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Wie Big-Data-Startups die Prognosen zur US-Wahl revolutionieren

von Garrett M. Graff
Am 8. November wird in den USA gewählt. Wer gewinnt? Wissen die etablierten Prognose-Institute nicht so genau. Weil sie mit alten Methoden arbeiten. Junge Polit-Startups benutzen hingegen Big Data – und durchleuchten die Wähler.

Die Zeit der Vorwahlen um die US-Präsidentschaft haben Dan Wagner und David Shor für ihre Verhältnisse ungewohnt verfolgt: als Zuschauer, wie wir anderen auch. Wenn abends wieder mal ein Bundesstaat über die Kandidaten aufseiten der Republikaner und Demokraten entschied, blieben der CEO und der Datenwissenschaftler des Prognose-Startups Civis Analytics länger in ihrem Büro im Chicagoer Bezirk West Loop, genehmigten sich jeder einen Bourbon und warteten auf die Abstimmungsergebnisse.

Anders als wir anderen beobachten Wagner und Shor jedoch nicht nur das politische Pferderennen selbst. Sondern auch, wie sich die Wettmacher dieses Rennens schlagen, die Wahlforscher. Denn die amerikanischen Prognose-Institute stecken seit etwa einem Jahrzehnt in einer Ergebniskrise: Ihre althergebrachten Methoden sagen zunehmend schlechter voraus, für wen die Amerikaner stimmen. Wie fast alle, die im Politikbetrieb arbeiten, waren sich Wagner und Shor bereits vorher sicher, dass die etablierten Wahlforscher sich dieses Jahr bei den Vorhersagen für die Präsidentschaftswahlen blamieren würden. Die Frage war nicht ob, sondern wann – und wie schlimm die Blamage ausfallen würde.

Sie hat dann nicht lange auf sich warten lassen. Etwa zehn Tage vor den allerersten Vorwahlen, dem Caucus in Iowa im Februar, wurden zwei Umfragen veröffentlicht: Eine sah bei den Demokraten Hillary Clinton mit 29 Prozent Vorsprung vor Bernie Sanders; in der anderen führte Sanders hingegen mit acht Punkten. Es schien, als verfolgten die beiden Prognosen zwei völlig verschiedene Rennen. Bei den Republikanern wiederum lag Donald Trump bei insgesamt zehn Umfragen in Iowa an der Spitze.

Am Abend der Abstimmung war die Blamage da: Clinton siegte bei den Demokraten, und bei den Republikanern gewann nicht Trump, sondern Ted Cruz seinen ersten Bundesstaat. Der größte Prognose-Flop aber ereignete sich dann im März, bei den Vorwahlen in Michigan. Sämtliche Umfragen sagten dort Clinton einen Sieg mit einem Vorsprung von mindestens fünf Punkten vor Sanders voraus; manche sahen sie bis zu 20 Prozent vorn. FiveThirtyEight, die Website von Nate Silver, gab die Wahrscheinlichkeit eines Clinton-Sieges mit 99 Prozent an.

Die Messinstrumente der Umfragen sind schlecht

Dan Wagner, CEO von Civis Analytics

Silver gilt, seit er bei den Präsidentschaftswahlen 2008 den Ausgang in 49 von 50 Bundesstaaten richtig voraussagte, als Star unter den Statistikern. Am Abend der Michigan-Vorwahlen bestätigten aber bereits die Ergebnisse aus Wayne County, in dem Detroit liegt, was Wagner geahnt hatte: Die Umfragen lagen total daneben. Trotz einheitlicher Prognosen, die das Gegenteil ausgesagt hatten, siegte Sanders in Michigan. „Die Messinstrumente der Umfragen sind schlecht“, sagt Wagner.

Er und Shor haben durchaus Verständnis für die Lage der etablierten Umfrageinstitute. Michigan, sagt Shor, sei einer der am schwersten vorhersagbaren Bundesstaaten. Zunächst mal haben die Wahlforscher dort mit dem gleichen Problem wie überall in den USA zu kämpfen: Das klassische Tool der Zufallstelefonbefragung funktioniert nicht mehr, weil immer weniger Menschen noch Festnetzanschlüsse besitzen. Im Jahr 2014 nutzten bereits 60 Prozent der Amerikaner überwiegend oder ausschließlich das Handy zum Telefonieren, was es schwer bis unmöglich macht, sie zu kontaktieren – gesetzliche Regelungen machen in den USA Umfragen übers Mobilfunknetz zu teuer.

