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Das WhatsApp-Urteil gegen eine Mutter betrifft uns (fast) alle

von Johnny Haeusler
Der Sohn nutzte WhatsApp und die Mutter musste deswegen vor Gericht: Das ist, sehr verkürzt, in Bad Hersfeld passiert und geht uns alle an, sagt unser Kolumnist. Er hat sich das Urteil mal angesehen und findet es „wahnsinnig praxisfern“ – nur leider nicht ebenso rechtsfern.

Zugegeben: Auf die Titelseiten aller wichtigen Zeitungen hat es das Urteil des Amtsgerichts Bad Hersfeld nicht wirklich geschafft, das mir zuerst über diesen Tweet begegnete. Der in meiner Filterblase vorhandene Rummel darum ist dennoch bemerkenswert.

Zusammengefasst wurde die Mutter eines elfjährigen Kindes vom Amtsgericht dazu verurteilt, die Smartphone-Nutzung ihres Sohns nicht nur erzieherisch zu begleiten und sich dafür selbst fortzubilden (z.B. über die Tatsache, dass die Nutzung bestimmter Apps erst ab 13 Jahren zulässig ist), sondern dem Gericht auch regelmäßig nachzuweisen, dass ihr Sohn über schriftliche Einverständniserklärungen aller seiner Smartphone-Kontakte verfügt, die er mit der Nutzung von WhatsApp schließlich an das US-amerikanische Unternehmen weitergibt.

Ob das individuelle Urteil und das Strafmaß an genau dieser Stelle und in diesem Fall gerechtfertigt ist, können andere Juristen besser bewerten als ich als Laie. Inhaltlich scheint es korrekt argumentiert zu sein, was auch der Grund für die – in bestimmten Kreisen – recht große Beachtung sein dürfte. Denn durch unsere Zustimmung zu den AGB von WhatsApp (nur zur Erinnerung: WhatsApp gehört Facebook) begehen wir alle mehrfach einen Rechtsbruch durch die Weitergabe der Telefonnummern Dritter an ein US-Unternehmen. Ohne die explizite Zustimmung der betreffenden Personen verletzen wir ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung, durch das Übertragen der Daten an ein Unternehmen bewegen wir uns in diesem Fall nicht mehr in einem rein privaten Bereich. Es gilt daher das Bundesdatenschutzgesetz, und wir sind als Nutzerinnen und Nutzer in der Haftung, denn wir wurden von WhatsApp auf all diese Tatsachen hingewiesen und haben zugestimmt. Isso.

Ein Novum in der Rechtssprechung

Eltern haben sich bis zur Volljährigkeit ihrer Kinder darum zu kümmern, dass diese möglichst keine Rechtsbrüche begehen. Also, so das Gericht, müsse in diesem Fall die Mutter dafür Sorge tragen, bei der das Kind hauptsächlich lebt. Ihrer digitalen Aufsichtspflicht scheint die Mutter bisher nach Ansicht des Gerichts nicht ausreichend nachgekommen zu sein, weshalb sie nun zur Besserung verpflichtet wurde. Was im Bereich der Digitalerziehung ein Novum in der deutschen Rechtssprechung sein dürfte.

Die Lektüre des Urteils lohnt sich durchaus, denn fast alles davon betrifft uns fast alle. Es kann nur vermutet werden, dass das AG Bad Hersfeld einen Punkt setzen wollte; dass das Urteil bei aller juristischen Korrektheit auch eine erzieherische Maßnahme gegenüber der Mutter ist, und dass am Ende keine jahrelange Kontrolle der Mutter stattfinden wird. Auch sind massenhafte Abmahnungen von Privatpersonen an WhatsApp-Nutzerinnen und -nutzer wohl eher nicht zu erwarten. Und schließlich muss auch das Gericht wissen, wie unmöglich die Kontrolle oder wenigstens Begleitung der Kommunikation eines Kindes oder Jugendlichen in der Praxis ist, in Anbetracht des niedrigen Alters des Kindes in diesem Fall wird sie dennoch eingefordert.

Das Kind zeigte sich nach Auffassung des Gerichts übrigens bei der Belehrung über mögliche und nicht allein datenschutzrechtliche Herausforderungen sehr schnell lernfähig, seine Mutter stellte nach den Ausführungen des Gerichts überrascht fest, dass ja dann wohl eigentlich „das ganze System nicht ganz korrekt” ist. Und damit hat sie Recht – no pun intended.

Gesellschaftlich betrachtet ist das Urteil eine Katastrophe

Womit ich neben der juristischen bei einer zweiten Betrachtungsweise des Falls angelangt wäre, der gesellschaftlichen nämlich.

Juristisch mag es korrekt sein, der quasi alleinerziehenden Mutter die “digitale Sorgepflicht” anzulasten (der Vater hatte dem Kind das Smartphone an den von ihm betreuten Wochenenden einfach verboten), und selbstverständlich ist es nicht falsch, Eltern auf ihre Pflichten auch im Umgang mit den digitalen Welten hinzuweisen. Gesellschaftlich betrachtet ist das Urteil aber eine Katastrophe, die an der Lebensrealität von Eltern und an den durch Software wie WhatsApp entstandenen Herausforderungen kilometerweit vorbeischießt.

