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Kryptofans arbeiten an einer neuen Gesellschaftsordnung

von Sonja Peteranderl
Einige Hundert Hacker und IT-Experten haben kürzlich in Prag diskutiert, wie sich die Welt durch Kryptografie verändern lässt: Der Hackerspace Paralelní Polis will eine dezentrale Gesellschaft, die immun gegen Staatsgewalt ist. Die WIRED-Reporterin war mit dabei.

Dieser Artikel erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe des WIRED Magazins im September 2017. Wenn ihr die Ersten sein wollt, die einen WIRED-Artikel lesen, bevor er online geht: Hier könnt ihr das WIRED Magazin testen.

Die Maske nimmt Smuggler nur zum Rauchen ab. Der Hüne trägt schwarzes Basecap, Sonnenbrille, schwarzen Hoodie: sein Undercover-Outfit für den Prager Hackerkongress, das ihn zum meistfotografierten Promi macht. „Ich habe ein Problem mit Facebook und dem ganzen Scheiß, ich mag mein Privat­leben“, sagt der Berliner Hacker. „Die Maske erlaubt es mir, freier zu sein, meine Meinung zu äußern, ohne dass sie mit meinem Gesicht verbunden ist.“ Smuggler will auch gesellschaftliche Freiräume, herausfinden, wie sich soziale Systeme ohne Gewaltmonopol aufbauen lassen – mithilfe von Kryptografie.

Wie jedes Jahr diskutieren 600 Hacker und IT-Experten im Oktober 2017 in Prag, wie sich die Welt durch Kryptografie verändern lässt: Der Hackerspace Paralelní Polis ist Keimzelle für eine neue Welle der Krypto­anarchie. Ihr kleinster gemeinsamer Nenner ist der Glaube an Freiheit und eine durch Tools wie Verschlüsselung, Krypto­währung oder dezentrale Wirtschaft ermöglichte Form des Zusammenlebens. Die Hacker wollen selbstbestimmt wirtschaften und experimentieren – abgeschirmt vom Zugriff durch den Staat.

Ihr Verhältnis zum Staat und zum Rest der Gesellschaft ist divers: Manche wollen Staaten durch ihr Alternativsystem implodieren lassen, andere finden es sinnvoll, wenn die Regierung weiter Aufgaben wie den Straßenbau übernimmt. Es gibt die, die über Konsequenzen für Abgehängte nachdenken, und Egoisten, deren einziger Maßstab das eigene Glück und die eigene Community ist. Veränderung beginne beim Individuum, so Hacker Juraj Bednár: „Du hasst Steuern? Zieh in eine Steueroase um! Du magst öffentliche Schulen nicht? Nimm dein Kind aus der Schule! Du willst das Bankgeheimnis? Kryptowährung! Du stehst nicht auf traditionelle Beziehungen? Erfinde dein eigenes Modell!“

Ohne Künstler wären Kryptoanarchisten Geeks geblieben, isoliert und vom Rest der Gesellschaft ignoriert.

Pavol Lupták

1988 hatte der US-Entwickler und Cypherpunk Timothy C. May mit seinem Crypto Anarchist Manifesto die Subkultur inspiriert. Er imaginierte Sci-Fi-Tools, die heute verwirklicht sind. In den 90ern entriss PGP-Verschlüsselung dem Staat die Kontrolle über Kommunikation. Jetzt verleiht etwa der Bitcoinboom der jungen Generation und ihren Projekten neue Wucht. Mit Paralelní Polis existiert die Utopie im Kleinen: In dem Hackerspace wird nur Kryptowährung akzeptiert. Ein Automat tauscht Bargeld in Bitcoin oder Litecoin. 0,052922 Litecoin, knapp 1 Euro 95, kostet das lokale Bier, auf dem Etikett prangt ebenfalls ein vermummtes Gesicht. Hier schmieden Hacker Pläne oder diskutieren über Währungen wie ZCash oder Monero.

Sogar Entwickler aus den USA, der Wiege von libertärem Gedankengut, strömen in das 10,5-Millionen-Einwohnerland Tschechien. Während in Deutschland schon die Aufstellung eines Bitcoin-Automaten an den Behörden scheitert und in den USA das Geschäft mit Kryptowährungen und Initial Coin Offerings (ICOs) zunehmend reguliert und besteuert werden, finden Tech-Pioniere in Osteuropa Wild-West-Spirit vor. „Im Vergleich zu Deutschland sind wir ein Entwicklungsland, aber dafür haben wir eine große persönliche Freiheit“, sagt Sicherheitsforscher Pavol Lupták, Chefideologe von Paralelní Polis. „Unsere Regierung weiß gar nicht, was läuft.“ Dazu reichten auch die Englischkenntnisse vieler Beamter nicht. Dass das Treffen hier stattfindet, hat auch historische Ursachen.