Und selbst wenn man Leute anruft, müssen die erst mal antworten wollen: Telefonumfragen hatten in den 70er- und 80er-Jahren eine Rücklaufquote von 70 Prozent, doch schon 2012 lag die nur noch bei 5,5 Prozent; 2016 beträgt die response rate winzige 0,9 Prozent. Zudem engt sich der demografische Bereich der Bevölkerung ein, den man auf diesem Wege erreicht: Die Wahrscheinlichkeit, dass eine ältere weiße Frau ans Festnetztelefon geht, ist in den USA heute 21-mal höher, als dass ein junger Hispanic abnimmt. Solche Befragungen sind also oft nicht mehr repräsentativ.

In Michigan vermischen sich diese systemischen Probleme noch mit einer einzigartigen Krise der Datenverwaltung. Der wirtschaftliche Niedergang des Bundesstaates hat viele Bewohner zum Abwandern gezwungen. Deshalb stimmen Adressen und Telefonnummern auf den Wählerlisten oft nicht mehr mit der Wirklichkeit überein – weil es in den USA keine Meldepflicht gibt, werden die Wählerlisten nicht automatisch aktualisiert.

Wagner und Shor wissen das alles – weil es ihr Geschäft ist, sie sind zwei der meistgeachteten Zahlenfüchse des US-Politikbetriebs. Sie kennen Michigan aber auch sehr genau: Vor vier Jahren, als die beiden im damaligen Wiederwahlteam von Präsident Obama arbeiteten, haben sie dessen Kampagne dort vor teuren Fehlern bewahrt – indem sie Obamas Wahlkampfmanager überzeugten, die öffentlich kursierenden Prognosen komplett zu ignorieren. Sie hatten bessere.

Gold aus der Höhle
Im Jahr 2012 waren Wagner, ein ehemaliger Wirtschaftsberater, und Shor, ein Mathegenie, das mit 13 schon sein Unistudium begann, die treibenden Kräfte im 54-köpfigen Analyseteam der Obama-Kampagne. Das wurde berühmt dafür, dass es in einem cave betitelten Büro zusammenhockte und dort Statistikmethoden, wie sie in dem Hollywoodfilm Moneyball mit Brad Pitt bei der Auswahl von Baseballspielern gezeigt wurden, erstmals in der echten Politik zum Einsatz brachte. Sie produzierten ein sagenumwobenes Geheimdokument, den golden report – eine täglich aktualisierte Analyse des Präsidentschaftsrennens, dem 62.000 Nacht um Nacht wiederholte Computersimulationen darüber zugrunde lagen, wie sich die Wählerstimmung bis zur Abstimmung im November 2012 entwickeln könnte. Fast alle taktischen Entscheidungen, die Obamas Strategen trafen, basierten auf den Wahrscheinlichkeitsrechnungen aus dem golden report: Auf Grundlage dessen Zahlenmaterials wurde beschlossen, in welche Bundesstaaten die meisten Helfer entsandt und das meiste Geld für Wahlwerbung floss.

Vor dem Sommer 2012 hatte es in Michigan nach einem sicheren Sieg für Obama ausgesehen. Doch im Juni zeigten die veröffentlichten Prognosen plötzlich einen Einbruch von bis zu zehn Prozent in der Wählergunst für Obama; sein republikanischer Widersacher Mitt Romney schien in Michigan auf einmal in Schlagdistanz. Romneys Team reagierte auf die neuen Zahlen damit, Millionen Dollar in den Wahlkampf in diesen Bundesstaat zu pumpen. Doch die Rechenmodelle im cave, die auf historischen Daten ebenso wie auf tagesaktuellen Wählerbefragungen vor Ort basierten, ergaben nur einen geringen Rückgang der Unterstützung des amtierenden Präsidenten. Im cave war man sich sicher, dass die publizierten Prognosen nicht alle Wähler der Demokraten berücksichtigten.

