Hinweis zu Affiliate-Links: Alle Produkte werden von der Redaktion unabhängig ausgewählt. Im Falle eines Kaufs des Produkts nach Klick auf den Link erhalten wir ggf. eine Provision.

„Zeit der Entscheidungen“: Was nach der Netzpolitik-Konferenz auf der digitalen Agenda steht

von Sonja Peteranderl
Zombies, Halbzeit im Geheimdienst-Untersuchungsausschuss, neue Machtzentren und Cyber-Außenpolitik: Auf der zweiten Netzpolitik-Konferenz in Berlin wurden die wichtigsten Themen der netzpolitischen Agenda diskutiert.

Von der Linkliste zu Deutschlands bekanntestem Blog mit Landesverräter-Prädikat: Zum 11. Geburtstag hat Netzpolitik.org die zweite „Das ist Netzpolitik”-Konferenz“ veranstaltet. „Unser Leben ist jetzt nicht mehr im Ausnahmezustand“, sagte Netzpolitik.org-Gründer Markus Beckedahl vor kurzem im WIRED-Interview. Jetzt sei es an der Zeit, sich auf die wichtigen netzpolitischen Themen zu konzentrieren. Bei der Konferenz am Freitag in Berlin wurden die wichtigsten Trends rund um Digitalisierung diskutiert.

#1 Weichenstellung: Zahlreiche Gesetzesvorhaben rund um das Internet stehen kurz vor der Implementierung — jetzt entscheidet sich, wie frei das Netz in Zukunft sein wird
Im Herbst wird über mehrere richtungsweisende Gesetzesentwürfe entschieden, etwa über die WLAN-Störerhaftung oder den neuen Anlauf zur Vorratsdatenspeicherung. Einen „Zombie“ nannte Anna Biselli von Netzpolitik.org die nun zur „Mindestspeicherfrist“ umbenannte Vorratsdatenspeicherung: „Immer wenn man denkt, sie ist abgeschafft, kommt sie wieder.“ Auch der NSA-Untersuchungsausschuss, in dem die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit der Geheimdienste bei der Massenüberwachung aufgearbeitet werden soll, geht nach dem Ende der parlamentarischen Sommerpause in dieser Woche in die nächste Runde. Auf europäischer Ebene steht unter anderem der Gesetzesentwurf zur Netzneutralität auf der Agenda. „Die Zeit des Abwartens ist vorbei, jetzt kommt die Zeit der Entscheidungen“, warnte Beckedahl in seiner Eröffnungsrede.


icon_cookie

Um diese Inhalte zu sehen, akzeptieren Sie bitte unsere Cookies.

Cookies verwalten


#2 Neue Machtzentren: Netzpolitik muss globaler werden
Das Internet sei grenzüberschneidend, doch Netzpolitik werde vor allem in Berlin und Brüssel bestimmt, kritisierte Ben Wagner vom Centre for Internet & Human Rights. Seine Forderung: eine internationalere Internetpolitik. „Denkt auch an Machtzentren außerhalb von Berlin und Brüssel“, forderte Wagner. Andere Länder hätten Erfahrungen gemacht, aus denen westliche Digitalaktivisten lernen können — allerdings müssten die Entwicklungen besser erfasst und in Daten aufbereitet werden. „Wenn du etwas nicht zählen kannst, existiert es nicht“, so Wagner.


icon_cookie

Um diese Inhalte zu sehen, akzeptieren Sie bitte unsere Cookies.

Cookies verwalten


Spannende aufstrebende netzpolitische Machtzentren sind für ihn etwa Chile, Sambia oder Pakistan. In Pakistan sei das Internet seit 2012 bereits 24 Mal gesperrt worden — und niemand wisse davon. Dabei könnten die Fallbeispiele von Ländern, die Erfahrung mit Netzsperren oder Angriffen auf die Netzneutralität haben, auch die Debatte im Westen befördern: „Fragt die Leute, die von Internetabschaltungen betroffen sind, welche Lösungen sie für sinnvoll halten”, so Wagner — sie könnten Fixes vorschlagen, an die ihr nicht gedacht hättet.“

#3 Transparenz: Die Ermittlungen gegen Netzpolitik.org wegen Landesverrates wurden gestoppt — nun muss die Aufklärung folgen
Warum wurde Netzpolitik.org des Landesverrates bezichtigt? Wer war verantwortlich für den Angriff? „Die Ermittlungen sind eingestellt, aber viele Fragen sind noch offen“, sagte Markus Beckedahl. Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen sei einer der „Haupttäter“ gewesen, aber er habe Rückendeckung gehabt. Der Netzpolitik-Gründer forderte auch, dass die Ermittlungen gegen die Quellen der Verfassungsschutz-Dokumente eingestellt werden, die Netzpolitik.org veröffentlicht hatte — da es sich weder um Staatsgeheimnisse gehandelt habe, noch der Vorsatz des Landesverrats gegeben sei. Stattdessen brauche Deutschland dringend einen Whistleblower-Schutzgesetz für Quellen, die wichtige gesellschaftliche Missstände aufdecken. „Beim Schutz von Whistleblowern ist Deutschland noch ein Entwicklungsland.“ Beckedahl hofft, dass sich die Praxis, auf Originaldokumente zu verlinken, bei Medien als Standard durchsetzt. Mit mehr Augen und mehr Perspektiven könnten Informationen besser analysiert und eingeordnet werden — „Wir geben gerne die Kontrolle ab und veröffentlichen die Dokumente im Original.“


#4 NSAUA: Der Untersuchungsausschuss zur Aufklärung des Überwachungsskandals ist einzigartig — doch die Arbeit zäh
Halbzeit für den Untersuchungsausschuss: 2253 Aktenordner, mit jeweils bis zu 1000 Papieren müssen die acht Abgeordneten durcharbeiten, die dem im März 2014 eingesetzten Geheimdienst-Ausschuss beisitzen. „Öffentliche Anhörungen sind nur ein Bruchteil der Arbeit, um die Informationen einzuordnen“, so Andre Meister, der für Netzpolitik.org live von den Anhörungen gebloggt hat.


icon_cookie

Um diese Inhalte zu sehen, akzeptieren Sie bitte unsere Cookies.