Heute träumen die Hacker davon, dem Überwachungsstaat zu entkommen.

Tschechien hat die kommu­nistische Diktatur erlebt, der Dissident Václav Benda, Mit­glied der Bürgerrechtsbewegung Charta 77, skizzierte die Paralelní Polis („Parallele Stadt“) 1978 als Konzept des gewaltlosen Widerstandes. Da Streik oder Revolution unmöglich erschienen, entwarf Benda die Parallelstadt mit eigenem Markt, Recht und alternativer Kultur – sie sollte ein richtiges Leben im Falschen ermöglichen. Das Künstlerkollektiv Ztohoven, das sonst Fake-Atomwolken ins Fernsehen hackt oder die Staatsflagge durch Boxershorts austauscht, realisierte Bendas Konzept 2014 in Form des Hackerspaces.

Heute träumen die Hacker davon, dem Überwachungsstaat zu entkommen, der Finanzindustrie und Großkonzernen, die den Alltag vermessen. Manche gründen Mikrostaaten, wie Vít Jedlička, Präsident der Freien Republik Liberland. Die meisten setzen aber auf virtuelle Lösungen, basteln an einer neuen, digitalen Gesellschaftsordnung für die globalisierte Welt – mit anonymen, dezentralen Organisationen und Transaktionen, die immun gegen Ländergrenzen und Regulierung sind.

Das nächs­te Uber: DAO (Decentralized Autonomous Organisation), eine dezentralisierte, automatisierte Struktur, die weder Chefs noch Firmensitz hat. Die nächs­te Evolutionsstufe: die P2P-Gesellschaft. „Stell dir ein Sharing-Economy-Universum vor, in dem jeder alle Produkte und Dienstleistungen handeln und mit anonymer Kryptowährung zahlen kann“, so Pavol Lupták. Darknet-Märkte wie Nachfolger des Drogenmekkas Silk Road schaffen nur temporäre Kryptoanarchie – bis Fahnder wieder Betreiber verhaften oder Server kapern. Dezentralisierung soll freien Handel robuster machen.

Bei der Ebay-Alternative OpenBazaar laden User sich Software herunter, mit der sie Deals abschließen, ohne Mittler, ohne Gebühren. „Ich denke nicht, dass alle OpenBazaar nutzen werden, weil sie ihren Handel vor dem Staat verstecken wollen“, sagt Sam Patterson, der das Open-Source-Projekt mit vorantreibt. „Viele werden es adaptieren, weil es günstiger ist.“

Kryptoanarchisten wollen nicht missionieren, sondern mit Argumenten überzeugen. Je mehr Menschen sich für Krypto-Tools begeistern, desto wertvoller und mächtiger werden sie – ohne dass jeder zum Kryptoanarchismus konvertieren muss. Auch die Allianz aus Hackern und Künstlern hinter Paralelní Polis hat dazu beigetragen, dass aus der Utopie eine anschlussfähige Marke wurde, die sich gut verkauft. An einer Kleiderstange hängen Shirts, die Polis ist kein düsterer Hackerbunker, sondern eher Hipstercafé. „Ohne die Künstler wären Kryptoanarchisten Geeks geblieben, isoliert und vom Rest der Gesellschaft ignoriert“, glaubt Lupták. „So aber können wir unsere Ideen der digitalen Freiheit verbreiten.“

Je erfolgreicher die Vision, desto mehr bröckeln Einfluss und Steuereinnahmen von Staaten. „Den Kryptoanarchisten ist der Staat egal“, so Lupták. „Der Staat muss sich vielmehr um Kryptoanarchisten Sorgen machen.“ Den Wohlfahrtsstaat halten viele für eine Illusion, sie glauben an dezentrale Vorsorge. Doch was passiert mit dem Rest, wenn sich die Tech-Elite in ihre Parallelwelt rettet? In der Makroperspektive wirkt das Konzept oft unausgereift, manche denken, dass Eigenverantwortlichkeit alles löst. „Zu viele Hacker denken aus der Perspektive von Hackern und vergessen 95 Prozent der Bevölkerung“, kritisiert Smuggler, der nur aussieht wie ein Revolutionär. „Ich habe nicht das Ziel, den Staat abzuschaffen, außer aus meinem Leben. Ich will einfach, dass es Freiräume gibt.“

Hacker Amir Taaki prangert an, dass Bitcoin zur Geldmaschine mutiert ist, viele ihre Zeit mit unwichtigen Projekten verschwenden – dabei stecke der Westen in einer „tiefen sozialen Krise“. In Barcelona will er eine Hackertruppe ausbilden, die dorthin gesandt werden soll, wo sie gebraucht wird. Etwas Revolutions-Feeling kommt doch noch auf, als er eine Flagge enthüllt und „Freiheit, Technologie, Anarchie“ skandiert.

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