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Sex könnte im Jahr 2029 „unproblematischer“ sein als heute – und eine Kunstform

von Cindy Michel
Seit es Menschen gibt, haben sie Sex. Spoiler: Das wird auch im Jahr 2029 so sein. Trotzdem wird er anders sein als heute. Denn Technologie und Sex verschmelzen immer mehr. Wo diese Entwicklung hinführen könnte, warum Sex mit Robotern nie „das echte Ding“ ersetzen kann und weshalb Millennials um ihre soziale Intelligenz bangen müssen, erklärt Erotikforscherin Mal Harrison im Interview für WIRED2029.

„Seit Millionen von Jahren haben Menschen Sex. Ich bin zuversichtlich, dass Technologie daran nichts ändern wird“, sagt Mal Harrison. „Was sich aber ändern wird, ist die Art und Weise und mit wem wir Sex haben.“ Die Amerikanerin ist Gründerin des Center of Erotic Intelligence sowie Speakerin beim Tech Open Air Berlin. In ihren Forschungen beschäftigt sich die verheiratete Frau unter anderem mit Sexualpraktiken – mit und ohne Roboter –, Feminismus, Gleichberechtigung sowie Gadgets, die es noch zu erfinden gilt.

Ein weiterer Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die erotische Intelligenz. Harrison definiert diese als Zusammenspiel von extremen Körper- und Selbstbewusstsein, kreativem Vorstellungsvermögen und sozialer wie emotionaler Intelligenz. „Und genau daran müssen wir arbeiten. Jetzt und in zehn Jahren“, so die Akademikerin. Warum und wie sie sich den Sex der Zukunft vorstellt, erklärt sie im Gespräch mit WIRED.

WIRED: Stell dir vor, es ist das Jahr 2029 und du hast Sex. Wie ist er?
Mal Harrison
: Leidenschaftlich. Geil. Und im besten Falle sehr viel unproblematischer als heutzutage.

WIRED: Was genau meinst du mit unproblematischer?
Harrison: In zehn Jahren müssen wir keine Angst mehr vor ungewollten Schwangerschaften oder sexuell übertragbaren Krankheiten haben. Diese Dinge sollten Technologie und Medizin bis dahin in den Griff bekommen haben.

WIRED: Das klingt nach freier Liebe ohne Reue ...
Harrison: So sollte es sein. Das Liebesspiel wird auch nicht mehr so negativ aufgeladen sein wie heutzutage, oder belastet von gesellschaftlich geprägten Moralvorstellungen und Scham. Sex wird zum Vergnügen ohne Stigma, er dient zur Selbstentfaltung und Selbstentdeckung. Ich hoffe, dass Sex in der Zukunft zur Kunstform wird und nicht dieses dreckige kleine Ding bleibt, das wir eben tun.

Ich hoffe, dass Sex zur Kunstform wird und nicht dieses dreckige kleine Ding bleibt, das wir eben tun.

Mal Harrison

WIRED: Wie wird Technologie unser sexuelles Leben in Zukunft prägen?
Harrison: Sex-Tech wird sowohl Gutes, als auch nicht so Gutes auf beiden Seiten des Spektrums ermöglichen. Die Technologie kann Menschen helfen, die schüchtern, unsicher, angstvoll, körperlich oder geistig beeinträchtigt sind. Auch Menschen, die sich gerade von einem Trauma erholen, kann Sex-Tech bei ihrer Genesung unterstützen. Doch abgesehen davon ist die Art der Intimität, die Technologie ermöglicht, meist oberflächlich.

WIRED: Virtual Reality wird bei Sex-Therapien oder auch im pädagogischen Bereich eingesetzt. Wird sich die Technologie auch für den puren Spaß in unseren Betten durchsetzen?
Harrison: Wenn sie Headsets erfinden, die nicht so sperrig sind, dann vielleicht. Ernsthaft: Grundsätzlich ist Sex in der VR eine sehr spaßige Sache, aber wenn man mit ganz normalen Person sprechen würde und sie fragt, ob sie VR Sex oder Sex mit richtigen Menschen bevorzugen würden, würden sich die meisten für das Original entscheiden.

WIRED: Fehlt auch hier eine tiefe, wahre Intimität?
Harrison: Für manche reicht diese gerade so aus, aber für andere wird sie nie genug sein. Zumindest wird diese Intimität nie das echte Ding ersetzten können. Ich nenne das gerne „gefälschte Verbindung“ (counterfeit connection).

WIRED: Also werden Menschen auch in der Zukunft noch Sex ohne Tech haben?
Harrison
: Natürlich. Einige werden den übermäßigen Tech-Konsum in allen Lebenslagen kritisch hinterfragen. So werden sich kleine Gemeinschaften bilden, in denen Menschen ihre direkte Verbindung zueinander und ihre Kreativität miteinander entdecken werden. Das wiederum wird zu einem tieferen Bewusstsein von sich selbst führen und so zu einer innigeren Erotik.

Wir werden uns weniger zu riesigen Brüste und Penissen hingezogen fühlen, sondern zu Menschen, die uns auf kreativer Ebene berühren und uns Sinn im Leben geben.

Mal Harrison

WIRED: Was genau bedeutet das?
Harrison: Wir werden uns weniger zu riesigen Brüste und Penissen hingezogen fühlen, sondern zu Menschen, die uns auf kreativer Ebene berühren und uns Sinn im Leben geben.

