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WIRED testet Europas größtes VR-Game: Virtuelle Realität auf 250 Quadratmetern

von Dominik Bardow
In den meisten Wohnzimmern sind Virtual-Reality-Games noch nicht angekommen: teure Hardware, kaum Bewegungsfreiheit, kein Wow-Effekt. Bei Golem VR ist das anders. Für 18 Euro können Gamer eine Runde im Prag des 16. Jahrhunderts spielen – auf 250 Quadratmetern. Dominik Bardow hat Europas größtes VR-Game für WIRED getestet.

Das verdammte Huhn hält nicht still. Es ist zwar nicht echt. Aber dafür ziemlich schnell. Gebückt laufend versuche ich, es in einen Stall zu treiben. Rechts und links neben mir jagen zwei Astronauten mit. Ein Schmied hämmert auf einen Amboss, er beachtet uns gar nicht. Eine frische Brise weht hinüber von der hölzernen Karlsbrücke, die im 16. Jahrhundert bereits das Wahrzeichen Prags ist. Mir läuft Schweiß über die Stirn, die Brille beschlägt. Ich setze sie ab.

Und stehe auf einmal in einem leeren Raum. Die Hühner sind weg, der Stall ist nur noch eine schwarze Wand. Meine Mitspieler tragen keine Astronautenanzüge mehr, dafür kastenartige Brillen und Rucksäcke. Sie stolpern herum und greifen ins Nichts.

Willkommen bei Golem VR, dem größten Virtual-Reality-Spiel Europas. Auf 250 Quadratmetern kann man hier, mitten in Prag, eine Zeitreise ins Mittelalter unternehmen. Es ist eine Mischung aus interaktivem Film, Stadtrundgang und Escape-the-Room-Spiel. Auf einem Parcours, in dem echte Wände und Schalter den Spielern das Gefühl geben, die virtuelle Welt anfassen zu können. Vergleichbare Touren durch die Virtuelle Realität (VR) werden derzeit nur in New York, Dubai und Tokio angeboten. Ist diese Mischung aus falschen Bildern und echter Umgebung die Zukunft des VR-Gaming? WIRED hat das in Prag überprüft. Also im echten Prag. Und im virtuellen.

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Virtual Reality, die sich berühren und begehen lässt

Bislang lässt der lange vorausgesagte Boom von VR-Spielen ja etwas auf sich warten. Die bekanntesten Brillengestelle wie PlayStation VR, Oculus Rift oder HTC Vive kosten immer noch bis zu 1.000 Euro. Zusätzlich benötigt man einen rechenstarken PC oder eine teure Spielekonsole, um sich anzustöpseln. Die meisten Menschen haben das schwer mit Worten zu erklärende VR-Erlebnis deshalb noch nie ausprobiert. Und wer es probiert, ist nachher oft enttäuscht, wie unwirklich sich die virtuelle Welt anfühlt. Sie lässt sich nicht begehen oder berühren. Auch deshalb löst sie bei manchen Spielern Schwindel im Gehirn aus. Ein VR-Game mit frei begeh- und berührbarer Spielfläche könnte das womöglich ändern.

Ein Spielwarenladen in der Prager Fußgängerzone. Von außen deutet nichts darauf hin, dass sich hier, im Keller des Kaufhauses Hamleys, die Zukunft des VR-Gaming befinden soll. Außer: einem riesigen Golem. Das vier Meter große Styropor-Monster blickt einem mit leuchtend roten Augen entgegen, wenn man Hamleys betritt. Die britische Spielwarenkette ist Kooperationspartner von VR Golem und hat den Spieleentwicklern von DIVR Labs die Räumlichkeiten im Untergeschoss zur Verfügung gestellt: links am Karussell vorbei, die Rolltreppe hinunter.

Im Keller wartet Ondrej Bach, der Gründer von DIVR Labs. Die tschechische Spieleschmiede hat bereits mehrere Mobile-Games und 2016 das VR-Spiel Blue Effect veröffentlicht. „Aber was uns gefehlt hat, war die Bewegungsfreiheit“, sagt Bach. Im Büro oder im Wohnzimmer ließen sich die Möglichkeiten der Technik gar nicht erleben. Zudem ist der Markt für VR-Spiele im Heimgebrauch immer noch klein. Kleiner jedenfalls als der Markt für Touristenattraktionen.

Also beschloss seine Firma, zusammen mit mehreren einheimischen Investoren, ein ortsgebundenes VR-Spiel zu entwickeln, eine Location-based Virtual Reality (LBVR). „Dafür bot sich die Legende vom Golem an, die sowohl Tschechen als auch Touristen kennen“, sagt Bach. Wer die Legende nicht kennt: Im 16. Jahrhundert soll ein Prager Rabbi ein Lehmmonster zum Leben erweckt haben, den Golem.