Kein Vater, keine Mutter wird bestraft, weil ein Kind beim Lernen einer Fremdsprache nicht genug Unterstützung der Eltern bekommen hat. Wenn die Eltern diese Fremdsprache selbst nicht beherrschen, werden sie keineswegs zum Lernen der Sprache verurteilt. Und kein Vater, keine Mutter wird für fehlendes Training zuhause verantwortlich gemacht, wenn ein Kind sich beim Ballett den Fuß verstaucht.

Was ist mit der Bildungspflicht der Schulen?

Im Fall der digitalen Bildung soll nun aber eine Mutter allein dafür verantwortlich sein, ihr Kind auf seitenlange AGB nicht nur hinzuweisen, sondern die technischen und rechtlichen Fallen auch noch zu erkennen und zu vermeiden. Zusätzlich soll sie die Kommunikation ihres Kindes bis zur Volljährigkeit überwachen.

Mit keinem Wort wird im Urteil die Informations- und Bildungspflicht der Schulen erwähnt und gefragt, wieso Kinder und Jugendliche ihr Grundwissen über Technologien und an die Nutzung gebundenen rechtlichen Grundlagen nicht dort erhalten oder warum sich Lehrkräfte oft nicht genügend weiterbilden, um ihre Schülerinnen und Schüler gut auf das digitale Leben vorzubereiten. Und trotz schier endloser Ausführungen über die AGB von WhatsApp wird im Urteil auch nicht auf die Frage eingegangen, wieso Unternehmen Apps anbieten können, mit deren Nutzung wir uns als User nach deutschem Recht geradezu automatisch strafbar machen.

Die Lösung: Smartphones verbieten!

Die Verurteilung einzelner Eltern, die für juristische, erzieherische, wirtschaftliche und strafrelevante Themen allein verantwortlich gemacht werden sollen, wird in erster Linie eines zur Folge haben: Smartphones werden immer mehr Jugendlichen schlicht und einfach verboten werden. Das Risiko ist für Eltern einfach zu groß. Denn eigentlich kann kein Elternteil die durch das Urteil in Stein gemeißelte Verantwortung übernehmen, wir haben hier und da nämlich noch etwas anderes zu tun, als tonnenweise AGB zu lesen, zu verstehen, zu interpretieren, ggf. anwaltlich prüfen zu lassen und die Nutzung sämtlicher Apps durch unsere Kinder zu überwachen.

Na klar sind Eltern mitverantwortlich für die Mediennutzung ihrer Kinder. Die Gesamtverantwortung kann aber wie in vielen anderen Lebensbereichen nicht allein bei ihnen liegen. Eltern können nicht auch noch für die Versäumnisse des Bildungssystems, der Gesetzgebung und der Industrie verurteilt werden.

Wir alle unterschreiben bei der Nutzung von digitalen Werkzeugen beinahe täglich digitale Verträge, die uns in eine Haftung nehmen, die wir de facto gar nicht übernehmen können. Mit der flächendeckenden Verbreitung digitaler Kommunikation und der dazugehörenden Tools geht nun anscheinend ein Ernstnehmen dieser Verträge einher, welche zu Urteilen wie dem hier thematisierten führen können.

Um solche und möglicherweise andere folgende Urteile in Zukunft zu vermeiden, braucht es zwar die Auseinandersetzung der Nutzerinnen und Nutzer mit den Technologien und Werkzeugen. Im Fall von Eltern in Bezug auf ihre Kinder ist dies nach dem vorliegenden Urteil aber keine zusätzliche Unterstützung mehr, sondern eine alleinige Pflicht. Und das ist ein Unding.

In der Praxis hilft nun also hinsichtlich des WhatsApp-Beispiels, aber natürlich auch in vielen anderen Fällen, nur die Ablehnung der AGB und damit die Nichtnutzung bestimmter Apps, oder eben am besten gleich ein komplettes Smartphone-Verbot für Menschen unter 18 Jahren. Was das für digitale Bildung und Medienkompetenz und letztlich für den – Achtung! – Wirtschaftsstandort Deutschland und seinen Arbeitsmarkt bedeutet, brauche ich sicher nicht auszuführen.

Man könnte natürlich auch die Schulen in die Pflicht nehmen und Anbieter von Apps und anderen Diensten dazu verpflichten, Nutzerinnen und Nutzer nicht durch seitenlange Verträge, die niemand liest oder umsetzen kann, in eine juristische Verantwortung zu treiben, die eigentlich bei ihnen, den anbietenden Unternehmen liegen sollte. Das wird aber anscheinend nicht so schnell passieren.

Das Urteil des Amtsgerichts ist vielleicht nicht rechts-, aber wahnsinnig praxisfern. Und weist damit vielleicht neben der betroffenen Mutter auch viele von uns darauf hin, dass das ganze System nicht korrekt ist.

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