Obamas Leute sahen sich vor eine quälende Frage gestellt: Welche Zahlen stimmten denn nun – und musste der bisherige Kurs in Michigan geändert werden? Die Wahlkampfmanager waren bereit, bis zu 20 Millionen Dollar an Wahlkampfmitteln zusätzlich locker zu machen für Michigan, doch Wagners Analyseteam riet ab. „Es war eine große strategische Entscheidung“, erinnert sich Shor. „Sollten wir unseren Prognosen vertrauen? Waren wir wirklich die Einzigen, deren Zahlen richtig waren – und alle anderen irrten sich?“

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Schlussendlich folgten Obamas Kampagnenmacher Wagners Rat. „Es stellte sich heraus, dass wir recht hatten, und diese eine Entscheidung allein hat die Existenz unserer Analyse-Abteilung finanziell gerechtfertigt“, sagt Shor heute. „Wenn die Leute über die Probleme der Wahlforschung reden, dann sprechen sie meist darüber, ob der Fehlerbereich plus oder minus drei Prozent beträgt. Das ist falsch: Der wirkliche Unterschied zwischen einer guten und einer schlechten Prognose ist, ob man Millionen in einem Bundesstaat verschwendet, den man eh nicht gewinnen kann.“

Das Ergebnis ist, dass die USA heute weniger berechenbar sind als früher

Das ist der Einsatz, der für eine Kampagne auf dem Spiel steht. Für das Land insgesamt sind die Auswirkungen falschen Datenmaterials weniger greifbar, aber noch größer. Denn nicht nur konventionell erstellte Wahlprognosen sind fehlerhaft. Die gleiche methodologische Krise betrifft fast alle Formen umfragebasierter Forschung, deren Zahlen nicht mehr genau sind – vom General Social Survey, der permanenten soziologischen Untersuchung der Einstellungen der Amerikaner, bis zu den offiziellen US-Statistiken zu Armut, Gesundheit und Konsumverhalten. Das Ergebnis ist, dass die USA heute weniger berechenbar sind als früher. Die Unsicherheit in der Prognose-Industrie ist so groß, dass Gallup, das noch immer bedeutendste Umfrage-Institut Amerikas, diesmal keine Vorhersagen zum Präsidentschaftsrennen trifft. Das Risiko, danebenzuliegen und so den eigenen Ruf zu ruinieren, erschien Gallup offenbar zu groß.

Civis hingegen versucht, ein neues Modell der Umfrageerstellung anzubieten, das die Politik vor der totalen Konfusion bewahren könnte. Das Startup hilft den Demokraten nun in der Wahlkampfschlussphase dabei, die datenintensivste Kampagne aller Zeiten zu führen. Sollten Wagners Modelle stimmen, könnte seine Firma den umfassendsten Einblick von Amerika liefern, den es je gab. Oder, wie er selbst sagt: „Wir bieten einen extrem seltenen Rohstoff an – das Wissen darüber, was die Menschen wirklich über dieses Land denken.“ Doch natürlich wird der Öffentlichkeit dieses Wissen zumindest jetzt noch nicht zur Verfügung gestellt. Den Einblick kriegen bislang nur diejenigen, die ihn sich leisten können – und dafür bezahlen.

Der berechenbare Wähler
Dan Wagner hatte eigentlich nie vor, die Art und Weise, wie moderne Politkampagnen geführt werden, grundlegend zu verändern. Er kam im Jahr 2007 als ehrenamtlicher Wahlhelfer für Obama zum ersten Mal mit Politik in Berührung. Eine seiner Aufgaben war es, Wahlkampfmaterialien ins Spanische zu übersetzen; die Sprache hatte er nebenbei gelernt, als er auf der Uni seine Abschlussarbeit über chilenische Steuerpolitik geschrieben hatte. Obamas Kampagnenprofis erkannten bald, dass Wagner extrem gut mit Statistiken umgehen konnte, und schickten ihn nach Des Moines, wo er als Deputy Manager fortan die Wählerlisten von Iowa bearbeitete. Für ein Monatsgehalt von 2500 Dollar übertrug Wagner die Informationen aus Fragebögen in eine Datenbank, welche die da erst entstehende Unterstützerbasis für den damaligen US-Senator Obama nachverfolgte. So geriet Wagner ins Zentrum der Kampagne, die dafür berühmt werden sollte, erstmals im großen Stil Datenanalysen im Wahlkampf eingesetzt zu haben.