VR-Zeitreise für 18 Euro

Inspiriert wurden die Tschechen von Vorbildern aus den USA und Asien: In New York oder Dubai können Spieler durch die Filmwelten von Ghostbusters und Star Wars laufen, in Tokio lassen sich mit echten Plastikpistolen in der Hand virtuelle Zombies abballern. Während das in New York – im Kombiticket mit Madame Tussaud's – gut 60 US-Dollar kostet, lässt sich VR Golem in Tschechien schon für umgerechnet 18 Euro ausprobieren. Seit der Eröffnung im Mai 2018 waren bereits 10.000 Besucher da.

Der Vorraum von VR Golem sieht aus wie die Umkleidekabine in den Ghostbusters-Filmen. An Haken hängen Rucksäcke, in denen XMG-Laptops stecken. Daran angeschlossen sind Oculus-Rift-Brillen sowie Headsets mit Kopfhörer und Mikrofon. Damit die Spieler miteinander reden können. Über die Überwachungskamera sehe ich, wie eine Mutter mit zwei Kindern schon durch das unterirdische Labyrinth läuft. Ihr kleiner Junge tollt mit Brille herum, er jagt wohl virtuelle Hühner. Bis er gegen eine Wand läuft. Denn die ist echt. Er rappelt sich wieder auf und läuft weiter.

Ich ziehe meine Ausrüstung an. Sie ist schwer, der Rucksack wiegt ungefähr vier Kilogramm, die Brille einige Hundert Gramm. Ich stelle mich vor eine von 80 Optitrack-Kameras, die mich einscannt und meine Bewegungen erfasst. Und plötzlich stehe ich in einer Art Labor. Um mich herum Wissenschaftler. Wenn ich den Kopf bewege, wirkt alles etwas unscharf, wie bei einer Lesebrille mit der falschen Stärke. Augen und Gehirn müssen sich erst an die virtuellen Umrisse und Bewegungen gewöhnen. Langsam sehe ich schärfer.

Meine eigenen Hände schweben als schwarze Handschuhe vor mir. Doch wenn ich an mir herunterschaue, ist der Rest meines Körpers Luft. Ich soll auf einen roten Knopf drücken, für den es ein echtes Gegenstück in der Realität gibt. Er rastet ein, eine Tür geht auf. Ich trete in einen Aufzug, der nach unten fährt. „Glauben Sie, er bewegt sich wirklich?“, fragt DIVR-Chef Bach über Funk. „Schwer zu sagen“, antworte ich. „Ja?“ Nein, der Raum bewegt sich nicht.

Es fühlt sich unrealistisch realistisch an.

Dominik Bardow, WIRED

Dann öffnet sich ein Zeitreise-Portal, ich gehe hindurch und stehe im Prag des 16. Jahrhunderts. Es fühlt sich unrealistisch realistisch an. Weiße Wolken ziehen über den Himmel, Fliegen schwirren um mich herum. Die Mauern um mich herum sind fest, wenn ich sie anfasse. Ich beuge mich durch ein offenes Fenster in eine Kneipe und Männer mit Bierkrügen zischen mich an, ich solle mich verziehen. Dann gibt mir mein Reiseführer – eine schwebende Kugel mit Auge – zu verstehen, ich solle die Hühner in den Stall treiben, damit der Bauer mir die nächste Tür öffnet.

So geht es immer weiter. Die Kugel erzählt mir, welche Rätsel ich lösen und welche Aufgaben ich erfüllen soll, damit es weitergeht. Der Rabbi erzählt mir, wie ich ihm helfen kann, den Golem zum Leben zu erwecken. Sie alle drücken aufs Tempo, denn hinter mir kommt bereits die nächste Gruppe durch das Labyrinth. Pro Stunde können und müssen 50 Spieler hindurch, damit das Spiel sich wirtschaftlich trägt.

Bei Golem VR braucht der Spieler keinen Joystick

Dabei würde ich am liebsten einfach nur diese Welt erkunden. Ich betaste Wände und Geländer. Schleiche durch Friedhöfe und Kirchen. Scheuche Spinnen von der Wand und Fledermäuse aus Dachgiebeln. Sehe mir atemberaubende Sonnenaufgänge an, fast zu schön um wahr zu sein.

