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Warum Instagrammerinnen sich in Berlin prügeln

von Sarah Heuberger
Anzügliche Kommentare, handfeste Drohungen, Stalking. Die aktuelle #Metoo Social-Media-Debatte zeigt einmal mehr: Frauen sind on- wie offline gefährdeter als Männer. Wer eine hohe Reichweite auf Social Media hat, bekommt fast täglich Belästigung ab. Mozilla könnte seinen Selbstverteidigungskurs zu keinem besseren Zeitpunkt anbieten.

Immer wieder muss die Bloggerin neue Fausthiebe abwehren. Erst kommen die Schläge von vorne, dann prasseln sie von überall her auf sie ein. Lisa Neumann folgen 36.000 Menschen auf Instagram – deren alltägliche Kommentare, so weiß die Influencerin, fühlen sich oft ähnlich an wie die prasselnden Schläge ihrer Trainingspartnerin. Es ist Mitte Oktober, Neumann ist in ein kuppelförmiges Fotostudio direkt an der Berliner Spree gekommen, um Selbstverteidigung zu lernen. Sie ist heute eine von zahlreichen Social Media-Berühmtheiten, die sich besser wehren können wollen gegen die Belästigungen, die ihnen online wie offline widerfahren.

Und das geht zunächst einmal physisch: Unterarm über den Kopf, Handflächen nach außen. Lisa und ihre Trainingspartnerin sollen nicht zu nett miteinander umspringen, befiehlt eine Trainerin. „Das passiert im echten Leben auch nicht“, ruft sie den beiden zu. Veranstaltet wird der Selbstverteidigungskurs für Influencerinnen von Mozilla, dem Verein hinter dem bekannten Open Source-Browser Firefox. Einen besseren Zeitpunkt hätte es kaum geben können.

Laut einer Studie des Pew Research Instituts wurden bereits ein Viertel der Frauen im Alter zwischen 18 und 25 online gestalkt oder sexuell belästigt. Dunkelziffer exklusive. Durch die Vorfälle rund um den Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein und die Sexismusvorwürfe bei Google und Co. bekommt das Thema neue Aufmerksamkeit. Mozilla beweist ein geradezu gespenstiges Timing mit seinem Event. Der Verein hat einen Moment ausgesucht, in dem Frauen weltweit unter #MeToo ihre Erlebnisse mit sexueller Belästigung teilen. Kein Wunder, dass hohe Reichweiten im Netz vor allem für Frauen zwangsläufig zu einer Zunahme an Stalking und Bedrohung führen. „Gerade, wenn du dich politisch äußerst, machst du dich angreifbar,“ sagt etwa Charlotte Weise am Rande des Trainings, ihr folgen über 30.000 Menschen auf Instagram.

Eine hohe Reichweite macht verwundbar

Kurz bevor die Schläge beginnen, haben sich die rund 15 Frauen zu einem Stuhlkreis versammelt. Der physischen, so glaubt Mozilla, sollte erst einmal ein Workshop für digitale Verteidigung vorausgehen. Und tatsächlich: Die Geschichten, die die Influencerinnen zu Beginn erzählen, berichten von einem fließenden Übergang zwischen On- und Offline. Eine geht etwa so: Eine Teilnehmerin hatte ihren alten Laptop im Keller gelagert, und prompt wurde er geklaut. Zunächst habe sie sich nichts weiter dabei gedacht, sagt sie, bis dann plötzlich ein fremder Mann bei ihr anrief. Er habe ihre Festplatte, sagte der, und wolle sich einfach mal mit ihr treffen, sie sehe ja so nett aus auf ihren Fotos. Schnauben in der Runde.

Jana Micus, die auf Instagram zu Fitnessthemen postet, erzählt davon, wie sie einmal eine Hose auf eBay verkaufen wollte. „Der Großteil der Reaktionen hatte nichts mit dem Hosenkauf zu tun“, sagt sie. Stattdessen seien ihr Nachrichten geschickt worden wie „Kann man das auch mal von hinten sehen?“ oder „Verkaufst du auch deine Unterwäsche?“ Seitdem fotografiere sie die Kleidungsstücke, die sie verkaufen will, nur noch auf dem Boden ohne sie anzuziehen, erzählt Micus.

Die Frauen erzählen im Laufe des Workshops viele solcher Geschichten. Allen gemeinsam ist die Hilflosigkeit, die sie verspürt haben. Deshalb spricht Rosana Ardila, die den Workshop für Mozilla leitet, mit ihnen über praktische Sicherheitstipps. Im Falle des Laptopklaus erklärt sie etwa, dass man alte Geräte immer löschen und beseitigen sollte, statt sie zu lagern. Oder andere einfache Tipps: „Verdeckt die Laptopkamera, benutzt Zwei-Faktor-Authentifizierungen und schaltet die Ortungsdienste in sozialen Medien und Apps einfach aus.“

Viele sind sich den Gefahren auf der Straße bewusster als im Netz

Einiges kennen die Teilnehmerinnen natürlich schon, manche von ihnen mussten sich mit deutlich komplizierteren Sicherheitsproblemen rumschlagen. So wie Ulrike Kulling. Die 25-Jährige betreibt seit 2013 den Fitnessblog turnschuhverliebt. Vor einigen Monaten stieß sie durch Zufall auf eine Seite, auf der alle ihre Artikel geklont wurden. „Nur das Logo war leicht abgeändert“, erzählt sie. Ulrike hat daraufhin ein Plug-In installiert. Mit dem wurden dann alle, die bei Google auf die geklonte Seite stießen, automatisch auf ihre Seite weitergeleitet. Sperren lassen konnte sie den Kopierer nicht, er war unter falschem Namen in Panama registriert. Seit drei Wochen werden nun auf der Seite die Inhalte einer anderen Fitnessbloggerin kopiert.

Für Rosana Ardila von Mozilla ist die Selbstverteidigung online und offline direkt miteinander verknüpft. „Auf beide Arten von Angriffen muss man aufmerksam machen und die Frauen darauf vorbereiten.“ Viele seien sich der Gefahren auf der Straße bewusster als derer im Netz: „Wenn man einen dunklen Weg entlanggeht, sieht sofort jeder, dass das vielleicht gefährlich sein könnte. Im Internet sind diese Gefahren schwieriger zu erkennen“, sagt Ardila. Das mache sie aber nicht weniger real.

Eine Grenze zwischen Virtuellem und Analogem zu ziehen, fällt denTeilnehmerinnen vor allem dann schwer, wenn sie viel Privates auf ihren Seiten thematisieren. Lisa Neumann etwa schreibt auf ihrem Blog über Familienthemen. „Es ist immer schwierig abzuwägen, wie viel man von seiner Familie preisgibt“, sagt sie. Die Fitness-Instagrammerin Jana Micus hat sich dafür entschieden, auf ihrem Account nichts von ihrem Zuhause oder von Freunden und Familie zu zeigen. Wenn sie Anfragen für Kooperationen bekommt, informiere sie sich erst genauer, wer dahintersteht. Erst dann gebe sie ihre Adresse heraus. Einer Freundin sei es schon mal passiert, dass dann ein fremder Mann vor der Haustür stand.

Auch Charlotte Weise ist nach vielen kritischen Kommentaren vorsichtig geworden. Ihre Meinung will sie aber weiterhin frei äußern, nicht nur auf ihrem Instagram-Kanal. Wie sie sich aus einer Umklammerung von hinten löst und gleichzeitig zielsicher in die Geschlechtsteile des Angreifers trifft, das kann sie nun zumindest schon mal.

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