Es war sogar so, dass die Obama for America-Kampagne endgültig veränderte, wie die Demokraten fortan Wahlkämpfe führen würden: Statt sich weiter auf zunehmend weniger akurate Stichproben zu verlassen, betreibt die Partei heute ein kontinuierliches und umfassendes Monitoring der Stimmungen in der amerikanischen Wahlbevölkerung.

Der Name jedes Wählers wurde mit einer Identifizierungsnummer verbunden

Dafür aber musste erst langwierig eine Datensammlung angelegt werden, die sich immer wieder aktualisieren lässt und nach verschiedensten Parametern durchsucht werden kann. Die Aufbauarbeit dafür begann bei den Demokraten vor zehn Jahren: Im Jahr 2006 gründeten der Politveteran Harold Ickes und Laura Quinn, ehemalige stellvertretende Stabschefin von Al Gore, die Firma Catalist und bauten für die Demokratische Partei ein elf Millionen Dollar teures Datenzentrum auf; sie heuerten Leute von Unternehmen wie Amazon an und begannen, einen Informationsschatz zu horten, in dem alle erwachsenen Amerikaner erfasst wurden. Der Name jedes Wählers wurde mit einer Identifizierungsnummer verbunden – einer Art lebenslangen Politpassnummer –, mit der jeder Mensch nachverfolgt werden kann, egal, wie oft und wohin er oder sie umzieht.

Die Republikaner taten nichts dergleichen. Sie versäumten es, das Wissen, das während der Präsidentschaftskampagnen von George W. Bush angesammelt wurde, in irgendeiner Form aufzubewahren. Darum ist der Vorsprung der Demokraten in Sachen Datenanalyse heute riesig.

Daten waren bereits ganz am Anfang der Obama-Kampagne 2007 Teil der Strategie: Noch die kleinsten Details aus Interaktionen mit Wählern wurden aufbereitet, um ein umfassendes Bild der Obama-Unterstützer zu erhalten. Für die Wiederwahlkampagne 2012 wurde dann gar ein persuadability score für jeden Wähler erstellt, um auf einer Skala von null bis 100 die Wahrscheinlichkeit vorauszusagen, mit der dieser Mensch für Obama stimmen würde.

Am Wahltag selbst hielt Wagner 2012 im Hauptquartier von Obamas Kampagne in Chicago eine Präsentation: Er prognostizierte das Abstimmungsergebnis für jeden einzelnen Bundesstaat vorab. Seine Charts liefen alle auf die unausweichliche Schlussfolgerung hinaus: Mitt Romney würde verlieren.

Als die Stimmen ausgezählt waren, stellten sich alle Vorhersagen von Wagners Team als richtig heraus – Obama gewann exakt mit dem Vorsprung von 126 Wahlmännern, den der cave vorausberechnet hatte. Noch beeindruckender war, dass er sogar Ergebnisse für einzelne Wahlbezirke korrekt prognostiziert hatte.

Einer der Zuhörer bei Wagners Präsentation war der damalige Google-Chef Eric Schmidt. An dem Abend fragte er Wagner, was der nach der Wahl beruflich denn so machen würde. Die Unterhaltung führte dazu, dass Wagner vom Google-Mann einen persönlichen Kredit bekam und Schmidt später bei der Civis-Gründung 2013 als VC-Investor einstieg; mit dem Geld war Wagner in der Lage, den Kern der Mannschaft des cave zu Civis mitzunehmen. „Man musste kein Raketenwissenschaftler sein, um zu erkennen, dass wir etwas Besonderes geschaffen hatten“, sagt Dan Wagner heute.