WIRED: Hast du Angst vor dem, was Sex im Zusammenspiel mit Tech bringen könnte?
Harrison
: Auf gar keinen Fall. Ich fürchte mich nicht vor der Vereinigung von Sex und Tech und wohin diese Verbindung führen mag. Denn Menschen haben schon seit über vier Millionen Jahren Sex – und die Technologie wird daran nichts ändern.

WIRED: Bisher gab es auch keine Roboter. Was, wenn Sex mit KI in zehn Jahren völlig normal ist?
Harrison
: Ich glaube nicht, dass Sex mit KI-Robotern in zehn Jahren schon verbreitet sein wird – dafür sind sie noch viel zu teuer. Und selbst wenn, sie erschwinglich werden würden, würden die meisten Menschen doch eine Person aus Fleisch und Blut bevorzugen. Was ich mir aber gut vorstellen kann, ist, dass diese Roboter zu einem gefragten Sexspielzeug werden. Wie einen Vibrator könnten Singles, Pärchen oder auch Gruppen – je nachdem auf was man steht – den Roboter hin und wieder ins Liebesspiel miteinbeziehen.

WIRED: Du glaubst also nicht, dass 2029 verliebte Menschen Hand in Hand mit ihren Roboter-Lovern zum Stadtbild gehören werden?
Harrison: Ich bin mir sicher, dass sich einige Leute in KI-Roboter verlieben werden, das ist ja heute schon der Fall. Ein großer Teil der Gleichung ist natürlich die Anziehung der Projektion. Zumindest mit einer Puppe ist das so. Viele haben ja einen Wunschmenschen, den sie in der Puppe sehen. Wenn sie also das Narrativ dieser Person in die Puppe projizieren und dazu noch, was dieser Mensch für sie bedeutet, dann kann es gut sein, dass manche mit der Puppe in ihrer eigenen kleinen Täuschungswelt lange glücklich sind.

WIRED: Ein Ausflug in das Jahr 2018: Sex wird immer weniger zum Tabuthema und Bio-Tech macht riesige Fortschritte – und trotzdem werden weniger Kinder geboren, die USA vermeldeten erst in diesem Jahr ein historisches Tief. Woran könnte das liegen?
Harrison: Ja, es ist schon irgendwie ironisch, von Japan bis Finnland sinkt die Geburtenrate. Das könnte unter anderem damit zu tun haben, dass Millennials so ganz andere Beziehungen führen wie wir. Früher war Sex eine Art Bestätigung. Heute holt man sich Bestätigung nicht mehr durch Intimität, sondern durch Likes auf Instagram-Posts.

WIRED: Was macht das in sexueller Hinsicht mit Millennials? Wie ticken die in zehn Jahren?
Harrison
: Schlimm wäre, wenn sie zu einer Generation werden würden, die Angst vor Intimität und tiefen Verbindungen hat. So sehr sogar, dass sie aus Furcht ihre soziale Kompetenz, die man bräuchte, um in einer gesunden Beziehung zu leben, verdrängt und vergisst.

Zukünftige Generationen werden feststellen, welche negativen Effekte Technologie haben kann.

Mal Harrison

WIRED: Ihre soziale Intelligenz würde leiden?
Harrison
: Ja. Und wenn die soziale Intelligenz abnimmt, werden die Menschen weniger Verständnis, Mitgefühl und Empathie füreinander haben. Diese Entwicklung würde aber nicht im Schlafzimmer bleiben, sondern hätte großen Einfluss darauf, wie wir im Alltag miteinander umgehen, egal ob in der U-Bahn oder am Arbeitsplatz.

WIRED: Das hört sich jetzt doch ziemlich pessimistisch an.
Harrison: Nein, das wird nicht für immer und ewig so bleiben. Zukünftige Generationen werden feststellen, welche negativen Effekte Technologie haben kann, diese dann vermeiden und die positiven Aspekte nutzen. Außerdem werden sie bewusster über höhere soziale und emotionale Intelligenz reflektieren und an ihrer erotischen Intelligenz arbeiten – und so werden die zukünftigen Generationen nicht nur besser im Bett sein, sondern auch bessere Bürger der Menschlichkeit (Citizens Of Humanity).

WIRED: Dann wird die Menschheit auch kein Problem mehr mit LGBTQI-Themen haben?
Harrison
: Davon gehe ich aus. Wir werden dann hoffentlich keine Babypartys mehr in Rosa oder Blau schmeißen, nur um das Geschlecht des Kindes zu verraten. Viel mehr werden wir endlich anfangen zu verstehen, wie fließend oder fluide Geschlecht eigentlich ist. Und wenn wir das begriffen haben, werden wir es wertschätzen und respektieren.

WIRED: Könnte man dann nicht gänzlich auf Labels verzichten?
Harrison
: LGBTQI-Themen betreffend dienen diese Labels auch heute, im Jahr 2018, noch als Identifizierung. Erst durch diese Etikettierung konnten Communities geschaffen werden, in denen Menschen sich finden und die Kraft haben, vor dem Gesetz und der Gesellschaft für Gleichstellung zu kämpfen. Doch je höher wir uns entwickeln und erotisch intelligenter wir werden, desto fluider wird auch die Welt um uns herum. Sie wird zu einem Ort, an dem wir uns von den Person angezogen fühlen, die uns eben anziehen – völlig egal welches Geschlecht. So werden Labels und Identität immer unwichtiger.

Alle Artikel des WIRED2029-Specials, die vom 12. bis 19.12.2018 erscheinen werden, findet ihr hier.

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