Cookies verwalten


Die Einrichtung eines deutschen Untersuchungsausschusses zur Geheimdienstüberwachung nach den Enthüllungen von Edward Snowden ist weltweit einzigartig. Trotz Spionageattacken auf beteiligte Abgeordnete und Ausflüchten bei den Anhörungen (Meister: „Es wird extrem viel mit Worten hantiert“) beleuchtet der Ausschuss wichtige Details zur deutsch-amerikanischen Geheimdienstüberwachung. Gravierende Lücken bei der Geheimdienstkontrolle sind offenbar geworden: „Was die Maschine tut, weiß der liebe Gott — und der BND“, zitiert Meister etwa einen Mitarbeiter des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI). Auch der ehemalige Vorsitzende der G10-Kommission bezeichnete die Überwachungsmaßnahmen als „in höchstem Maße unredlich, unverhältnismäßig, das geht so nicht“.


#5 Cyberpolitik: Digitalaktivisten werden noch zu wenig in netzpolitische Entscheidungen einbezogen — doch es gibt einen Annäherungsprozess
Es war auch ein symbolischer Auftritt: Die Rede des Cyberbeauftragten im Auswärtigen Amt, Thomas Fitschen, beim Netzpolitik-Kongress. „Ich finde es sehr nett, dass Herr Beckedahl nach allem, was vorgefallen ist, noch einen Vertreter der Bundesregierung einlädt“, begann Fitschen seinen Talk über die Grundzüge der „Cyberpolitik“ mit einem Friedensangebot. Digitale Themen durchdringend alle politischen Bereiche, doch der politische Koordinationsbedarf ist noch hoch. „Allein im Haus gibt es locker 30 verschiedene Stellen, die für Aspekte von Cyberpolitik zuständig sind“, so Fitschen. „Jetzt soll versucht werden, aus dem Kästchendenken herauszukommen.“


icon_cookie

Um diese Inhalte zu sehen, akzeptieren Sie bitte unsere Cookies.

Cookies verwalten


Obwohl Fitschen seine Offenheit für Vorschläge betonte, werden Digitalexperten in der Praxis noch zu selten in politische Gestaltungs- und Entscheidungsprozesse miteinbezogen. Mehrere Redner beschrieben auch das massive Lobbying bei Netzpolitik wie beim Routerzwang, und von Gesetzesentwürfen, die trotz positiver Verhandlungen hinterher komplett umgeschrieben werden. „Die vage Formulierung von Gesetzentwürfen führt dazu, dass sie man sie sowohl positiv als auch negativ auslegen könnte“, sagte auch Thomas Lohninger, der die komplexen Gesetzesprozesse zur Netzneutralität auf EU-Ebene beschrieb.


icon_cookie

Um diese Inhalte zu sehen, akzeptieren Sie bitte unsere Cookies.

Cookies verwalten


#6 Zensur: Was das Internet ausblendet, beeinflusst unser Denken und unsere Realität
„Hate-Speech und Männer-Nippel sind okay, Brustwarzen von Frauen nicht“, kritisierte Jillian C. York von der amerikanischen NGO Electronic Frontier Foundation (EFF), die sich für Grundrechte im Internetzeitalter einsetzt. Früher seien Körperstellen in Kunstwerken mit einem Feigenblatt versteckt worden — die Netzzensur ist das Feigenblatt des Internets, und radikaler. „Wo ein Feigenblatt gerade mal einen Teil eines Nackt-Kunstwerks abgedeckt hat, lässt moderne, digitale Zensur gleich alle Spuren und bestimmte Kunstformen online verschwinden“, so York. Facebook lösche auch immer wieder Fotos von Frauen, die ihre Kinder stillen und die Fotos. Die Ausblendung bestimmter Inhalte befördert Stereotype und Sexismus. Die Netzwerke wirken als Filterbubble, die die Wahrnehmung der Realität prägen — und Klischees, etwa gegenüber Frauenkörpern, festigen.

#7 Integration: Internet sollte kein Luxus sein, doch auch in Deutschland ist der Zugang zum Netz für viele beschränkt
Der Breitbandausbau stockt, längst nicht alle Menschen sind in Deutschland mit einer schnellen Internetverbindung versorgt. Gerade kleinere Dörfer müssen aus wirtschaftlichen Gründen häufig auf einen Breitbandausbau verzichten. Auch Tausende Flüchtlinge sind offline: Die Initiative Refugees Emancipation will Flüchtlinge mit Internet versorgen und richtet in Unterkünften Internetcafes ein. In Berlin und Brandenburg werden inzwischen acht solcher Internetcafes betrieben — ein ausbaufähiges Projekt. Es könne keine Lösung sein, dass Flüchtlinge mit dem Bus in die nächste Stadt fahren müssen, um kostenlos im nächsten McDonalds zu surfen, so Daniel Krüger. „Internet ist kein Luxus, Internet ist ein Menschenrecht.“


GQ Empfiehlt