Es gibt keinen Plan B
Wahlkampagnen waren in den USA schon immer Startups der merkwürdigeren Sorte, ganz anders als in Deutschland, wo sie aus Parteizentralen heraus geführt werden, die kontinuierlich arbeiten. Finanziert werden Wahlkämpfe in Amerika von Spenden, und das Geld wird dann in großer Geschwindigkeit ausgegeben (im Fall von Hillary Clintons Kampagne werden es am Ende knapp eine Milliarde Dollar gewesen sein, die binnen zwei Jahren rausgehauen wurden). Und das alles nur, um an einem Dienstag im November ein einziges Ziel zu erreichen: 50 Prozent plus eine Stimme in möglichst vielen Bundesstaaten gewinnen. Weil die Ressourcen Zeit und Geld begrenzt sind, muss die Strategie des Kandidaten funktionieren. Für Verlierer gibt es bei US-Wahlen keinen Plan B.

Früher landete am Tag nach der Wahl dann alles im Müll – die Strategie und die gesamte Infrastruktur, die während des Wahlkampfes aufgebaut wurde, mitsamt den Datenbeständen. Heute hingegen speichern Firmen wie Civis alles. Die rund 220 Millionen US-Wähler sollen ihr Erwachsenenleben lang getrackt werden, alle öffentlich zugänglichen Informationen werden über sie gesammelt: Welche Zeitschriften sie abonniert haben, ob sie noch Schulden vom Studienkredit haben, wie ihre Facebook-ID lautet, ihr Twittername. Die Umfragefirmen, die die besten Datensätze zum Verhalten von Menschen aufbauen und pflegen können, sind die Gewinner dieser neuen Entwicklung.

Donald Trump blieb seinem Politikstil als Zerstörer aller konventionellen Normen treu und ließ keine Zahlen erheben 

BlueLabs, wie Civis Analytics von ehemaligen Obama-Mitarbeitern gegründet, hat das Datenteam von Clinton während der Vorwahlen geführt; der Republikaner Ted Cruz hat mit Cambridge Analytica zusammengearbeitet, einer britischen Firma, die sich auf Verhaltensanalysen spezialisiert hat und Wähler in Persönlichkeitstypen zusammenfasst; Bernie Sanders hat sich ganz seiner Grassroots-Bewegung entsprechend beim Wählerdatensammeln auf Freiwillige gestützt, die bei Reddit und in Slack-Chaträumen organisiert wurden; und Donald Trump schließlich blieb seinem Politikstil als Zerstörer aller konventionellen Normen auch da treu und hat einfach gar keine Zahlen selbst erheben lassen – er verlässt sich ganz auf die öffentlich zugänglichen.

Wagner und sein Civis-Team mischen im Schlussspurt des Wahlkampfs mit. Das Startup hat neben der Demokratischen Partei Unternehmen und Stiftungen als Klienten, darunter die Gates Foundation, Boeing und Airbnb; es wirbt für sich damit, dass es seinen Kunden dabei helfen kann, Menschen zum Handeln zu bringen – ob es nun darum geht, zur Wahl zu gehen, an eine Non-Profit-Organisation zu spenden oder bloß ein Produkt zu kaufen. Civis hat mittlerweile 110 Angestellte, die seit drei Jahren das perfektionieren, was Wagner und Shor als die neue, bessere Verbindung von Datenanalyse und Aktivistentum betrachten.

Tatsächlich verzichtet Civis gar nicht gänzlich auf alte Methoden wie etwa das Telefon. Der Schlüssel ist, zu wissen, wen man anrufen muss. Diesen Ansatz nennt Civis list-based sampling. Wenn die Firma zum Beispiel herausfinden will, was junge Hispanics über einen Kandidaten denken, dann lässt sie nicht wie die Konkurrenz einen Telefoncomputer wahllos 350 000 Leute anrufen, um am Ende mit Glück auf die 1000 zu kommen, die man für eine repräsentative Umfrage braucht. Stattdessen zieht Civis aus seiner Master-Datenbank all die Namen der Menschen heraus, die nach allen Markern junge Hispanics sein müssen. Perfekt ist auch diese Methode nicht, denn Civis braucht mitunter 60 000 Versuche, bis die nötigen 1000 Rückmeldungen beisammen sind. Doch das sind erheblich weniger als die 350 000 der Konkurrenz, es entstehen dabei keine Stichprobenfehler, und bei der Auswertung lassen sich stärkere Rückschlüsse aus den Antworten ziehen – weil das Unternehmen sie mit Daten abgleichen kann, die es längst über die Befragten erfasst hat. So geht Big Data.