Auch in Deutschland gibt es mittlerweile Escape-the-Room-Spiele, die mit VR-Brillen arbeiten. Allerdings ist die Bewegungsfreiheit dort eingeschränkt. Bei EXIT VR in Berlin etwa ist die Spielfläche 25 Quadratmeter groß, zehnmal kleiner als in Prag, und statt mit den eigenen Händen zu tasten, halten die Spieler Joysticks in der Hand. In Golem VR kann ich fast alles anfassen. Ich trete auf einen Balkon, greife das Geländer, betrachte die Karlsbrücke und spüre den Windhauch, der von der Moldau herüberweht. In Wirklichkeit stehen vor mir Ventilatoren.

Sie sagen, ich soll einfach durch die Wand gehen.

Dominik Bardow, WIRED

Doch als ich auf den Boden blicke, springen die Holzbalken unter mir plötzlich zurück. Auf einmal stehe ich über dem Abgrund. Aber ich falle nicht. An den Rändern und Wänden des Labyrinths funktioniert das Tracking durch die Kameras nicht mehr reibungslos. Ziemlich verwirrend für das Gehirn. Jede noch so kleine Verzögerung löst einen leichten Schwindel bei mir aus. Manchmal dreht sich rechts vor mir eine kleine Sanduhr.

Das Spiel steckt noch in der Entwicklung. Fast jede Woche führen die Entwickler ein kleines Update durch. Ich spiele gerade eine Beta-Version, in der ich Laserstrahlen aus meinen Händen schießen kann. Aber noch nicht alles funktioniert. Als ich einen Code auf einer riesigen Tastatur eingebe, geht die Tür nicht auf. Entwickler laufen aufgeregt um mich herum. Ich kann sie nur sehen, wenn ich die Brille abnehme. Sie sagen, ich soll einfach durch die Wand gehen. Ein seltsames Gefühl, denn die Wand wirkt sehr echt. Wenn ich jetzt noch riechen und Erschütterungen spüren könnte, wäre das Spiel wirklich schwer von der Realität zu unterscheiden.

25 Minuten VR-Game, zwei Stunden Motion Sickness

Als ich das Spiel verlasse und die Brille abnehme, habe ich einen Kulturschock rückwärts. Ich muss mich erst wieder an die Wirklichkeit gewöhnen. Ich fasse meinen Mitspieler an den Arm, ob er auch wirklich da ist. Ich habe Probleme, Umrisse, Bewegungen und Entfernungen abzuschätzen, als hätte ich in einer Prager Kneipe zu viel Becherovka getrunken. Motion Sickness, Bewegungsstörung, nennt man diesen unerwünschten Nebeneffekt von VR-Brillen. Bei einigen Menschen ist er stärker als bei anderen. Ich fühle mich noch zwei Stunden nach dem Spiel leicht benommen. VR Golem dauert insgesamt 25 Minuten, aber es kommt einem vor als wären es nur zehn Minuten gewesen. Viel länger kann das Spiel ohnehin nicht dauern. Denn die Akkus halten nur 40 Minuten und nach 30 Minuten nimmt die Motion Sickness laut Studien zu. Was sie bei Kleinkindern auslöst, ist bis heute nicht genau erforscht.

Und dennoch will ein Teil von mir gleich wieder zurück in diese andere Welt. In Filmen wie Steven Spielbergs Ready Player One wird die virtuelle Realität irgendwann attraktiver als die echte. Das wirkt für mich nun weniger wie Science-Fiction.

Die DIVR-Entwickler erfüllen meinen Wunsch. Sie zeigen mir einen Prototyp für ein weiteres Spiel, das eher für Firmenevents und Teambuilding geeignet ist. Die Spieler können sich ziemlich frei mit einer brennenden Fackel durch eine Höhle bewegen, in denen riesige Spinnen lauern. Noch bewegen sich die Viecher nicht, zum Glück, es sind wie gesagt nur Prototypen. Ich kann auch noch durch einige Wände gehen und über Abgründe laufen. Auf einmal wirkt die virtuelle Realität deutlich weniger echt. Der Mensch braucht scheinbar Widerstände und Grenzen, um die Wirklichkeit als wirklich zu akzeptieren.

Oh Gott, ein Spinnenbein!

Dominik Bardow, WIRED

Wo liegen die Grenzen für die virtuelle Realität? „Nur in der Technik“, sagt DIVR-Chef Bach. Bessere Grafik und Spiele, mehr Rechen- und Akkuleistung, weniger Bewegungsstörungen und günstigere Preise können die VR-Brillen insgesamt populärer machen. Bis dahin zeigen Spiele wie VR Golem, was heute schon möglich ist. Oh Gott, ein Spinnenbein! Die Viecher bewegen sich doch. Habe ich mich erschreckt. Wirklich.

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