Hinweis zu Affiliate-Links: Alle Produkte werden von der Redaktion unabhängig ausgewählt. Im Falle eines Kaufs des Produkts nach Klick auf den Link erhalten wir ggf. eine Provision.

Wir müssen der digitalen Jugend zuhören

von Johnny Haeusler
Mit der TINCON haben Tanja Haeusler und ihr Mann vor vier Jahren eine Art re:publica für Jugendliche ins Leben gerufen, also eine Gesellschaftskonferenz mit digitalem Schwerpunkt, ausschließlich für Teenager zwischen 13 und 21 Jahren. Da Johnny Haeusler auch Kolumnen für uns schreibt, haben wir ihn gebeten, seine Eindrücke dieser Generation wiederzugeben, die eine Welt ohne digitale Dauervernetzung nicht kennt.

Dreimal in Berlin und einmal in Hamburg haben wir die TINCON bisher durchgeführt, die letzte Ausgabe des Wochenendes vom 8. bis 10. Juni im Berliner Columbia liegt gerade hinter uns.

Der inspirationsgebende Hintergrund des Events war und ist die Erkenntnis, dass sich die Nutzung digitaler Medien bei Jugendlichen massiv von der digitalen Erwachsenenwelt unterscheidet. Und dass es immer noch zu wenig Raum für diese Jugendlichen gibt, sich auszutauschen, zu vernetzen und ihre Lebenswelt zu diskutieren. Um nicht an den wirklichen Themen der Teenager vorbei zu arbeiten, binden wir von Beginn an junge Menschen in das Projekt ein, entwickeln mit ihnen ein Programm nach ihren Vorstellungen und treffen nur wenige inhaltliche Entscheidungen ohne sie.

Schnell haben wir dabei gelernt, dass die jungen Helferinnen (im Gegensatz zu einigen Erwachsenen, mit denen wir arbeiten), einerseits unglaublich schnell mit Online-Planungswerkzeugen zurechtkommen, es andererseits aber auch gerne mal an Kommunikationskonsistenz missen lassen.

Das Schreiben von Emails kann man sich beispielsweise in vielen Fällen sparen. Es wird eh nur mittels WhatsApp und anderen Messengern bis hin zur Nachrichtenfunktion von Instagram kommuniziert – durchaus eine Herausforderung für unser Team, denn die saubere Organisation der Kommunikation bleibt dabei auf der Strecke. Fotos werden in einigen Messengern zum Beispiel komprimiert. Die spätere Nachvollziehbarkeit von Diskussionssträngen oder Terminfindungen werden zum Problem, wenn auf Mails in WhatsApp oder im Facebook-Messenger geantwortet wird, was wiederum andere Beteiligte nicht mitbekommen. Aber dafür hat die gesamte Kommunikation mit jungen Menschen – wenn sie dann mal läuft – ein hohes Tempo, das man sich von Agenturen oder anderen Organisationen oft nur wünschen kann.

Und schließlich sind es junge Leute, die Willens sind, dazu zu lernen und die uns auch aus diesem Grund unterstützen: Um zu lernen.

Und diese Unterstützung brauchen wir unbedingt, ganz besonders in inhaltlicher Hinsicht. Denn obwohl Großteile unseres Teams auch noch unter 30 Jahre alt sind, würden wir an der jungen Zielgruppe vorbei kuratieren, hätten wir nicht die Beratung der viel jüngeren Menschen.

Die Arbeit an der Programm-Kuration einer TINCON beginnt daher jedes Jahr mit einem großen Workshop, in dem rund 30 Teenager mögliche Hauptthemen entwickeln und ihre Wunschgäste nennen. Neben den offensichtlicheren Themen wie dem Umgang mit Mobbing oder Hass in sozialen Netzwerken, DIY-Workshops rund um 3D-Druck und andere Technologien oder Programmiersessions entstehen in diesen Workshops eben auch jedes Mal Themenbereiche, die uns als Team überraschen und auf positive Weise herausfordern.

In diesem Jahr war eines dieser Themen „Mental Health“, also die psychische Gesundheit junger Menschen. Ganz offensichtlich, so unsere Erkenntnis aus dem Workshop und vielen Gesprächen, beschäftigt dieses Thema mehr Jugendliche, als uns bisher bewusst war. Depressionen, Angstzustände, sich selbst „ritzen“ … wenn 15jährigen diese Phänomene teils aus eigener Erfahrung, teils aus Erzählungen bekannt sind und am Herzen liegen, dann reagieren wir als Kurationsteam darauf.

So entwickelten wir als Programmpunkte unter anderem Formate mit dem Journalisten Dom Schott, der seine Erkenntnisse über Selbsthilfegruppen in Gaming-Communities in einem Talk während der TINCON thematisieren wollte (Dom musste für Berlin aus Krankheitsgründen absagen, er wird am 19. September bei der TINCON in Hamburg dabei sein). Außerdem sprachen die YouTube-Heldinnen und -Helden coldmirror, Liberiarium und KostasKind vor hunderten jungen Gästen über ihre eigenen Erfahrungen mit psychischen Problemen und über die Frage, ob und wie Fankultur – zum Beispiel im Fall von Harry Potter – bei der Bewältigung helfen kann.

Und als JustNate und die Moderatorin des Kanals „Auf Klo“, Maria Popov, mit den Teenagern über Depressionen ins Gespräch kamen, hörte unser Team schwer beeindruckt und oft tief bewegt zu. Denn die schiere Menge an Anwesenden, die mit unglaublicher Offenheit von ihren eigenen Therapie- und Krankheitserfahrungen berichtete, zeigte, dass unsere jungen Beraterinnen und Berater mit ihren Themenvorschlägen genau richtig lagen: Das Thema beschäftigt sehr, sehr viele Jugendliche, die noch viel mehr Hilfe brauchen.

Zudem muss die Debatte geführt werden über die Ursachen für psychische Erkrankungen nicht nur bei jungen Menschen, und auch über die Zusammenhänge mit ihrer (eben auch digitalen) Lebenswelt.

Dabei sollte sehr vorsichtig mit vorschnellen Vermutungen umgegangen werden, die da heißen könnten: Das Digitale stürzt junge Menschen in die Krise. Bestimmt hat das digitale Dauerfeuer und der Jahrmarkt der Online-Eitelkeiten sehr viel Einfluss auf Jugendliche, die sich in sehr vielen Fällen auch sehr darüber bewusst sind. Doch wer sich Zeit nimmt und zuhört, erkennt schnell, dass dieses Digitale eben oft auch Teil von Lösungen und Hilfe ist, und vor allem, dass sich die Lebenswelten der jungen Generation nicht nur durch die digitale Vernetzung, sondern auch in vielen nicht-digitalen Dingen in den letzten Jahren und Jahrzehnten massiv verändert hat. Schulischer Druck, gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, ganz klassische Medien und auch politische Zustände spielen eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von jungen Menschen, die als demographische Minderheit um ihren gesellschaftlichen Platz, ihren Einfluss und um Aufmerksamkeit mehr und härter denn je kämpfen müssen.

Nach der dritten Berliner Ausgabe der TINCON bin ich zumindest sicher, dass die Dauerthese „Das Smartphone ist schuld“ in vielen Fällen nur der Faulheit von Erwachsenen entspringt. Und dass der aktuellen jungen Generation noch sehr viel mehr Gehör verschafft werden muss. Denn sie hat viel zu sagen.

GQ Empfiehlt