Ein gutes Beispiel dafür, wie Civis arbeitet, ist Obamacare: Nachdem die Gesundheitsreform 2010 zunächst nur auf dem Papier deutlich mehr Amerikanern Zugang zu einer Krankenversicherung ermöglichte, beauftragte eine NGO namens Enroll America die Firma damit, Nichtversicherte zu identifizieren – Enroll America war von der Obama-Administration selbst gegründet worden, um die Reform auch wirklich zum Erfolg zu machen.

2013 begann Civis zunächst, nach dem Zufallsprinzip Leute anzurufen, die bereits in den Datenbeständen des Unternehmens waren. Insgesamt 10 020 Menschen bekamen nur eine einzige Frage gestellt: „Sind Sie derzeit krankenversichert?“

Die Antworten glich Civis mit den sonstigen Informationen ab, die die Firma über die Angerufenen bereits hatte, um so die Variablen bestimmen zu können, die es wahrscheinlich erscheinen ließen, dass jemand nicht krankenversichert war – Faktoren wie Parteipräferenz, Wohnort und Meldedauer an einer Adresse. Civis entwickelte dann einen Modellalgorithmus, um für tatsächlich jeden Einzelnen der 180 Millionen Amerikaner, die jünger sind als 65, erneut einen Score zu errechnen: Der gab wieder auf einer Skala von null bis 100 eine Wahrscheinlichkeit an, nun diejenige, mit der jemand nicht versichert war. Diesen Zahlenwust übersetzte Civis in bis auf die Postleitzahl genaue Karten, mithilfe derer Enroll America entschied, wo Werbeevents für Obamacare stattfanden und in welchen Teilen welcher Städte Telefonaktionen gestartet wurden. Das Ergebnis: Der Anteil der Amerikaner ohne Krankenversicherung sank von 16,4 Prozent 2013 auf 10,7 Prozent 2015.

Der Aufwand, den solche Methoden verlangen, ist riesig. Doch der ist unerlässlich für den Wahlkampf 2016. Civis hofft, dass die Tausenden von Modellrechnungen, die die Demokraten nun zur Verfügung haben, die umfassendste Analyse des US-Wahlvolkes bilden, die es je gegeben hat. „Daten sind dabei, die Weltherrschaft zu übernehmen“, sagt Wagner, „und jeder, der sich nicht darauf einstellt, wird bald den Anschluss verlieren.“ So wie er es sieht, ist das amerikanische Volk numerisch zu groß und zu diversifiziert, um es noch mit Umfragemethoden erfassen zu können, die in den 30er-Jahren entwickelt wurden. „Der Abstand zwischen den Ergebnissen der klassischen Wahlforschung und der Wahrheit wird nur immer größer und größer“, sagt er.

Das Bauchgefühl irrt
Es reicht in der Politik aber nicht, die Wählerschaft genau zu kennen. Kampagnenmacher müssen sie auch vom eigenen Kandidaten überzeugen. Ted Cruz und Jeb Bush lagen mutmaßlich wesentlich bessere Daten über die Wähler der Republikaner vor als Donald Trump, und trotzdem haben sie gegen ihn verloren. Die wissenschaftliche Aufbereitung der Zahlen, wie sie aber Civis vornimmt, hilft den Kandidaten zu wissen, was sie vor welchen Menschen zu sagen haben, um die größtmögliche Überzeugungskraft zu entwickeln.

Jahrzehntelang haben die Politstrategen auch wichtigste Entscheidungen rein nach ihrem Bauchgefühl getroffen oder nach dem Motto „Was früher funktionierte, funktioniert heute auch“. Die neuen Algorithmen und Modelle zeigen nun, dass das Bauchgefühl in Wahrheit eine wahnsinnig schlechte Art der Entscheidungsfindung ist, selbst wenn es mit langer Berufserfahrung unterfüttert ist. „Menschen möchten gerne glauben, dass ihre Arbeit effektiv ist und ihre Gedanken scharfsinnig sind“, sagt Shor. „In vielen Fällen ist das aber leider nicht wahr – und es wird immer weniger wahr.“

Wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen dann auch, dass Politiker oft gar nicht wissen, was ihre Wähler wirklich wollen. Eine Studie aus dem Jahr 2013, die David E. Broockman von der UC Berkeley und Christopher Skovron von der University of Michigan erstellt haben, zeigte etwa, dass sowohl Demokraten als auch Republikaner ihre Wählerschaft für erheblich konservativer halten, als die es tatsächlich ist.

