenen Boards inspirierende Essensbilder. „Wir kochen nicht nach Rezept, darum reicht uns der visuelle Eindruck“, sagt Yannic. Ihre beste Pinterest-Entde­ckung: eine handgeschmiedete japanische Pfanne. Die hängt jetzt nicht nur an ihrem Board, sondern auch zu Hause an der Wand.

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