Auch die neuen Datenfirmen bestätigen diese Forschung. Echelon Insights, im Jahr 2014 von dem republikanischen Politikberater Patrick Ruffini und der Wahlforscherin Kristen Soltis Anderson gegründet, arbeitet an der Verbesserung dessen, was unstructured listening genannt wird: Die Firma betreibt Data-Mining in den riesigen Fluten der Online-Kommunikation auf Facebook und Twitter, um herauszufinden, worüber sich die Menschen wirklich in sozialen Medien unterhalten und was davon womöglich nicht auf dem Radar der Politik ist. Ruffini hat online drei strikt voneinander getrennt ablaufende Stränge von Politkonversationen gefunden: einen linken, einen rechten – und den der Washington-Insider. Was in der Hauptstadt wichtig erscheint, tut es aber nicht notwendigerweise auch außerhalb von ihr, und das Gleiche gilt auch umgekehrt.

Die Arbeit von Civis wiederum zeigt, was die Macher von klassischen Umfragen, die von Wahlkämpfen gern als Wettrennen erzählen, ungern zugeben: Die öffentliche Meinung ist in Wahrheit kaum Schwankungen unterworfen. Politische Unterstützung verschiebt sich langsam und schleichend, Veränderungen brauchen Monate oder gar Jahre – viel länger also, als der Tagesrhythmus der lauten Schlagzeilen es suggeriert, die von Medien als breaking news verkauft werden. „In den polls kann man immer wieder große Bewegungen feststellen“, sagt Christine Campigotto, die bei Civis für NGOs zuständig ist. „Doch die Schwankungen kommen vor allem durch schlechte Umfragemethoden zustande. So wird aus dem statistischen Rauschen einer Umfrage eine Schlagzeile. Doch in Wirklichkeit gibt es kaum Menschen, die ihre politischen Einstellungen kurzfristig ändern.“

Die Lektion für Nachrichtenjunkies ist eine ziemlich schlichte: Man braucht Ausschlägen bei den Prognosen keine größere Aufmerksamkeit zu schenken – die publizierten Umfragen sind nicht gründlich und präzise genug, um die tatsächliche Stimmung abzubilden. „Kampagnenmanager haben Zugang zu qualitativ guten Prognosen, die Öffentlichkeit hingegen nicht“, sagt Shor. Stattdessen sollte man lieber genau beobachten, was die Kandidaten on the ground tun.

Shor verweist noch mal auf das Beispiel Michigan 2012. „Die Tatsache, dass Obama dort kein Geld ausgegeben hat für Wahlkampfwerbung, sprach bereits für sich, obwohl er angeblich hinten lag. Also: Schau dir an, wo Kandidaten ihr Geld ausgeben und ihre Mitarbeiter hinschicken. Dort glauben sie, eine Siegchance zu haben.“

Mit anderen Worten: Wenn heute Donald Trump sagt, seine Siege in New York oder Pennsylvania am 8. November würden „yuuuggge“, dann sollte man lieber nachgucken, ob Hillary Clinton dorthin viele ihrer Wahlhelfer geschickt hat. Sind keine da, stimmen Trumps Worte vielleicht mal. Es könnte aber auch sein, dass die Daten das Gegenteil besagen und Hillary Clinton weiß, dass sie New York und Pennsylvania gewinnen wird. Und zwar locker.

Dieser Artikel stammt aus der Herbstausgabe 2016 des WIRED-Magazins. Weitere Themen: der Web.de-Gründer und seine Suche nach dem ewigen Leben, Künstliche Intelligenz, ein Blockchain-Krimi aus Sachsen, Udacity-Gründer Sebastian Thrun und die Zukunft des Fliegens.

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